Lexikon der Geographie: Küstenformen und Küstenformungsprozesse
Küstenformen und Küstenformungsprozesse
Dieter Kelletat, Essen
Alle gegenwärtigen Küstenformen der Erde sind geologisch gesehen weltweit außerordentlich jung. Sie entstanden erst innerhalb der letzten 6000 bis 7000 Jahre, nachdem der nacheiszeitliche Meeresspiegel etwa seine gegenwärtige Höhe erreicht hatte, sofern nicht zufällig Küstenformen aus früheren interglazialen Meeresspiegelhochständen erhalten waren und weitergeformt werden konnten. Dass dennoch gerade im Bereich des gegenwärtigen Wasserstandes markante Formen entstanden, belegt die außerordentliche geomorphologische Prägekraft der dort ablaufenden Prozesse. Man kann Küstenformungsprozesse einteilen in konstruktive, schützende und destruktive Prozesse. Alle drei Kategorien können zudem entweder anorganische oder organische Ursachen haben. Hinzu kommen die Meeresspiegelschwankungen, die mit steigender (transgressiver) Tendenz eher abtragend, die mit sinkender (regressiver) Tendenz eher aufbauend wirken. Die Überflutung eines ehemaligen Festlandsreliefs bei der Flandrischen Transgression hat eine große Fülle von neuen Küstenformen (Ingressionsformen) geschaffen, die in keine der drei oben genannten Kategorien gehören (Ingression). Im angelsächsischen Sprachgebrauch wird unterschieden zwischen "primary coasts", bei denen das Meer ohne umgestaltend zu wirken lediglich an einer bestimmten Isohypse des Festlandsreliefs steht, und "secondary coasts", die verschiedene Stadien der litoralen Umgestaltung erfahren haben.
Zu den wichtigsten Zerstörungsformen gehören: a) endogen verursachte, wie Verwerfungen, Felsstürze (infolge von Erdbeben), oder Kollaps vulkanischer Inseln; b) mechanische Zerstörung durch Wellenwirkung (Brandung) und Treibeiseinfluss, die vor allem den umfangreichen Formenkatalog der Abrasion mit Kliff und Schorre, hervorruft; c) Zurückschneiden der Küstenlinie durch Kalbung und Abschmelzen von Gletschern oder Auftauvorgänge (Thermoabrasion); d) chemische Lösung durch Salzeinwirkung; e) Abtragung durch pflanzliche und tierische Organismen (Bioerosion), wobei eher Formen kleinerer und mittlerer Dimensionen wie Hohlkehlen und Felswannen entstehen.
Die Intensität der Zerstörung durch Wellen ist vornehmlich abhängig von der Brandungsenergie, der Verfügbarkeit von Brandungswaffen und der Gesteinsresistenz. Sind so erst einmal neue Steilformen (z.B. Kliff) geschaffen, wirken an ihnen auch andere Verwitterungs- und Abtragungskräfte zusätzlich, wie Frost, Absturz, Rutschungen.
Eine Schutzwirkung vor Brandungsenergie stellen die wellendämpfenden Vegetationseinheiten im Foreshore-Bereich (küstennaher Unterwasserhang) wie Seegraswiesen und Tangwälder, aber auch Großalgen des Felslitorals, Kalkalgen- und Vermetidenschwarten, Bioherme, Stromatoliten, Mangrovenbestände oder gar Korallenriffe dar. Auch eine temporäre Meereisbedeckung wirkt schützend, weil sie das Aufkommen größerer Wellen verhindert bzw. den Strand oder das Kliff durch Küstenfesteis direkt abschirmt.
Die Aufbauvorgänge sind ebenfalls sehr vielfältig: a) endogen verursachte, wie Heraushebung von Krustenteilen oder Vulkanbildung, auch neu geschaffenes Land durch ins Meer fließende Lavazungen; b) potamogene Prozesse wie die Bildung von Deltas und Schwemmland (potamogene Küstenformen; c) Wirkung von Küsteneis oder Treibeis durch Aufschieben von Material infolge Wellen- oder Gezeitenbewegungen; d) Mitwirken des Windes an der Akkumulation durch Anwehung von Küstendünen aus dem trockenen Strand; e) thalassogene, litorale Prozesse durch Wellen- und Brandungswirkung oder Gezeiten; f) organisch mitgestaltete (Mangrovewatten) oder ausschließlich organisch gestaltete wie die Korallenriffe, Algenriffe, Bioherme und Seegrasanlandungen, Treibholzdeposition sowie Absatz riesiger Mengen toter Makroalgen nach Stürmen.
Schließlich bewirkt auch die Zementierung von litoralen oder äolischen Küstensedimenten (beachrock und Äolianit), dass diese dem Wellenangriff länger widerstehen können.
Eine auf H. Valentin (1952) zurückgehende Systematik aller Küstengestaltstypen nach ihrer Genese kann einen Überblick über alle geomorphologischen Aspekte der Küsten der Erde geben ( Abb.). Auch die Beteiligung unterschiedlicher Meeresspiegelschwankungen ist darin berücksichtigt: Demnach sind alle Küsten entweder gegen das Meer vorgerückt oder gegen das Land zurückgewichen. Vorgerückte Küsten sind entweder aufgetaucht mit Formen des Meeresbodens, oder aufgebaut, wobei dann die organisch und die anorganisch gestalteten weiter unterschieden werden. Eine weitere Kategorie zur Differenzierung der Küstengestaltstypen ist die Intensität der Gezeitenwirkung. Die zurückgewichenen Küsten sind entweder untergetaucht oder zerstört. Die untergetauchten Küstenlandschaften repräsentieren alle Reliefformen der Erde, die ebenfalls weiter nach eigenen Kategorien unterteilt werden können (tektonische, glaziale, fluviale, äolische). Es ist ohne weiteres möglich, dieses System weiter zu ergänzen. Außerdem lassen sich damit nicht nur die bisherigen Formungsprozesse angeben, sondern auch gegenwärtige oder zukünftige Formungstendenzen; z.B. könnte eine aufgetauchte Küste mit einer Treppe mariner Terrassen (Küstenterrassen) gegenwärtig zerstört werden oder wieder abtauchen.
Einen Schwerpunkt der Küstenforschung bildet seit jeher die Untersuchung früherer Meeresspiegelstände des Eiszeitalters (Pleistozäns) und des Überganges zum gegenwärtigen Hochstand im Holozän. Diese Studien mariner Terrassen stützten sich früher meist auf eine Interpretation des Fossilgehaltes, entwickelt im Mittelmeergebiet, wo man in kalten Phasen eingewanderte Arten aus dem Norden (die Muschel Arctica islandica oder die Foraminifere Hyalinea balthica) von den in warmen Phasen eingewanderten aus dem Süden (die Senegalschnecke Strombus bubonius) und beide von den gegenwärtigen "banalen" Faunen zu unterscheiden suchte. Da seit ca. 20 Jahren jedoch genauere zeitliche Vorstellungen vom Ablauf der pleistozänen Meeresspiegelschwankungen mittels absoluter Datierungen durch Paläomagnetismus und andere Methoden, einschließlich der Analyse der Paläotemperaturen durch das Verhältnis von 16O zu 18O in Foraminiferen vorliegen, wobei die Kaltzeiten und Tiefstände mit geraden, die Warmzeiten mit ungeraden Ziffern belegt werden (mit weiteren Unterteilungsmöglichkeiten durch kleine Buchstaben zur Erfassung auch der Stadiale und Interstadiale), können nun durch Bestimmungen der Thorium/Uran-Gehalte, durch Elektronenspin-Resonanz u.a. Korallen, Mollusken und anderes Material aus fossilen Strand- und Meeresablagerungen diesem System zugeordnet werden. So gehören um 100.000 Jahre alte Ablagerungen der Sauerstoffisotopenstufe 5 (Eiszeittheorie) dem letzten Interglazial an, gut 200.000 Jahre alte dem vorletzten Interglazial (Isotopenstufe 7) usw. Für die älteren Abschnitte fehlen aber noch verlässliche Datierungsmethoden, die für größere Probenkomplexe angewendet werden können.
Noch in den Anfängen stecken Überlegungen, ob die Küstenformen der Erde in ihrer räumlichen Anordnung einem zonalen Muster gehorchen, breitenkreisabhängig angeordnet sind oder doch überwiegend azonaler Natur sind, weil ihre Kennformen wie Strände, Kliffe, Nehrungen, Deltas schließlich auf der ganzen Erde vorkommen. Besonders hinsichtlich der organisch mitgestalteten Küsten ergeben sich dabei klare zonale Muster (etwa der Verbreitung von Korallenriffen und Mangrovewatten in warmen Erdregionen, der Tangwälder aber in kalten). Um ein solches zonales System erstellen zu können, bedürfte es jedoch zunächst der genauen Kenntnis der Verbreitungsmuster aller Küstenformen und Küstenformungsprozesse, und von diesem Ziel ist man noch weit entfernt.
Die Beschäftigung mit den Küstenformen und den dabei ablaufenden Prozessen gewinnt zunehmende Bedeutung durch die Auswirkungen anthropogener Veränderungen der Umwelt und des Klimas, die sich hieran ablesen lassen und die eine Gefährdung dicht besiedelter Regionen der Erde bedeuten können. An den Küsten der Erde und in küstennahen Räumen lebt immerhin weit über die Hälfte der Menschheit.
DK
Lit:
[1] BIRD, E.C.F. (1984): Coasts. An introduction to coastal geomorphology. – Oxford.
[2] GIERLOFF-EMDEN, H.G. (1980): Geographie der Meere, Ozeane und Küsten. – Berlin-New York.
[3] KELLETAT, D. (1999): Physische Geographie der Meere und Küsten. – Stuttgart.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.