Lexikon der Geographie: Strukturationstheorie
Strukturationstheorie, vom englischen Soziologen Anthony Giddens entwickelte Theorie, die vor allem in dem Hauptwerk "Die Konstitution der Gesellschaft" dargestellt ist. Die Strukturationstheorie erlangte in den letzten Jahrzehnten im gesamten Bereich der Sozialwissenschaften, Politkwissenschaften, Kulturwissenschaften und der Sozialgeographie ebenso zentrale Bedeutung wie die politische Debatte um den "Dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die Kernidee besteht in der Dualität der Struktur: Gesellschaft konstituiert sich über menschliches Handeln, das sowohl als strukturiert als auch als strukturierend zu begreifen ist. Die Beziehung zwischen sozialen Verhältnissen (Struktur) und dem aktuellen Handeln der Menschen wird analog zu Sprachen und Sprechen verstanden. Jede Sprache ist dabei als ein kollektives Produkt zu betrachten, das aus Zeichen- und Regelsystemen besteht. In diesem Sinne kann man sie auch als ein System sozialer Repräsentation betrachten. Sprechen hingegen bezeichnet das, was wir sagen. Es ist an eine sprechende Person gebunden, somit einmalig und in eine spezifische Situation eingebettet, es ist die Bezugnahme eines Sprechers auf das Zeichen- und Regelsystem einer Sprache. Beim Sprechen und Schreiben wird Sprache aktuell wirklich, exisitiert in ihrer Anwendung, obwohl sie analytisch vom Sprechen unterschieden werden kann. Dies entspricht der Betrachtung des Verhältnisses von Struktur und Handeln in der Strukturationstheorie.
Die Strukturationstheorie ist als das Ergebnis der kritischen Auseinandersetzung mit den Theorien der Klassiker der Sozialwissenschaften – Karl Marx, Emile Durkheim und Max Weber – und deren Weiterentwicklung zu verstehen. Die grundlegende Ausgangsbeobachtung besteht darin, dass keine Prognose der Klassiker eingetroffen ist. Demzufolge könnten deren Theorien für aktuelle Verhältnisse keine uneingeschränkte Zuständigkeit für sich reklamieren. Vielmehr hat eine angemessene Gesellschaftstheorie jene seit den Klassikern erarbeiteten philosophischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen, welche die Spätmoderne begreifbar machen können. Damit ist eine Gesellschaftstheorie gemeint, welche die aktuellen Verhältnisse plausibel erörtern kann, ohne dem Positivismus, Evolutionismus oder Funktionalismus zu verfallen. Im Sinne einer kritischen Weiterentwicklung der klassischen Gesellschaftstheorien wird von Durkheim die Einsicht übernommen, dass die strukturellen Momente einer Gesellschaft durchaus zentral sind, allerdings nicht in dem deterministischen Sinne wie bei Durkheim selbst. Wie bei Max Weber wird die soziale Welt handlungszentriert betrachtet. Zudem wird dessen Analyse der Institutionen beibehalten, ohne allerdings Webers Ableitungen für die weitere Entwicklung der modernen Gesellschaften, die Vorherrschaft der Bürokratie, zu übernehmen. Von Marx übernimmt Giddens neben der sozial interpretierten Dialektik vor allem die Idee, dass die Menschen die Geschichte machen, aber nicht unter den von ihnen gewählten Bedingungen. Zudem pflichtet er der Marx'schen Analyse des Kapitalismus hinsichtlich der ungleichen Verteilungen bei, ohne allerdings die evolutionistischen Folgerungen zu übernehmen.
Eine Grundidee der Strukturationstheorie besteht darin, dass die soziale Wirklichkeit von kompetenten Handelnden konstituiert wird, die sich dabei auf soziale Strukturen beziehen. Diese soziale Praxis ist im Sinne der Theorie als Strukturation zu begreifen. Sie impliziert das Konzept der Dualität der Struktur, womit Handeln und Struktur im Vergleich zur klassischen Handlungstheorie und dem Strukturalismus in ein neues Verhältnis gebracht und neu definiert werden. Gesellschaftliche Strukturen werden im Sinne der Strukturationstheorie sowohl durch das menschliche Handeln konstituiert und stellen gleichzeitig das Medium dieser Konstitution dar. Handeln ist in dem Sinne gleichzeitig als strukturiert und strukturierend zu verstehen. Struktur gleichzeitig als Handlungsprodukt und Handlungsgenerierung.
BW
Lit: GIDDENS, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. – Frankfurt a. M.
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