Lexikon der Geowissenschaften: Bryozoa
Bryozoa, die zur Stammgruppe Tentaculata gehörenden Bryozoen ( Abb. 1 ) bilden einen der großen, formenreichen Tierstämme (4500 rezente, 16.000 fossile Arten). Die meist unter 1 mm großen Einzeltiere (Zooide) scheiden ein gelatinöses oder festes, röhrenartiges oder kastenförmiges Gehäuse (Zooecium) aus Chitin aus, welches durch Carbonat (Calcit und/oder Aragonit) verfestigt sein kann. Die Zooide sind immer in fast ausschließlich sessilen Kolonien (Zoarien) organisiert, deren Größe von wenigen Millimetern bis über 1 m reicht. Kolonien können aus mehr als 1 Million Zooiden bestehen. Bryozoen leben größtenteils marin, nur ca. 50 Arten im Süß- und Brackwasser. Fossile Formen sind seit dem Ordovizium bekannt. Die Weichkörperanatomie ist typisch für die Tentaculata. Der Mund ist von einem Lophophor mit Tentakeln umgeben. Der Darm ist U-förmig gebogen. Der Mund liegt im Tentakelkranz, der Anus außerhalb (daher der Name Ectoprocta). Im Gegensatz zu Phoronida und Brachiopoda fehlen aber Blutgefäße und Nephridien. Atmungsorgane fehlen; das Nervensystem ist auf ein Ganglion und von dort ausstrahlende einzelne Nervenfasern reduziert. Die Bryozoen sind bis auf wenige Ausnahmen Hermaphroditen (Zwitter); in Kolonien kommen allerdings stets beide Geschlechter vor. Nach der geschlechtlichen, über eine bewimperte Larve führenden Entstehung des ersten Zooids einer neuen Kolonie (Ancestrula) werden weitere Zooide durch Knospung gebildet. Ein Zooid besteht aus zwei funktionellen Abschnitten. Das Polypid ist der vordere Körperteil (Lophophor mit anschließenden halsartigen Weichteilen sowie Darmtrakt). Es kann durch Retraktormuskeln schnell in das Gehäuse eingezogen bzw. durch diverse Muskelmechanismen, welche zur Erhöhung des hydrostatischen Drucks im Gehäuse führen, zum großen Teil wieder ausgestülpt werden. Das Cystid ist der hintere Teil des Einzeltieres. Es besteht aus ein bis zwei durch das Gehäuse geschützte Zell-Lagen, welche asexuelle Knospen bilden können, und enthält zusätzlich die Gonaden. Das über die Retraktormuskeln und einem Gewebsfaden (Funiculus) mit dem Cystid verbundene Polypid kann mehrfach regenerieren und über diese Knospen vom Cystid neu gebildet werden. Erst durch die Koloniebildung werden die Bryozoen zu auffälligen Formen. Für die taxonomische Bearbeitung müssen sowohl Zooid als auch Zoarium berücksichtigt werden, denn polymorphe, spezialisierte Einzelindividuen sind verbreitet. Auch die generellen Wuchsformen der Kolonien sind genetisch gesteuert. Die Öffnung der Zooecien, das Orificium, ist bei manchen Gruppen mit einem Operculum verschließbar. Direkt nebeneinander liegende Zooecien sind durch Kommunikationsporen in der Cystidwand verbunden und können so Coelomflüssigkeit austauschen. Isoliert stehende Zooecien werden durch Stolone verbunden. Sie enthalten einen mit dem Funiculus des Einzeltieres verbundenen Funicularfaden. Die Stolone bestehen aus einer Serie von nur aus dem Cystid bestehenden, spezialisierten Zooiden. Sie werden wie weitere nichtfunktionale, lückenfüllende Zooecien in den Kolonien als Kenozooide bezeichnet. Neben den normalen Nährzooiden (Autozooiden) sind bei vielen Arten der Cheilostomata Heterozooide mit speziellen Funktionen entwickelt. So wird bei den Vibracularien das Operculum der Zooide zu einer schlagenden Borste umgestaltet, bei den Avicularien zu einem vogelkopfähnlichen, schnappenden Organ. Die beiden Heterozooide unterstützen die Nahrungszufuhr, dienen der Reinigung der Kolonie-Oberfläche von Sedimentpartikeln und verhindern, daß sich Larven anderer Hartsubstratbewohner absetzen. Freilebende kuppelförmige Kolonien können sich mit Hilfe dieser Heterozooide fortbewegen oder aufrichten, falls sie disloziert wurden. Vibracularien und Avicularien sind fossil nicht erhaltungsfähig, aber nach Form und Größe der Poren klar identifizierbar. Gonozooide und Ovicellen sind speziell entstehende Brutpflegekammern. In manchen Kolonien entwickeln sich aus Ausstülpungen der Zooide extrazooidale Strukturen, die zwar einen vom Skelett umgebenen Körperhohlraum haben, aber keine Nahrungsaufnahme-Organe. Sie fungieren i.d.R. als Stützelemente.
Bryozoen sind zum weitaus größten Teil marin lebende, sich strudelnd von Mikroplankton ernährende Tiere. Rezent kommen sie von der Küstenlinie bis in 8500 m Wassertiefe vor, wobei die maximale Verbreitung auf dem Schelf bei 20-200 m Wassertiefe liegt. Wegen der leichten Zerstörbarkeit der oft delikaten Formen durch die hohe Wellenenergie sind sie in flacherem Wasser seltener; die Gezeitenzone wird weitgehend gemieden. Wegen der größeren Suspensionsfracht und der herabgesetzten Salinität sinkt die Diversität auch in der Umgebung von größeren Flußmündungen; euryhaline Formen kommen vor. Generell benötigen die Larven zur Ansiedlung Hartsubstrate. Weil diese im tieferen Wasser seltener werden, sinkt dort auch die Diversität. Tiefwasser-Bryozoen sind deshalb oft mit wurzelartigen Festsätzen angeheftet. Bryozoen besiedeln bevorzugt Fels- und Hartböden, Gerölle, aber auch Exoskelette anderer Organismen oder pflanzliche Substrate (Tange oder Algen). So ist z.B. die Gattung Membranipora in Seegras-Wiesen dominant und ermöglicht auf diese Weise den indirekten Nachweis dieses Biotops bis in das Alttertiär. Viele Bryozoen-Larven besiedeln bevorzugt lichtarme Nischen oder die Unterseite von Geröllen oder Organismen. Bryozoen kommen in allen Klimazonen vor, wobei die Diversität zu den Tropen hin steigt. Gemeinsam mit Mollusken sind Bryozoen jedoch sehr wichtige, oft dominierende Faunenelemente in temperierten und borealen Klimazonen ("Bryomol-Assoziation"). Die paläoökologischen Ansprüche zahlreicher rezenter Bryozoen sowie typische Organismenvergesellschaftungen sind gut bekannt. Sie drücken sich in der Dominanz spezieller Wuchsformen der Kolonien aus. Wuchsformen lassen sich auch im Fossilen, v.a. im Tertiär, hervorragend paläoökologisch-paläobathymetrisch auswerten. Inkrustierende einlagige Kolonien kommen besonders im Flachwasser auf Steinen, Schalen, vielfach auch auf fossil nicht erhaltungsfähigen pflanzlichen Substraten vor (inkrustierende Organismen). Inkrustierende, aus vielen Zooecien-Lagen bestehende (multilamellare) Kolonien bilden ebenfalls im bewegten Flachwasser festsitzende Krusten, z.T. auch Bryozoen-Onkoide (Bryoid). Erekt (aufrecht) wachsende Kolonien können uni- oder bilaminare Fächer oder bäumchenförmige Kolonien bilden ( Abb. 2 ). In Adaption an hohe Wasserenergie sind sie flexibel oder massiv-rigid gebaut; in tieferem Wasser herrschen zierlichere, oft fein verzweigte, rigide Typen vor. Freilebende Formen, welche sich auf sandigem Substrat fortbewegen können, finden sich v.a. dort, wo nach dem Festsetzen der Larven auf kleinen Sedimentpartikeln kein ausgedehnteres Hartsubstrat zur Weiterentwicklung vorhanden ist. Bryozoen waren besonders im Paläozoikum wichtige Riffbildner. Neben von Bryozoen dominierten Patchreefs im Ordovizium, Karbon und Perm (u.a. auch im Zechstein) treten sie im gesamten ordovizisch-devonischen Riffzyklus zusammen mit Stromatoporen, tabulaten und rugosen Korallen und Kalkalgen als Riffbildner auf. Mit den Fenestrata sind die Bryozoen die wichtigste Organismengruppe in den Waulsortian-Mudmounds des Unterkarbons. Im Känozoikum sowie in modernen Riffen sind sie als inkrustierende und sedimentstabilisierende Riffbewohner vielfach auf beschatteten Flächen und in Riffhöhlen von Bedeutung. Zu den wichtigsten Klassen der Bryozoa zählen: a) Phylactolaemata: Sie ist im Gegensatz zu allen übrigen Bryozoen mit hufeisenförmigem Lophophor ausgestattet und damit phylogenetisch die ursprünglichste, den Phoronida (Hufeisenwürmern, Tentaculata) nahestehende Gruppe. Ihre Vertreter besitzen keine Hartteile. Mit nur ca. 12 Gattungen ist sie ausschließlich im Süßwasser vertreten. Asexuell gebildete Dauercysten (Statoblasten), die auch Frost und Trockenheit überstehen können, sind aus dem jüngsten Tertiär und Quartär bekannt. b) Stenolaemata: ausschließlich marin vorkommende Klasse, mit verkalkten, röhrenförmigen Zooecien ohne Operculum und kreisförmigem Lophophor. Sie ist vom Ordovizium bis rezent bekannt und im Paläozoikum mit fünf Ordnungen (Trepostomata, Cystoporata, Tubuliporata ( = Cyclostomata), Cryptostomata, Fenestrata) in verschiedensten flachmarinen Ablagerungsräumen reich vertreten; z.T. an Riffbildungen beteiligt. Nur die Tubuliporata überdauerten die Trias und erlebten in der Kreide ihre wichtigste Blüte. c) Gymnolaemata: marin, brackisch, sehr selten im Süßwasser lebende Gruppe mit ausgeprägt polymorphen Zooecien. Der Lophophor ist kreisförmig. Bei den Cheilostomata sind fast immer, zumindest bis auf die Frontalwand, verkalkte, krug- oder kastenförmige Zooecien mit Operculum bekannt, bei den Ctenostomata kurze röhrenförmige, unverkalkte Zooecien ohne Operculum. Sie kommen ebenfalls vom Ordovizium bis rezent vor. Im Paläozoikum sind nur über die typischen, netzförmigen Bohrspuren der unverkalkten Ctenostomata bekannt; inkrustierende Ctenostomata sind durch Bioimmuration (Überwachsen und Abformung der Kolonienoberflächen durch andere Organismen) seit dem mittleren Jura bekannt. Die Cheilostomata blühen nach ihrem Erstnachweis im oberen Jura in der Oberkreide auf und sind seitdem mit drei Unterordnungen und ca. 1050 Gattungen morphologisch überaus differenziert in allen marinen Habitaten vertreten. [HGH]
Bryozoa 1: Organisationsschema der Bryozoen. Bryozoa 1:
Bryozoa 2: Die Kolonien flexibel erekt wachsender Bryozen bestehen oft aus streichholzartig dünnen, langen, verkalkten Internodien, welche über nicht erhaltungsfähige, chitinöse Nodien artikuliert sind. Diese Adaption an erhöhte Wasserenergie ermöglicht durch passives Abschütteln von Sediment auch das Leben bei stärkerem Sedimenteintrag, was hier dokumentiert wird durch den erhöhten Anteil an detritschem Quarz. Bryozoa 2:
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