Lexikon der Geographie: Innovations- und Diffusionsforschung
Innovations- und Diffusionsforschung
Tim Freytag & Michael Hoyler, Heidelberg
Die Ausbreitung neuer materieller oder immaterieller Phänomene in Raum und Zeit ist ein traditionelles Forschungsfeld der Geographie und ihrer Nachbarwissenschaften. Bereits im 19. Jh. suchten Anthropologen und Geographen wie Ratzel das Auftreten kultureller Erscheinungen als ein nichtindigenes Phänomen zu erklären. Vertreter einer "Kulturkreislehre" wandten sich gegen die evolutionistische Vorstellung, dass Innovationen gleichzeitig und voneinander unabhängig an verschiedenen Orten entstünden. Innovationen seien vielmehr Gegenstand von raum-zeitlichen Ausbreitungsprozessen und würden in der Regel durch menschliche Kontakte vermittelt. Ein Ziel dieser frühen Ansätze war die Rekonstruktion sog. Urkulturen über die Analyse historischer Migrationsmuster und damit verbundener Diffusion kultureller Erscheinungen. In der Geographie stehen etwa Hettners "Gang der Kultur über die Erde" und die einflussreichen Arbeiten der durch Carl Sauer begründeten "Berkeley School of Cultural Geography" in dieser Tradition. Die US-amerikanische Agrarsoziologie der 1920er- und 30er-Jahre gilt als ein weiterer Bereich, in dem der Diffusionsgedanke früh Beachtung fand.
Eine wegweisende Formalisierung raum-zeitlicher Innovationsprozesse leistete der schwedische Geograph Torsten Hägerstrand mit der Entwicklung unterschiedlicher Diffusionsmodelle in seiner Dissertation "Innovationsförloppet ur korologisk synpunkt" (1953) auf der Basis ausführlicher empirischer Erhebungen zu agrarwirtschaftlichen Entwicklungen im schwedischen Östergötland. Ausgehend von der Annahme, dass eine Adoption auf Grundlage von Informationsübertragung und in Überwindung bestimmter physischer oder sozioökonomischer Barrieren erfolgt, modellierte Hägerstrand Diffusionsprozesse mithilfe von Monte-Carlo-Simulation und anderen stochastischen Verfahren (Mean Information Field). Demzufolge breiten sich Innovationen durch soziale Kontakte in benachbarten Gebieten (Nachbarschaftseffekt) und entsprechend einer zentralörtlichen Hierarchie (Hierarchieeffekt) aus. Neben diesen beiden von Hägerstrand unterschiedenen Formen einer Expansionsdiffusion ist auch eine an Migration von Adoptoren gebundene Diffusion vorstellbar (Relokationsdiffusion). Im zeitlichen Verlauf eines Diffusionsprozesses lassen sich mehrere Phasen unterscheiden, die in der charakteristischen S-Form einer logistischen Kurve abgebildet werden können.
Die Arbeiten Hägerstrands und seiner Vorläufer wurden in der deutschsprachigen Geographie bei der Beschreibung agrarhistorischer Diffusionsprozesse in Bayern aufgegriffen. Seit den 1970er-Jahren wurden auch weiterentwickelte formalisierte Modelle rezipiert, die im Zuge der "Quantitativen Revolution" vor allem im angelsächsischen Sprachraum entstanden waren. Ein Beispiel ist die Berücksichtigung der Einflussgrößen von Markt und Infrastruktur im Diffusionsprozess. Auf diese Weise lässt sich die verkürzte Annahme überwinden, dass die Ausbreitung einer Innovation in erster Linie vom Verhalten der Adoptoren, also der Nachfrageseite abhängig sei.
Obgleich Ansätze der Innovations- und Diffusionsforschung ihre wohl größte Beachtung in der Geographie der 1960er- und 70er-Jahre fanden, haben sie sich dennoch dauerhaft in einzelnen Bereichen der Disziplin als Forschungsrichtung etablieren können. So widmen sich zahlreiche Studien der Wirtschaftsgeographie der Ausbreitung von technologischen und organisatorischen Innovationen (Produktinnovation, Prozessinnovation, kreatives Milieu) und deren Bedeutung für wirtschaftlichen Wandel. In der Medizinischen Geographie und insbesondere in der Epidemiologie leisten mathematische Diffusionsmodelle einen wichtigen Beitrag zur Analyse der räumlichen Ausbreitung von Krankheiten.
Aus der Perspektive einer eher gesellschaftstheoretisch orientierten Sozialgeographie wird seit Ende der 1970er-Jahre grundlegende Kritik an Hägerstrands Ansatz und den darauf basierenden Konzepten geübt. So bemängelt man vor allem die zentrale Stellung von "Information" als erklärende Variable, die in ihrer sozialen Komplexität nur unzureichend operationalisiert werde und nicht unabhängig von materiellen Verhältnissen interpretiert werden dürfe. In diesem Sinne müsse in der Diffusionsforschung auch das Nichtzustandekommen von Diffusion Beachtung finden. Die fehlende Bereitschaft, Diffusionsprozesse in ihrem gesellschaftlichen Kontext und unter Berücksichtigung der spezifischen sozialen Entstehungsbedingungen und Konsequenzen zu analysieren, lässt Gregory (1985) von einem Stillstand in der klassischen Diffusionstheorie Hägerstrand'scher Prägung sprechen. Diesen Punkt veranschaulicht z.B. die Kritik, die an einschlägigen medizinisch-geographischen Arbeiten zur Ausbreitung von AIDS, in denen der Mensch nicht in seiner sozialen Wirklichkeit wahrgenommen, sondern auf seine Eigenschaft als (Über-)träger eines Virus reduziert werde, geübt wurde.
In den 1990er-Jahren lassen sich Versuche einer Verbindung gesellschaftstheoretischer Konzepte mit Gedanken der Innovations- und Diffusionsforschung erkennen. Der Wert Hägerstrand'scher Diffusionsmodelle liegt heute sicherlich weniger in deren vermeintlichem Erklärungspotenzial als in ihrer Funktion als heuristisches Mittel zur Exploration und Visualisierung von Daten. Diese Entwicklung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Abkehr von universellen raumzentrierten Konzepten in der Humangeographie.
Lit:
[1] GREGORY, D. (1985): Suspended animation: the stasis of diffusion theory. In: Gregory, D.; Urry, J. (eds.)(1985): Social relations and spatial structures. – London.
[2] HÄGERSTRAND, T. (1953): Innovationsförloppet ur korologisk synpunkt. – Lund. Englische Übersetzung (1967): Innovation diffusion as a spatial process. Translated by A. Pred. – Chicago.
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