Lexikon der Geographie: westeuropäische Stadt
westeuropäische Stadt, kulturgenetischer Stadttyp in Westeuropa. Die westeuropäische Stadt ist durch ideelle und kulturelle Wertevorstellungen, speziell die Ideale der Antike geprägt, die zuerst im östlichen Mittelmeerraum städtebaulich umgesetzt wurden. Von je her ist die westeuropäische Stadt auf dem Ideal des zu schützenden Gemeinwesens, der "polis", aufgebaut gewesen. Stadtplanung und Eingrenzung der individuellen Freiheiten gegenüber dem Gemeinwesen mit städtebaulichen Regulierungen und Betonung des Öffentlichen sind im Vergleich zur US-amerikanischen Stadt, die eine Betonung des Privaten unter Hintenanstellung des Öffentlichen pflegt, für die westeuropäische Stadt bereits Jahrtausende alte kulturelle Norm und Tradition. Daraus leiten sich alle großen Traditionen ab, die die westeuropäische Stadt prägen: Stadtplanung, Gesamtplanung, Flächenzonierung, funktionale und wirtschaftsräumliche Feindifferenzierung, Begrenzung der Baufreiheit durch baupolizeiliche Gebote, Planung und Weiterentwicklung von Stadtbaustilen mit bewusster Adoption multikultureller Elemente, Prachtentfaltung für öffentliche Gebäude, Plätze und Einrichtungen, ferner standardisierte Bauweise und Wohnraumversorgung, geplante Stadtteil- bzw. Stadterneuerungen und -erweiterungen, Erhalt und behutsamer Umgang mit Baustrukturen vergangener Epochen. Auch die sorgfältige Standortwahl für neue Städte unter klimatischen, topographischen, gesundheitlichen oder auch handelspolitischen Erwägungen hatte ihre Blüte bereits in der Antike. Die sichtbaren Merkmale der westeuropäischen Stadt seit der Antike sind: topographische und administrative Geschlossenheit, hohe Bevölkerungszahl und -dichte, funktionale Arbeitsteilung, soziale Differenzierung, zentralörtliche Funktionen für ein Umland in ökonomischer, administrativer und sozialer Hinsicht, ein urbaner Lebensstil, Ordnung und geometrische Regelmäßigkeit, Orientierung auf die Wohn- und Grundversorgung der Menschen.
Mit den griechischen Kolonisationen und geplanten Stadtgründungen im östlichen Mittelmeerraum bis nach Sizilien dokumentieren sich Städte seit dem 7. Jh. v.Chr. als Ausdruck demokratischer Gesellschaftsformen, in denen Teilnahme und Mitgliedschaft am Staat als höchstes Kulturgut galt. Regelmäßigkeit der Planung erlaubte es, dem politischen Prozess einer sich ändernden Gesellschaft im Städtebau mit der Agora als größtem öffentlichen Platz und Versammlungsort einen gebührenden Platz einzuräumen. Mit dem hippodamischen Städtebau nach Hippodamos, der im 5. Jh. v.Chr. Milet und eine Reihe anderer neuer Städte reguliert, geordnet und hoch verdichtet aufbaute, wurde erstmals eine echte Stadtplanung, Flächennutzungsplanung und eine Richtschnur für den klassischen Städtebau geschaffen. Er ist charakterisiert durch öffentliche Plätze für Versammlungen und Landreserven für öffentliche Versorgungseinrichtungen, engmaschige Verkehrsnetze mit z.T. 30m breiten Alleen, die z.B. in den Boulevards des 19. Jh. "wiederentdeckt" wurden, ferner Reihenhaussiedlungen mit Typenhäusern als Ausdruck der Demokratie. Seit dem 5. und 4. Jh. lassen sich diese Charakteristika des Städtebaus im ganzen griechischen Einflussbereich nachweisen. Großstädte mit über 100.000 Einwohnern und kilometerlangen Boulevards sind aus hellenistischer Zeit bekannt; ihre Wohnraumversorgung schloss Häuser mit Toiletten und Badezimmern, Mietskasernen und Großwohnanlagen, die Normung von Bauteilen und die öffentliche Ausschreibung von Bauprojekten ein. Innerhalb der Stadt und sehr weiträumiger, auf Expansion angelegte Stadtmauern gab es Zentren im religiösen, kulturellen und Bildungsbereich. Die Städte gründeten sich auf dem Ideal vom Gemeinwohl und dem Wohl des Staates. Trotz der vereinheitlichenden Siedlungsbauweise bezog sich dies jedoch nicht auf die Gleichheit aller Bürger. Gleichheit und egalitäre Siedlungsstrukturen galten vielmehr als Nährboden der Demokratie und eines Daseins, das auf den Nutzen des ganzen Volkes, nicht des Einzelnen ausgerichtet war. Prachtentfaltung war daher nicht den öffentlichen Flächen, sondern dem Gemeinwesen und den öffentlichen Flächen , die in exponierter Lage (Akropolis), weithin zu sehen waren, vorbehalten. Die zentrale Bedeutung, die das Stadtleben im Gemeinschaftsleben hatte, wurde v.a. durch Aristoteles propagiert, der das Wesen des Menschen in seiner Fähigkeit sah, sich durch Teilnahme und Mitgliedschaft in einer Stadt gut und richtig zu entwickeln. Während der ländliche Raum die Voraussetzung zur Deckung der körperlichen Bedürfnisse schaffe, sah Aristoteles die geistigen Bedürfnisse eines Menschen sowie seine Menschlichkeit nur in der Stadt erfüllt. Die zentrale Bedeutung des Gemeinwesens wurde aus der griechischen Städtebaukunst im römischen Städtebau übernommen. Ab dem 5. Jh. v.Chr. wurden mit dem Schutz der Standortwahl und der Flächennutzungsplanung die ersten Regulierungen mit Verbindlichkeit geschaffen. Mit Dekreten zum Bau- und Bodenrecht ist seit der Cäsarenzeit die Bebauung in westeuropäischen Städten geregelt, wobei das Grundeigentümerrecht generell hinter dem Recht des Gemeinwesens zurücksteht. So war seit 450 v.Chr. in der römischen Stadt zum Schutz des öffentlichen Friedens die Regelung in Kraft, wonach kein Grundeigentümer direkt an der Grundstücksgrenze seines Nachbarn bauen durfte.
Auch die im Mittelalter und der Neuzeit entstandenen Städte zeigen die städtebauliche Fortführung und Umsetzung des antiken Ideals vom Gemeinwesen, jedoch unter anderen Vorzeichen. Aus heutiger Sicht sieht man das antike Ideal von der Dominanz des Gemeinwesens über den Interessen des Einzelnen in dreifacher Weise umgesetzt. Aus dem Gedanken heraus, dass Grund und Boden dem Gemeinwesen und niemandem eigen sein sollen, entwickelten sich zunächst die frühmittelalterlichen freien Bauern- und Bürgerschaften, in denen das Land in Gemeinschaft bewirtschaftet wurde. Machtstrebende Kräfte brachten aufbauend auf dem Lehnswesen, also dem zur Bebauung vom Gemeinwesen entlehnten Boden, das Feudalsystem hervor und aus dem Christentum schließlich die rigiden Kirchenhierarchien. Die Letzteren interpretierten das Ideal vom Gemeinwesen im Sinne ihrer Machtinteressen. Gemeinsam ist beiden Systemen – dem Feudalsystem und den Kirchenhierarchien – die Verankerung ihrer sichtbaren Macht in Städten und die enge Verflechtung mit dem Umland und der Landwirtschaft, die sie ausbeuterisch bewirtschaften ließen. Während sich Feudalsysteme in absolutistischer Zeit die Maxime zu eigen machten, dass sie selbst das Gemeinwesen darstellten, etablierten die Kirchenhierarchien den Gedanken, dass sie die Stellvertreter eines göttlichen Gemeinwesen seien. Mangelnde Bildung des Volkes und institutionalisierte Mechanismen wie die Inquisition sicherten die Vorrangstellung dieser neudefinierten Gemeinwesen, bis Aufklärung und Neuzeit den Ursprung der antiken Vorstellung von der "civitas" wieder entdeckten. Wie auch die antiken Wertvorstellungen durch neue Machtkräfte definiert waren, so resultierte dies in ähnlichen städtebaulichen Manifestationen wie in der griechischen und römischen Antike. Das "Gemeinwesen" – die freie Bürgerschaft, die Kirchenhierarchie oder das Feudalsystem – demonstrierten ihre Macht und Vorrangstellung sichtbar: durch Märkte, Handel und Gewerbe und die dazugehörigen Infrastrukturen einerseits, durch Kirchen, Dome, Klöster, Bischofssitze oder Schlösser, fürstliche Burgen, Kaiserpfalzen usw. andererseits (christliche Stadt). Gemeinsam war allen dreien, dass ein Teil der Gemeinschaft auch innerhalb des Stadtraumes in sozialgeschichteten oder gewerblich definierten Vierteln lebte. Auch als Zunftwesen, Kirchenhierarchien oder absolutistische Systeme ihre Bedeutung in der Neuzeit verloren, waren Städte bereits durch diese Gegebenheiten vorstrukturiert und sozialräumlich in einer Weise differenziert, die von dem antiken Ideal der Teilhabe des Menschen am Gemeinwesen und der Gleichheit aller in ihrer Unterordnung unter das Gemeinwesen weit entfernt waren. Abb.
RS
westeuropäische Stadt: westeuropäische Stadt: Strukturmodell der westeuropäischen Stadt.
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