Lexikon der Geowissenschaften: Abflußprozeß
Abflußprozeß, Wasser, das sich als Abfluß in einem fließenden Gewässer wiederfindet, hat seinen Ursprung im Niederschlag, wobei es allerdings auch über längere Zeiträume hinweg auf der Erdoberfläche in Form von Schnee und Eis, in natürlichen und künstlichen Seen sowie im Boden als Bodenfeuchte oder Grundwasser gespeichert gewesen sein kann. Der Abflußprozeß beruht auf drei Vorgängen: a) dem Prozeß der Abflußbildung aus dem Niederschlag, b) dem Prozeß der Konzentration des zum Abfluß gelangenden Niederschlages (Abflußkonzentration) und c) dem Fließprozeß im offenen Gerinne.
Diese Prozesse lassen sich in zahlreiche Unterprozesse aufgliedern. Sie laufen alle gleichzeitig ab, wobei sich der Schwerpunkt der einzelnen Prozesse mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom auslösenden Niederschlagsereignis vom Abflußbildungs- über den Abflußkonzentrations- hin zum Fließprozeß im offenen Gerinne verschiebt.
Bei dem Prozeß der Abflußbildung wird aus dem den Erdboden direkt erreichenden Niederschlag oder aus der Schneeschmelze der sowohl unmittelbar als auch verzögert zum Abfluß gelangende Wasseranteil gebildet (Effektivniederschlag). Ein Teil des Niederschlags fällt direkt in das Fließgewässer. Der dadurch entstehende Abfluß ist jedoch oft unbedeutend, da der Anteil der Wasserflächen an der Gesamtfläche des Einzugsgebietes meist gering ist.
Die Abflußbildung wird beeinflußt durch die Prozesse der Schneedeckenbildung, der Interzeption, der Verdunstung, der Infiltration und der Wasserspeicherung im Oberflächen-, Boden- und Grundwasser. Es handelt sich dabei um Prozesse, die sowohl auf den Landoberflächen als auch im Boden, in vertikaler Richtung entweder gleichzeitig oder mit geringfügiger zeitlicher Verschiebung ablaufen. Durch Zwischenspeicherung auf den Vegetationsoberflächen (Interzeption) und den Landoberflächen (Schneedecke, Muldenrückhalt), wobei ein Teil des Wassers durch den Verdunstungsprozeß in die Atmosphäre zurückgeführt wird, tritt eine Verminderung des Niederschlagswassers ein (Oberflächenrückhalt).
Das die Erdoberfläche erreichende Niederschlagswasser versucht unter der Wirkung der Schwerkraft in die Bodenmatrix einzudringen (Infiltration). Von besonderer Bedeutung ist das Vorhandensein von Makroporen, welche die Infiltration des Wassers wesentlich erleichtern. Daher wird zwischen Mikro- und Makroporeninfiltration unterschieden. Wenn diese Makroporen bis an die Bodenoberfläche reichen, kann bei Starkregen das Niederschlagswasser direkt in die Makroporen eintreten und schnell in tiefere Bereiche gelangen. Auf dem Weg wird, wenn keine Wassersättigung der Bodenmatrix vorliegt, Wasser an die Bodenmatrix abgegeben. Umgekehrt kann bei Sättigung des Bodens den Makroporen auch Wasser zufließen ( Abb. 1 ). Dieser Prozeß hängt im wesentlichen von dem Infiltrationsvermögen und der Speicherkapazität der Böden ab. Beide Größen werden beeinflußt von der Vegetation, den physikalischen Bodeneigenschaften (Bodenart, Bodengefüge, Makroporenanteil, Bodenprofil, Durchlässigkeit), der vorhandenen Bodenwassersättigung, dem Bodenfrost und von den anthropogenen Einwirkungen wie Versiegelung der Erdoberfläche (Dächer, Straßen) sowie landwirtschaftlicher Bewirtschaftung (Tiefe der Pflugsohle, Verschlämmung und Verdichtung der Böden). Felsstrukturen sowie versiegelte oder gefrorene Böden wirken fast wie Wasserflächen. Es treten lediglich geringe Verluste durch Benetzung auf.
Ist die Intensität der den Boden erreichenden Niederschläge größer als die Infiltrationsrate, kommt es zu einem Wasserstau auf der Erdoberfläche, und Wasser fließt oberflächlich ab, wenn es die örtlichen Gefällsverhältnisse erlauben (Hortonscher Landoberflächenabfluß). Der verbleibende Teil sammelt sich in kleinen Vertiefungen auf der Bodenoberfläche (Muldenrückhalt) und infiltriert den Erdboden, soweit er nicht direkt durch den Verdunstungsprozeß in die Atmosphäre zurück gelangt. Mit zunehmender Bodenwassersättigung nimmt die Infiltrationsrate exponentiell ab (Infiltration Abb., Kurve 1), bis die Sättigung des Bodens erreicht ist. Dabei steigt der als Landoberflächenabfluß abfließende Wasseranteil. Der Hortonsche Oberflächenabfluß geht dann in den Sättigungsflächenabfluß über.
Bei einem gleichmäßigen, langanhaltenden Niederschlag, dessen Intensität zunächst kleiner als die Infiltrationsintensität ist, wird die Wassersättigung des Bodens erst später erreicht, d.h. während der Sättigungsphase erfolgt kein Landoberflächenabfluß. Erst danach tritt eine Abnahme des Infiltrationsvermögens ein (Infiltration Abb., Kurve 2).
Ein Regen mit einer Intensität kleiner als das Infiltrationsvermögen sättigt den Boden nicht und erzeugt keinen Landoberflächenabfluß (Infiltration Abb., Kurve 3).
Nach der Infiltration in die Bodenmatrix füllt das Niederschlagswasser zunächst die Bodenwasservorräte bis zum Erreichen der Feldkapazität wieder auf. Überschüssiges Wasser wird in tiefere Bereiche abgeleitet. Ein Teil des im Boden gespeicherten Wassers geht durch den Verdunstungsprozeß über den Kapillaraufstieg oder durch die Wasseraufnahme der Pflanzen (Verdunstungsprozeß, Transpiration) verloren. Bei weiterem Eindringen des Wassers in den Boden gelangt dieses entweder in den Bereich der gesättigten Bodenzone oder an weniger durchlässige Schichten. Hier trägt es entweder zur Grundwasserneubildung bei und wird als Grundwasser gespeichert oder es wird an der weniger durchlässigen Schicht zeitweilig gestaut und bildet dort temporär einen mit Wasser gesättigten Bereich. Das Wasser aus diesen Zonen wird erst mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung wieder durch unterirdische, vertikale oder laterale Wasserbewegung abgegeben.
Beim tieferen Eindringen in den Erdboden trifft das Wasser auf den Festgesteinsbereich. Hier wird es aufgestaut. Vorhandene Kluftsysteme können das Eindringen des Wassers in tiefere Schichten ermöglichen und zur Tiefenversickerung führen. Ein gut entwickeltes Kluftsystem kann auch einen leistungsfähigen Grundwasserspeicher darstellen, in dem eine beachtliche Wasserbewegung als Grundwasserabfluß stattfindet ( Abb. 2 ).
Bei dem Prozeß der Abflußkonzentration wird der flächenhaft verteilte Effektivniederschlag zu dem nächstgelegenen Vorfluter durch auf der Landoberfläche oder im Boden stattfindende laterale Fließvorgänge geleitet. Auf der Landoberfläche fließt das Wasser als Landoberflächenabfluß, im Bereich der ungesättigten Bodenzone als Zwischenabfluß und im Bereich der gesättigten Bodenzone als Grundwasserabfluß ab. Sofern das aus Infiltrations- bzw. Sättigungsüberschuß auf der Landoberfläche gestaute Niederschlagswasser nicht in kleineren Vertiefungen oder Mulden zurückgehalten wird, fließt es unter dem Einfluß der Schwerkraft als Landoberflächenabfluß (Hortonscher Oberflächenabfluß, Sättigungsflächenabfluß) oder als returnflow dem Vorfluter zu. Urbane (versiegelte) Flächen werden meist durch die städtischen Kanalsysteme oder durch eigens angelegte Grabensysteme entwässert.
Weitere Prozesse können zu einer oberflächennahen, hangparallelen Wasserbewegung führen. Besonders schnell und bedeutend ist dieser laterale Abfluß, wenn ein gut ausgebildetes Makroporensystem (Makroporenfluß) und ein grobes Korngerüst bzw. ein sehr skelettreicher Boden oberhalb einer nicht- oder nur gering durchlässigen Bodenschicht vorhanden sind. Diese Schicht wirkt als Drainage des Hanges. Man bezeichnet diese Form der Wasserbewegung als "Abfluß auf bevorzugten Fließwegen" ( Abb. 1 ). Wenn wesentlicher lateraler Abfluß in Makroporen unter nahezu vollständiger Umgehung der Bodenmatrix stattfindet, wird von bypass flow gesprochen.
Neben der Abnahme der Makroporosität mit der Tiefe wird häufig auch eine Abnahme der hydraulischen Leitfähigkeit der Bodenmatrix mit der Tiefe beobachtet. In Verbindung mit oft auftretenden anisotropen Böden in Hanglagen kann dies zu einer bedeutenden Fließkomponente in Hangrichtung in der Bodenmatrix führen.
Das sich als Zwischenabfluß meist hangparallel abwärts bewegende Wasser kann, wenn laterale Makroporen im Hangbereich an der Erdoberfläche austreten oder stauende Schichten in konkaven Bergabschnitten bis an die Oberfläche reichen, austreten und oberirdisch als returnflow weiterfließen.
In dem Bereich von Bergrücken kann sich nach starken Niederschlägen temporär ein gesättigter Bodenbereich einstellen, und zwar dort, wo nur ein geringer bis mäßiger hydraulischer Gradient, über einer weniger gut durchlässigen Schicht, herrscht. Dabei bildet sich mit zunehmender Mächtigkeit und räumlicher Ausdehnung in den Randbereichen ein größeres hydraulisches Gefälle aus. Der entstandene gesättigte Grundwasserbereich gibt Wasser als Zwischenabfluß in untere Hangbereiche ab. In den Hangbereichen mit einem starken hydraulischen Gradienten fließt neben dem Effektivniederschlag zugleich Wasser als Zwischenabfluß von oberen Hangbereichen zu und fließt in untere Hangbereiche ab. Bei zunehmendem Niederschlag kann teilweise Zwischenabfluß in Landoberflächenabfluß (returnflow) übergehen ( Abb. 3 ).
Wenn das Wasser als Zwischenabfluß den Bereich des Hangfußes erreicht, kann es entweder direkt in einen Vorfluter gelangen, oder es tritt in den Bereich der gesättigten Bodenzonen ein, wie z.B. in die die Fließgewässer umgebenden feuchten Talauen. Trifft es auf gut wasserdurchlässige Schichten, wie z.B. die Schotter der Gebirgsvorländer, versickert es in tiefere Bereiche und trägt zur Grundwasserneubildung bei. Bei starkem Zustrom von Hangwasser wird sich im Bereich der Tallagen ein zeitlich variabler, gesättigter Bereich ergeben, der sich mit zunehmender Niederschlagsdauer erheblich ausdehnen kann (Sättigungsflächenabfluß). Mit dieser Ausdehnung des Sättigungsbereiches geht zugleich eine Erweiterung des Gewässernetzes einher. Diese Ausdehnung kann sich bis in Zonen mit stärkerem hydraulischen Gradienten erstrecken. Es kann dann ebenfalls zu einem Austritt von Hangwasser an der Erdoberfläche kommen, also zu einem Übergang von Zwischenabfluß in Landoberflächenabfluß (returnflow). Dieser Sättigungsbereich trägt wesentlich zur Abflußbildung bei. Alles diesem Bereich unter- und oberirdisch zuströmende Wasser wird unmittelbar dem Gerinne zugeführt.
Ebenso wie ein Übergang von Zwischenabfluß in Landoberflächenabfluß möglich ist, kann der umgekehrte Fall eintreten. Gelangt oberflächlich abfließendes Wasser plötzlich in Bereiche mit gutem Infiltrationsvermögen, so kann Landoberflächenabfluß in Zwischenabfluß übergehen. Dies ist besonders dort der Fall, wo Landoberflächenabfluß von nackten Felsflächen in den meist gut durchlässigen Hangschuttbereich übertritt.
Während beim Landoberflächenabfluß ausschließlich Ereigniswasser in den Vorfluter gelangt, handelt es sich bei den Wasserflüssen, wegen der geringen Fließgeschwindigkeiten meist um Vorereigniswasser. Die Mobilisierung des "Altwassers" erfolgt sehr schnell, so daß in der Abflußganglinie die Scheitel von direkter und indirekter Abflußkomponente relativ dicht nebeneinander liegen ( Abb. 4 ). Hier sind Verdrängungsprozesse sowohl in der ungesättigten als auch in der gesättigten Bodenzone vorhanden. Diese treten insbesondere in Zonen mit hoher Vorsättigung auf, wie z.B. bei topographischen Senken oder unteren Hangbereichen, denen in der Zeit zwischen einzelnen Niederschlagsereignissen Wasser aus höhergelegenen Teilgebieten zusickert.
In Bereichen eines Einzugsgebietes, in denen der Kapillarsaum bis nahe an die Bodenoberfläche reicht, treten schnelle Potentialänderungen auf. Durch Infiltration von Niederschlagswasser in den Kapillarsaum kommt es während eines Ereignisses zu einem schnellen und überproportional starken Anstieg des Grundwasserspiegels in diesem Bereich. Es entsteht ein lokaler Potentialrücken (groundwater ridge), der einen schnellen Ausfluß von Grundwasser in den Vorfluter zur Folge hat (Grundwasserabfluß).
In einen Vorfluter eintretendes Wasser aus Landoberflächen-, Zwischen- oder Grundwasserabfluß führt zu einer Ansammlung von Wasser oder zu einer Erhöhung der Wasserführung. Die zeitlichen Schwankungen der Wasserführung werden durch die Abflußganglinie charakterisiert ( Abb. 4 ).
Zwischen einem Niederschlagsereignis und dem Anstieg des Abflusses im Fließgewässer besteht eine Zeitdifferenz, nämlich die Fließzeit, welche das Wasser benötigt, um zu dem Vorfluter zu gelangen. Diese Fließzeit hängt von verschiedenen Faktoren ab, z.B. von der Entfernung zum Vorfluter, den ober- und unterirdischen Gefällsverhältnissen, der Bodenrauheit und den Bodendurchlässigkeiten.
Der Fließvorgang im offenen Gerinne entsteht aufgrund der Wasseransammlung aus Landoberflächenabfluß, Zwischenabfluß oder Grundwasserabfluß und dem Einfluß der Schwerkraft. Das Wasser bewegt sich ständig dem größten Gefälle folgend zum Meer oder zu einem See. Auf dem Weg dorthin tritt neues Wasser als Landoberflächen-, Zwischen- oder Grundwasserabfluß hinzu. Das Wasser im Flußlauf steht mit dem Grundwasser in Wechselbeziehung und kann auch zeitweise oder ständig Wasser an das Grundwasser abgeben (Uferspeicherung). Zusätzliches Wasser erhält der Wasserlauf aus Nebenflüssen ( Abb. 5 ). In Gebieten mit besonderen Bedingungen, z.B. mit stark geklüftetem Untergrund oder in ariden bis semiariden Gebieten, kann das Wasser eines Flusses vollständig versiegen. Eine im Fließgewässer ablaufende Hochwasserwelle verändert durch die Retentionswirkung (Gerinnerückhalt) mit zunehmender Laufzeit ihre Form, d.h. es findet eine Abflachung des Scheitels und eine Verbreiterung der Welle statt.
Der Fließvorgang im offenen Gerinne erfolgt nach den Gesetzmäßigkeiten der Hydromechanik (hydrodynamische Bewegungsgleichung, Gerinneströmung, Fließformeln). [HJL]
Literatur: [1] BAUMGARTNER, A. & LIEBSCHER, H. (HRSG.) (1996): Lehrbuch der Hydrologie.- Band 1, Stuttgart. [2] CHORLEY, R.J. (1969): Introduction to Physical Hydrology. – London. [3] DINGMAN, S.L. (1994): Physical Hydrology. – Prentice Hall, New Jersey. [4] DYCK, S. & PESCHKE, G. (1995): Grundlagen der Hydrologie. – Berlin. [5] KIRKBY, M.J. (1978): Hillslope Hydrology. – Wiley, New York. [6] WARD, R.C. (1975): Principles of Hydrology. – London.
Abflußprozeß 1: wichtige Fließprozesse im Boden mit Niederschlag (1), Landoberflächenabfluß (2), Versickerung in die Makroporen (3), Fließen in den Makroporen (4), Versickerung in die Makroporen durch die Bodenoberfläche (5), Versickerung aus den Makroporen in die Mikroporen (6), Versickerung in den Mikroporen (7) und schneller, lateraler, unterirdischer Abfluß auf bevorzugten Fließwegen in Makroporen hochdurchlässiger Schichten (8). Abflußprozeß 1:
Abflußprozeß 2: schematische Darstellung des Abflußprozesses. Abflußprozeß 2:
Abflußprozeß 3: Wasserbewegung an einem Berghang vor Beginn des Niederschlages (1), während des Niederschlagsereignisses (2), am Ende des Niederschlagsereignisses (3). Abflußprozeß 3:
Abflußprozeß 4: Zusammensetzung einer Abflußganglinie aus ihren Komponenten Landoberflächenabfluß, Zwischenabfluß und Grundwasserabfluß. Abflußprozeß 4:
Abflußprozeß 5: Entstehung einer Durchflußganglinie aus Zuflüssen von Teilbereichen des Einzugsgebietes. Abflußprozeß 5:
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