Lexikon der Geographie: Zeitgeographie
Zeitgeographie, time geography, Teilgebiet der Humangeographie bzw. der Sozialgeographie, beschäftigt sich mit der zeitlichen Dimension des räumlichen Handelns von Akteuren im Alltag. Diese zeitlichen und räumlichen Dimensionen individuellen oder kollektiven Handelns sind sowohl in linearer Form (Zeitpfade) als auch in ihrer flächenhaften Ausdehnung (Aktionsraum) Gegenstand der Zeitgeographie. Zentrales Erkenntnisinteresse der Zeitgeographie ist die Identifizierung von zeit-räumlichen Mustern menschlichen Handelns, das häufig erweitert wird um die Frage nach den Motiven dieses Handelns. Das Raumverständnis der Zeitgeographie ist daher geleitet von den Begriffen Distanz und Richtung. Dabei wird gelegentlich die verwendete Zeit zur Überwindung einer Strecke auch als Distanz- bzw. Raummaß eingesetzt. Einzelne Aspekte zeitgeographischer Fragestellungen finden sich wieder in Arbeiten zur Aktionsraumforschung, Verkehrsgeographie, Geographie der Freizeit, Stadtgeographie, Zentralitätsforschung, Lebensstilforschung und gender studies.
Als erste Vorläufer einer Zeitgeographie können Arbeiten der Chicagoer Schule der Soziologie angesehen werden, in denen räumlich und zeitlich abgrenzbare Phänomene, wie "temporal dominance" oder "temporal segregation" als strukturierende Merkmale einer Stadt erkannt werden. Als Begründer der Forschungsrichtung Zeitgeographie gelten Torsten Hägerstrand (geb. 1916) und seine Mitarbeiter an der schwedischen Universität Lund (z.B. Carlstein, Elleg°ard, Lenntorp). Neben dem von ihm entwickelten Diffusionsmodell stellt er eine "time-space-structured theory" auf, für die er zum einen zentrale Grundbedingungen menschlichen Lebens formuliert (z.B. die Unteilbarkeit der Person oder die Tatsache, dass alle Aktivitäten eine Dauer besitzen) und zum anderen die wichtigsten Einschränkungen ("constraints") menschlicher Handlungsspielräume benennt. Er gliedert diese "constraints" in "capability constraints" (z.B. biologische Hindernisse), "coupling constraints" (die durch die Notwendigkeit entstehen, sich mit anderen Personen zu koordinieren) und "authority constraints" (z.B. Zugangsberechtigungen, Öffnungszeiten). Da sich nach Hägerstrand der alltägliche Handlungsspielraum der Akteure im Wesentlichen durch diese restriktiven Elemente der "constraints" begrenzt, wird diese Theorie auch häufig "constraints theory" genannt. Außerdem definiert er verschiedene Formen von Zeit: "universe time" (Standardzeit, Weltzeit), "life time" (biologische Zeit, psychologische Zeit) und "social time" (bestimmt durch das Leben im sozialen Gefüge). Mithilfe dieser Zeitkonzepte lassen sich u.a. Aspekte wie die subjektiv unterschiedlich empfundene Zeit (Dauer) von räumlichen Aktivitäten fassen, welche gerade in jüngster Zeit wieder an Bedeutung gewinnen. Die Zeitgeographie versucht, die Zeitpfade und Aktivitäten durch Visualisierungen ( Abb.) zu veranschaulichen und findet mit ihren Modellen bei der Planung (z.B. des ÖPNV) starke Beachtung.
In Arbeiten der Verkehrsgeographie der 1970er-Jahre werden aktionsräumliche Gruppen als Ausprägung von Lebensformen sozialer Gruppen gebildet, wenn sie ähnliche "Funktionsstandort-Systeme" entwickeln. Von Klingbeil (1980) wird aufbauend auf den Ansätzen der Zeitgeographie das Konzept einer kontextanalytischen Prozessgeographie entwickelt, in der die beiden Dimensionen Zeit und Raum gemeinsam das Forschungsobjekt einer sozialwissenschaftlichen Humangeographie darstellen.
Nachdem in den 1970er- und 1980er-Jahren Themen der Zeitgeographie intensiv bearbeitet wurden, sind seit 1990 nur noch vereinzelt Arbeiten zur Zeitgeo-graphie erschienen. Als Gründe für den Rückgang der Arbeiten zur Zeitgeographie ist neben dem nicht erreichten und auch nicht erreichbaren Ziel einer alles umfassenden Theorie für das menschliche Handeln in Raum und Zeit auch die bisherige Beschränkung des Ansatzes auf die Mikroebene zu nennen. Mit dem gesellschaftlichen Diskurs über die Zeitnot, dem Mangel an Zeitautonomie und die nachhaltige Bewirtschaftung von Raum und Zeit gewinnt auch die Zeitgeographie Ende der 1990er-Jahre wieder an Bedeutung. Dabei werden Fragen zur Ungleichheit in der Verfügbarkeit von Zeit zwischen den Geschlechtern, aber auch zur räumlichen Ungleichheit der kostbaren Ressource Zeit diskutiert. Als Indikator für die räumliche Ungleichheit von Zeit kann u.a. der individuelle Zeitaufwand für Mobilität im Alltag verwendet werden. Ansätze, in denen die individuelle Zeitverwendung (insbesondere für Mobilität) als raumrelevantes Merkmal von Akteuren auf der Mikroebene mit strukturellen Merkmalen auf der Makroebene, wie z.B. dem zentralörtlichen Rang oder der siedlungsstrukturellen Ausstattung der Wohngemeinde in Verbindung gebracht wird, stellen die jüngste Ausprägung der Zeitgeographie dar. Hier kommen z.T. handlungstheoretische Ansätze zum Tragen oder Zeitpolitik findet als Teil einer nachhaltigen Stadtentwicklung Anwendung (Henckel et al. 1997). Besonders in der Raumordnung wird in der jüngsten Zeit die Integration von Zeitstrukturen und -mustern für eine sinnvolle Gestaltung des Raums gefordert. In diesem Bereich stellt die Analyse der Wechselwirkungen von Prozessen auf der Makroebene (z.B. Flexibilisierung der Arbeitszeiten) mit Handlungen der Individuen auf der Mikroebene einen gewinnversprechenden Ansatz dar.
Die Zeitbudgetforschung, die sich mit der Sammlung und Auswertung von systematisch geführten Tagebüchern zur Zeitverwendung beschäftigt, entwickelte zu dieser Art der Datenerhebung eigene Methoden und große, z.T. von der Bundesstatistik geführte, Zeitbudgetstudien. Diese stellen auch für Geographen, die auf dem Gebiet der Zeitgeographie arbeiten möchten, interessante Datenquellen dar.
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Lit: [1] CARLSTEIN, T.; PARKES, D.; THRIFT, N. (Eds.) (1978): Timing Space and Spacing Time. Making Sense of Time. Human Activity and Time Geography. Time and Regional Dynamics. – London. [2] HENCKEL, D. et al (1997)(Hrsg.): Entscheidungsfelder städtischer Zukunft. Schriften des Deutschen Instituts für Urbanistik. Stuttgart/ Berlin/ Köln. [3] KLINGBEIL, D. (1980): Zeit als Prozess und Ressource in der sozialwissenschaftlichen Humangeographie. Geographische Zeitschrift 68. [4] MERZ, J.; EHLING, M. (Hrsg.) (1999): Time Use – Research, Data and Policy. Forschungsinstitut Freie Berufe Universität Lüneburg, Baden-Baden.
Zeitgeographie: Zeitgeographie: Zeitpfade im Stil der Zeitgeographie für einen Tag einer Familie: Morgens gegen 6.00 Uhr verlässt die Mutter mit dem Kind auf dem Fahrrad das gemeinsame Zuhause (unten links), bringt das Kind zur Schule und fährt selbst weiter zur Arbeit. Während ihrer Mittagspause erledigt sie Einkäufe, kehrt zu ihrem Arbeitsplatz zurück, holt nach der Arbeit um 17.00 Uhr das Kind wieder von der Schule ab, um gegen 18.00 Uhr wieder zuhause zu sein. Der Vater arbeitet zuerst zuhause, sucht am Vormittag kurz Bank und Post auf, hält am Nachmittag seine Vorlesung an der Universität und ist vor Frau und Kind wieder zuhause angelangt.
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