Lexikon der Geographie: Wissen
Wissen
Peter Meusburger, Heidelberg
Wissen und Räumlichkeit
Die Bildungsgeographie betrachtet regionale Unterschiede des Wissens als ein wesentliches Strukturelement der Wirtschaft und Gesellschaft und als ein Ergebnis der räumlichen Arbeitsteilung, der räumlichen Konzentration von Macht, der Reproduktion von Kultur und der selektiven Migration. Damit steht sie im Widerspruch zu einigen ökonomischen Ansätzen, welche Wissen als ein öffentliches und ubiquitäres Gut betrachten, das jedermann zugänglich ist. Die meisten Kategorien von Wissen sind an Personen gebunden, die als Merkmalsträger bei ihren Aktivitäten im Raum verortet werden können. Auch die sozialen Bedingungen, welche Denkprozessen, Erfahrungen, Nachahmungen, Diskursen, Interpretationen und sozialen Interaktionen zugrunde liegen, variieren in der räumlichen Dimension. Viele Formen und Inhalte von Wissen lassen sich mithilfe von Indikatoren so weit erheben, dass sie Orten, in denen sie entstanden sind oder angewendet werden, zugeordnet werden können. Damit kann auch die räumliche Diffusion bestimmter Wissensinhalte beschrieben werden.
Werden räumliche Disparitäten des Wissens thematisiert, sollten drei Punkte beachtet werden. Erstens sollte zwischen verschiedenen Kategorien von Wissen unterschieden werden. Je nach Kategorie variieren die Bedingungen, unter denen das Wissen entstehen kann, die Geschwindigkeit der räumlichen Wissensdiffusion, die Voraussetzungen, die zur Aufnahme und Anwendung neuen Wissens notwendig sind, und das Ausmaß der räumlichen Konzentration der Arbeitsorte von Subjekten, die über das betreffende Wissen verfügen. Zweitens ist zwischen Wissen und Information zu unterscheiden. Wissen stellt eine Integrationsleistung zunächst unverbundener Informationen dar. Während beim Sender einer Nachricht die Grenzen zwischen Wissen und Information unklar sind, muss man beim Empfänger einer Nachricht zwischen Wissen und Information unterscheiden. Denn um bestimmte Nachrichten aufnehmen, verstehen und bewerten zu können, muss der Empfänger über ein Vorwissen verfügen, dessen Erwerb sehr zeit- und kostenaufwändig sein kann. Drittens sollte die zeitliche Dimension des Erwerbs oder der Inwertsetzung von Wissen beachtet werden. Das von einigen Ökonomen vorgebrachte Argument, dass Wissen auf Dauer nicht geheim zu halten sei und deshalb nach einiger Zeit ubiquitär zur Verfügung stehe, geht am Kern des Problems vorbei. Sobald Wissen mit Nützlichkeit, Macht, Legitimation oder Wettbewerb in Beziehung gebracht wird, geht es nicht mehr um Wissen an sich, sondern um den Zeitpunkt des Wissenserwerbs und der Inwertsetzung von Wissen oder den Anspruch von Experten, einen Wissensvorsprung zu haben. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Subjekts oder einer Organisation hängt in vielen Fällen von einem (auch nur kurz andauernden) Wissensvorsprung ab, der in bestimmten Bereichen durch Monopole oder Patente sogar institutionalisiert werden kann. Ein Wissen, das allen zur Verfügung steht, oder Qualifikationen, die sich alle Akteure ohne viel Mühe erwerben können, spielen weder als Produktions- noch als Wettbewerbsfaktor eine nennenswerte Rolle.
Kategorien von Wissen
Der Begriff Wissen ist sehr vielschichtig und umfasst mehrere Bedeutungen, wie z.B. etwas durch die Sinne erfahren und verinnerlicht zu haben, sich einer Sache bewusst zu sein, etwas für wahr zu halten (Wahrheit), eine Tatsache zu kennen, das Wesen der Dinge intellektuell verarbeitet zu haben, die Handlungsfähigkeit zu haben, um ein Ziel zu erreichen. Diese Bedeutungsvielfalt führt nicht selten zu Missverständnissen. Entscheidend ist, dass die Bewertung von Wissen immer nur kontextbezogen vorgenommen werden sollte. Die philosophischen Diskurse thematisieren vorwiegend die Frage, ob es objektive, intersubjektive Erfahrungen und ein sicheres, wissenschaftliches Wissen (Positivismus) geben kann oder ob Wissen subjektiv sei. Viele Philosophen differenzieren zwischen wissenschaftlichem Wissen, das einen Begründungsanspruch hat und in einer kompetent und rational geführten Argumentation Zustimmung finden kann, und nichtwissenschaftlichem Wissen. Oft wird auch zwischen "wissen, dass es etwas gibt" und "wissen, wie etwas zu tun ist" unterschieden. Es können die drei Kategorien Leistungs- oder Fachwissen, das der äußeren Daseinsgestaltung dient, Bildungswissen, das die Persönlichkeit formt und den geistigen Horizont erweitert, sowie Heils- oder Erlösungswissen, das die religiöse oder politische Existenz begründet, unterschieden werden. Man kann auch zwischen wissenschaftlichem Wissen und narrativem Wissen differenzieren. Narratives Wissen steht häufig im Widerspruch zu wissenschaftlichem Wissen, es ist nicht einem Beweis unterworfen, erlaubt eine Vielfalt von Ansichten und besteht aus Mythen, Legenden, religiösen Traditionen und eigenen Erfahrungen. Narratives Wissen spielt vor allem in vorwissenschaftlichen Lebensbereichen sowie bei Minderheiten und subkulturellen Öffentlichkeiten eine Rolle, welche sich dem Konformitätsdruck der Mehrheit zu entziehen versuchen, indem sie die Welt anders interpretieren und dem hegemonialen Wissen der Mächtigen ihr lokales oder partikulares Wissen entgegen stellen.
Zentralisierung und räumliche Diffusion von Wissen
Neu produziertes Wissen entsteht nicht überall gleichzeitig und wird nicht überall (sofort) übernommen. Die Kreation von neuem Wissen ist an bestimmte Kontexte, Interaktionen, Netzwerke, Erfahrungen und Ressourcen gebunden (Akteursnetzwerktheorie). Die sozio-kulturellen Faktoren, welche neben den subjektiven Voraussetzungen (Intelligenz, Motivation) die Kreativität, Entwicklungs- und Lernfähigkeit der Menschen mit beeinflussen, und die Ressourcen, die notwendig sind, um neues Wissen zu schaffen, zu übernehmen oder umzusetzen, sind räumlich ungleich verteilt.
Anders als Informationen und Alltagswissen, die heute in Sekunden weltweit verbreitet werden können, sind komplexe Wissensbestände, Kreativität und Kompetenz an Personen und Organisationen gebunden und somit räumlich stärker "verwurzelt". Mit dem Begriff verwurzelt (rooted) ist gemeint, dass sich einige Arten von Wissen nicht einfach beliebig von einem Ort zum anderen übertragen lassen, sondern nur von jenen Personen aufgenommen werden können, die über ein entsprechendes Vorwissen verfügen.
Die räumliche Diffusion von neu entstandenem Wissen beansprucht dabei je nach der Art des Wissens einen mehr oder weniger langen Zeitraum (Innovations- und Diffusionsforschung). Die Geschwindigkeit, mit der sich neues Wissen in der räumlichen Dimension verbreitet, hängt ab von der Art des Wissens, vom Interesse der Wissensproduzenten, ihr Wissen (kostenlos) preiszugeben, sowie von der Fähigkeit und Bereitschaft der potenziellen Empfänger, dieses Wissen anzunehmen. Am schnellsten verbreitet sich das Alltagswissen, für dessen Aufnahme man keine Vorkenntnisse benötigt, und dessen kostenlose (kostengünstige) Verbreitung über Massenmedien im Interesse des Produzenten oder Senders liegt. Trotzdem erreicht selbst diese Art des Wissens nicht alle Regionen. Einige Standorte können selbst frei verfügbares Wissen nicht aufnehmen, weil ihnen die notwendigen technischen Voraussetzungen zum Empfang der Informationen fehlen oder die Bevölkerung noch nicht lesen und schreiben kann (Analphabeten). Manche Inhalte eines kulturellen, religiösen, ideologischen oder hegemonialen Wissens werden von potenziellen Empfängern abgelehnt. Dies gilt im Zuge der Globalisierung gerade für lokale Wissenskulturen.
Um die zweite Kategorie von Wissen aufnehmen und verstehen zu können, benötigt man ein Vorwissen, Erfahrungen oder Kompetenzen, deren Erwerb (z.B. Universitätsstudium) sehr zeit- und kostenintensiv sein kann. Die neuesten Erkenntnisse der Molekularbiologie sind z.B. nach ihrer Publikation weltweit zugänglich. Personen, die jedoch nicht Molekularbiologie studiert haben, können mit diesen Publikationen nur wenig anfangen. Zu dieser Kategorie gehört auch Wissen, das durch Kommunikation nicht oder nur schwer vermittelt werden kann. Nicht alles Wissen ist kodifizierbar, in Schrift, Worten oder Gesten auszudrücken und somit mitteilbar. Der Mensch weiß mehr als er mitteilen kann. Das Vorwissen, Intuition und Erfahrungen können im Kommunikationsprozess gleichsam als Filter oder Ankoppelungspunkt angesehen werden, der bestimmt, ob eine Nachricht von einem Empfänger aufgenommen, verstanden, in ihrer Bedeutung richtig eingeschätzt und in Handlungen umgesetzt werden kann oder nicht. Diese Filterfunktion des Vorwissens ist der Hauptgrund dafür, warum bestimmte Wissensbestände nur zwischen wenigen Standorten zirkulieren, gewisse Regionen von Innovationen ausgelassen werden und viele Wissensunterschiede zwischen Zentrum und Peripherie relativ lange stabil bleiben. Der Austausch von seltenem oder hochwertigem Wissen vollzieht sich am schnellsten und vorwiegend zwischen gleichrangigen Zentren verschiedener Länder (z.B. zwischen Weltstädten) und nicht zwischen Zentrum und Peripherie desselben Landes. Aus diesen Gründen ist diese zweite Kategorie des Wissens schon wesentlich stärker auf einige wenige Hierarchiestufen des Städtesystems und bestimmte Standorte (Forschungszentren) konzentriert als die erste.
Die stärkste räumliche Konzentration (Zentralisation) weisen Träger jenes Wissen auf, dessen (zeitlich und räumlich begrenzte) Geheimhaltung einen Wettbewerbsvorteil bzw. einen Machtzuwachs verschafft. Selbst bei Naturvölkern verdankt der Magier oder Schamane (Schamanismu) seine herausragende Stellung einem Wissensvorsprung. Um seine Machtposition zu wahren, vermittelt er sein medizinisches, technisches und religiöses Wissen durch monopolistische Initiationsriten nur an ausgewählte Nachfolger. Sein Anspruch, mit den Geistern, Ahnen oder Göttern in Verbindung zu stehen, und die aus diesem Vorsprung an Heilswissen abgeleitete Autorität schaffen die Voraussetzungen für Solidarität, Integration und Stabilität und geben dem sozialen System Orientierung. In der Moderne wurden und werden Seekarten, Navigationsinstrumente, chemische Formeln, Konstruktionspläne, Ergebnisse der militärischen Aufklärung oder Erfindungen so lange als möglich geheim gehalten, um durch einen Wissensvorsprung einen Wettbewerbsvorteil zu bewahren. Da der Wissenserwerb nie abgeschlossen ist und die auf Wissen basierenden Wettbewerbsvorteile keinen so langfristig wirksamen Schutz vor der Konkurrenz bieten wie beispielsweise von der Obrigkeit verliehene Privilegien und Monopole (Merkantilismus), muss ein Wissensvorsprung immer wieder von neuem erworben werden, wenn ein System seine Wettbewerbsfähigkeit bewahren will.
Beziehungen zwischen Wissen und Macht
Eine entscheidende Ursache für die hohe räumliche Konzentration bestimmter Arten des Wissens liegt in der engen Beziehung zwischen Macht und Wissen. Nietzsche wies darauf hin, dass das Streben nach Wahrheit, Wissen, Erkenntnis und Gerechtigkeit mit dem Willen zur Macht verbunden sei, den er in den frühen Werken als lebenskonstituierendes Prinzip und später als Prinzip alles Seienden konzipierte. Die Beziehung zwischen Wissen und Macht ist seit frühester Menschheitsgeschichte nachweisbar, und wurde nicht nur von Foucault sondern schon von Konfuzius und Plato thematisiert. Je mehr die Inhaber der Macht auf Legitimation angewiesen waren, je komplexer die Arbeitsteilung wurde, je größer die Distanzen der zu koordinierenden räumlichen Beziehungen und der damit verbundene Kontrollaufwand (Kontrollrevolution) wurden, je mehr die Professionalisierung von Berufen, die Meritokratisierung der Gesellschaft und die Bürokratisierung von Arbeitsbeziehungen voranschritten, umso mehr wurden verschiedene Formen des Wissens zu einer Quelle der Macht und umso mehr konvergierten die Interessenslagen von Macht und Wissen. Das Zeitalter der Entdeckungen, die Aufklärung, der um die Mitte des 17. Jh. beginnende wissenschaftliche "take-off", der Merkantilismus, die industrielle Revolution und die Verwissenschaftlichung einiger Industriebranchen gegen Ende des 19. Jh. erhöhten aus der Sicht der Inhaber der politischen und wirtschaftlichen Macht den Stellenwert von Experten, Forschung und Technologie beträchtlich.
Macht und verschiedene Kategorien des Wissens sind aufeinander angewiesen. Sie bilden vor allem aus zwei Gründen Koalitionen (Max Weber). Um Macht zu gewinnen und über einen längeren Zeitraum zu bewahren, muss ein Subjekt oder ein soziales System bei der Verfolgung seiner Ziele erfolgreich sein. Dazu benötigen die Inhaber von Macht die analytischen Fähigkeiten von Beratern, Wissenschaftlern und Experten, die ihnen einen Wissensvorsprung vor ihren Konkurrenten sichern können. Macht benötigt aber auch Legitimation und diese erhält sie durch die Vertreter des symbolischen Wissens, also etwa durch Priester und Ideologen. Um Macht über längere Zeiträume sichern zu können, müssen die Inhaber der Macht versuchen, herausragende Wissenschaftler, Experten, Künstler und Intellektuelle in Netzwerke der Zustimmung und Unterstützung einzubinden bzw. die besten Leute für sich zu gewinnen. Auch viele Wissenschaftler, Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller und Journalisten suchen die Nähe zur Macht. Erstens bietet ihnen die Macht existentielle Sicherheit und Zugang zu Ressourcen. Zweitens sind sie davon überzeugt, dass sie der Menschheit etwas Wichtiges mitzuteilen haben. Die Nähe zur Macht bietet ihnen so eine Plattform, um gehört zu werden, Aufmerksamkeit zu erreichen und Einfluss auszuüben.
Die Organisationstheorie vermag die funktionalen Gründe zu erklären, warum die Arbeitsorte für hochrangige Entscheidungsträger und spezialisierte Dienstleistungen so stark auf das Kontaktpotenzial der Großstädte angewiesen sind. Die Nähe zum Zentrum hat jedoch für Entscheidungsträger, Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler auch eine enorme symbolische Bedeutung, denn Nähe zum Zentrum signalisiert Prestige und macht Status sichtbar. In vielen Kulturen waren Tempel als Zentren des symbolischen Wissens gleichsam das Tor zum Himmel, nur hier konnte Kontakt zu den Göttern aufgenommen werden. In der heutigen Zeit wird politische und ökonomische Macht von Experten, Konsulenten, Gutachtern, Akademien, Forschungsabteilungen und "think tanks" gestützt und von Ideologien und Religionen legitimiert. Macht und Wissen sind also zwei Seiten derselben Medaille. Wer nach Einfluss strebt und die obersten Karrierestufen erreicht, findet sich früher oder später im Zentrum des betreffenden sozialen Systems wieder oder schafft selbst ein neues Zentrum.
Eine Zentralisierung bestimmter Wissensformen erfolgte auch dadurch, dass die Inhaber der Macht immer wieder versuchten, über Institutionen der Produktion und Vermittlung von Wissen Kontrolle auszuüben. Die Wissensvermittlung ist seit vielen Jahrhunderten mit Zensur, Kontrolle, Propaganda und Fälschungen verbunden, die in der Regel von den Zentren aus gesteuert werden. Wissen, Rationalität und Technologie wurden zu Instrumenten der Disziplinierung und Unterdrückung (Kolonialismus). Schon die Alphabetisierung der Kolonialgebiete diente nicht in erster Linie den Interessen oder der politischen Emanzipation der indigenen Bevölkerung, sondern sie war vor allem ein Mittel, um die Werte, Religionen, Gesetze und Geschichtsbilder der Kolonialmächte durchzusetzen und deren Hegemonie zu festigen. Die Wissenskonstruktionen und Interpretationen der Hegemonialmächte wurden oft als objektives oder modernes Wissen ausgegeben, um das partikulare und traditionelle Wissen von kolonisierten oder marginalisierten Ethnien zurückzudrängen und deren Geschichtsbilder und Gedächtniskultur zu zerstören (Memorizid). Wissen, das der Macht nützlich ist, weist also zentripetale Tendenzen auf, wobei es irrelevant ist, ob die Zentralisierung auf ein Zentrum oder mehrere Zentren ausgerichtet ist.
Literatur:
MEUSBURGER P. (1998): Bildungsgeographie. Wissen und Ausbildung in der räumlichen Dimension. – Heidelberg.
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