Lexikon der Geographie: New Cultural Geography
New Cultural Geography
Wolf-Dietrich Sahr, Curitiba, Brasilien
Der englische Begriff New Cultural Geography lässt sich ins Deutsche mit Neue Kulturelle Geographie übersetzen und bezeichnet eine Forschungsorientierung innerhalb der Humangeographie, die ihre Wurzeln in den Arbeiten einer kleinen Gruppe von kritischen Sozialgeographen Großbritanniens und der USA hat und sich in den 1980er-Jahren formierte. Mehrheitlich beruft sie sich auf neo-marxistische und andere gesellschaftskritische Ansätze und untersucht Fragen der Landschaftsprägung in der Moderne, der Veränderung von sozialen Rollen und Lebensstilen unter modernen Bedingungen (Frauen, Rassismus, Kolonialismus), Fragen der Identität sowie in jüngster Zeit zunehmend auch die kulturelle Transformation der Konsumgesellschaft. Ebenso thematisiert sie Fragen der Kultur als Ausdruck von Macht, Ideologie und Ästhetik.
Die New Cultural Geography setzt sich bewusst von der "alten" Cultural Geography ab, die sich unter dem Einfluss von Sauer und der sog. Berkeley School in den 1920er-Jahren in den USA entwickelte. Sauer interpretierte die Morphologie der Landschaft als eine Mischung aus natürlichen und menschlichen Elementen. Dabei sah er Kultur v.a. als Ensemble von Artefakten und Instrumenten an, die sich im ökologischen Raum widerspiegelten, und weniger als Ausdruck von Ideologie und Herrschaftsverhältnissen. Seine Beschäftigung mit der Alltagswelt ethnologisch interessanter Gruppen, v.a. der nordamerikanischen und mexikanischen Ureinwohner, verhinderte einen Blick auf die Kultur moderner Gesellschaften im Zeichen des Kapitalismus. Während einzelne Schüler Sauers bis in die 1980er-Jahre eine eher positivistische Geographie pflegten, versuchten andere die Cultural Geography über Ansätze der Humanistischen Geographie weiterzuentwickeln.
Die gesellschaftskritischen Untersuchungen der Landschaft unter dem Einfluss der britischen Cultural Studies stellen zu dieser Art Geographie einen bemerkenswerten Kontrast dar. Cosgrove legte 1984 eine Studie über die politisch-sozialen Bedingungen der Landschaftsästhetik vor, die die Landschaftsarchitektur des Palladianismus im 17. und 18. Jh. in Italien und Großbritannien untersuchte und ihre Bedeutung für die Neugestaltung der Landbesitzverhältnisse herausstellte. Duncan lieferte mit der semiotischen Interpretation der singalesischen Stadt Kandya einen hermeneutischen Versuch, den Text einer Stadt als Ausdruck seiner Ideologie zu lesen. Neben diesen zwei klassischen empirischen Arbeiten hat v.a. Jackson mit seinem Buch "Maps of meaning" einen theoretischen Entwurf zu einer neuen "New Cultural Geography" vorgelegt.
In einer zweiten Phase weitete sich die New Cultural Geography Ende der 1980er-Jahre unter dem Einfluss des Poststrukturalismus und des "cultural turn" zu einem äußerst dynamischen Phänomen aus, was zu einer immensen Verbreiterung ihres thematischen Feldes führte. Die jüngsten Entwicklungen v.a. im englischsprachigen Raum zeigen, dass es nicht mehr nur um die Entstehung eines neuen Zweiges der Geographie geht, sondern das sich dahinter ein grundlegender paradigmatischer Bruch mit der bisherigen Geographie verbirgt, der den linguistic turn schwungvoll nachvollzieht und damit symbolische Sozialbeziehungen und die Rolle der Semiotik neu bewertet. Jetzt lassen sich zahlreiche neue Untersuchungsfelder beobachten. So erforscht die New Cultural Geography soziale Beziehungen nicht nur in funktionaler Hinsicht (innerhalb des Produktionssystems oder einer Gesellschaftstheorie), sondern auch in kultureller Hinsicht und Differenzierung (ethnisch, rassistisch oder geschlechtsbedingt). Dies führt zur Reflexion von Fragen der Identität (z.B. Identität postkolonialer Völker im Verhältnis zu Hegemonie der ehemaligen Kolonien), Nationalismus, Regionalidentität (einschließlich Fragen der Identität von Migranten), der Rolle des Körpers bei der Identitätszuschreibung (z.B. der Funktion von Mode, gay world usw.), des Verständnisses des Subjektes und der Problematik des Widerstandes durch kulturelle Ausdrucksformen (z.B. Punks, Rockmusik, Calypso usw.). Insofern stellt die New Cultural Geography klassische soziale und wirtschaftliche Beziehungen und Theorien durch Alternativmodelle in Frage. Eine zweite Gruppe versucht, ähnlich wie schon in den 1970er-Jahren die Humanistische Geographie (Poetik des Raumes, Stadtroman usw.), die künstlerische Repräsentation als geographischen Gegenstand zu nehmen und diesen semiotisch und sozio-politisch zu interpretieren. Hierzu gehört die Diskussion der problematischen Beziehung zwischen elitärer und Massenkultur, sowie die Frage der sozialen Differenzierung durch künstlerische Medien. Dieses Feld hat v.a. seit Mitte der 1990er-Jahre eine große Aufmerksamkeit erlangt und erfreut sich zunehmenden Interesses. Eine dritte Gruppe untersucht, unter dem Einfluss der Cultural Studies und der postmodernen französischen Soziologie und Anthropologie, die Alltagspraktiken und ihre geographischen Auswirkungen als kulturelle Ausdrucksformen und setzt insofern die Tradition der englischsprachigen Sozialgeographie mit kulturellen Mitteln fort. Dies geschieht v.a. vor dem Hintergrund einer materialistischen Interpretation. Hier ergeben sich Querverbindungen zur handlungstheoretischen Sozialgeographie und zum symbolischen Interaktionismus. Eine vierte Gruppe wendet sich, in Anschluss an die Vorarbeiten von Duncan und Cosgrove, seit Anfang der 1990er-Jahre direkt der Untersuchung der semiotischen Gestaltung von Landschaften, Städten und der Konsumumwelt zu. Thematiken sind dabei Prozesse der Kulturalisierung der Stadtlandschaft in multi-ethnischen Staaten (z.B. Chinatowns), der Gestaltung von Malls, Shopping Centers und anderen Einkaufs- und Konsumlandschaften, sowie der Transformierung der Landschaft für Freizeitzwecke (Freizeitparks, Tourismuszentren usw.). Eine fünfte Gruppe bearbeitet kritisch die Konstruktion von imaginären Geographien, die v.a. als Produkt des Kolonialismus entstanden sind. Ebenso gehören in diesen Bereich die Selbstdarstellung der kolonialen Imperien, aber auch filmische Traumwelten und die Welt der Werbung. Eine sechste, inzwischen sehr einflussreiche Gruppe, schließlich versucht, den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Postmodernismus und Kultur herauszuarbeiten. Zu ihr gehören Autoren des kritischen Postmodernismus, die in unterschiedlicher Form einen Zusammenhang zwischen den Flexibilisierungsprozessen des kapitalistischen Systems und der Proliferation von semiotischen Systemen herstellen. Einige konflikttheoretisch orientierte Autoren nehmen in jüngster Zeit auch deutlich Bezug auf Fragen des Kulturkonfliktes als "cultural war" (Mitchell, 2000).
Während sich die New Cultural Geography in den 1980er-Jahren noch eher auf empirisch-theoretische Einzelarbeiten beschränkte, reifte sie in den 90er-Jahren mit dem Erscheinen verschiedener Reader und Lehrbücher zu diesem Thema zu einem im wissenschaftlichen Diskurs etablierten Bereich der Humangeographie heran. Dies gilt für alle englischsprachigen Großräume, mit Ausnahme von Indien. Doch auch im romanisch-sprachigen Raum (v.a. in Frankreich und Brasilien) hat sich in den 1990er-Jahren eine "Neue Kulturelle Geographie" etabliert, welche ohne größere epistemologische Brüche zur traditionellen französischen Geographie entstand und von ihren Autoren als "moderne kulturelle Geographie" bezeichnet wird. Diese untersucht, in Fortsetzung der Tradition Vidal de la Blaches, der École des Annales sowie der Humanistischen Geograpie, die Alltagswelt als Ausdruck der Mensch-Umweltbeziehungen und ihrer sozialen Kontexte. Ihre Traditionsstränge reichen so zurück in die französischsprachige Sozialgeographie und die Wahrnehmungsgeographie. Dabei bemüht sie sich, wie die englischsprachigen Kollegen, um eine intensive Diskussion von Fragen der Semiotisierung der Umwelt und der neuen Rolle der Kommunikation. Bemerkenswert ist, dass bis zur Milleniumswende eine Neuorientierung der deutschprachigen Geographie in dieser Richtung kaum zu beobachten war. Erst der Geographentag 2001 lässt einige zögerliche Versuche erkennen, diesen neuen Anschluss herzustellen und einen Diskussionszusammenhang für Fragen der kulturellen Geographie zu erarbeiten.
Lit:
[1] CLAVAL, P. (1995) La géographie culturelle. – Paris.
[2] COSGROVE, D. (1984): Social Formation and Symbolic Landscape. – London.
[3] CRANG, M. (1998): Cultural Geography. – London.
[4] DUNCAN, J.S. (1990): The city as a text: The politics of landscape interpretation in the Kandyan kingdom. – Cambridge.
[5] FOOTE, K.E. et al. (eds., 1993): Re-Reading Cultural Geography. – Austin.
[6] JACKSON, P. (1989): Maps of meaning: An introduction to Cultural Geography. London.
[7] MITCHELL, D. (2000): Cultural Geography. A critical introduction. – Oxford.
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