Lexikon der Geowissenschaften: Gedächtnis
Gedächtnis, aktives kognitives System, das Informationen aufnimmt, enkodiert, modifiziert und wieder abruft. Der Gedächtnisbegriff bezeichnet die Fähigkeit, Sinneswahrnehmungen, Erfahrungen und Bewußtseinsinhalte zu registrieren, über längere oder kürzere Zeit zu speichern (Repräsentation) und bei geeignetem Anlaß kontextspezifisch zu reproduzieren (Externalisierung und Wiedergabe). Dabei können die Wissensverarbeitung beschreibenden Prozesse in erster Linie als Änderung von internen und externen Wissensstrukturen, d.h. als ein Vorgang der Angleichung von extern vorliegenden Wissensstrukturen und dem Grundmuster bereits im Gedächtnis vorhandener Wissensstrukturen verstanden werden.
Die Anforderungen an das Gedächtnis spielen bei der Kartennutzung eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grund ist ein weitgehendes Verständnis der Vorgänge im und um das Gedächtnissystem zur Gestaltung nutzerorientierter Karten- und Mediensysteme äußerst hilfreich, z.B. wenn es darum geht, graphische Mittel zu finden, die unter anderem dazu eingesetzt werden, Schranken der menschlichen Gedächtnisleistung zu überwinden sowie für den aktuellen Problemlöseprozeß benötigtes Vorwissen im Gedächtnis zu aktivieren.
Das menschliche Gedächtnis wurde ursprünglich aus zwei Teilen zusammengesetzt angenommen: Dem Kurzzeitgedächtnis (KZG) und dem Langzeitgedächtnis (LZG). Dabei hatte das Kurzzeitgedächtnis die Aufgabe, Information kurzfristig und durchlässig zu behalten, während das Langzeitgedächtnis die Funktion der ständigen Speicherung von Wissen erhielt. Heute wird in der Kognitiven Psychologie das Gedächtnis als ein System aufgefaßt, das zwei funktionale Zustände annehmen kann. Dabei wird das Kurzzeitgedächtnis häufig als Arbeitsspeicher oder Arbeitsgedächtnis definiert, in welchem sich Wissen zeitweilig zur unmittelbaren Anwendung und Verarbeitung befindet. Die Notwendigkeit einer kurzfristigen Speicherung ist schon deshalb erforderlich, weil die einzelnen Informationen auch beim Kartenlesen größtenteils zeitlich nacheinander eintreffen, zu ihrer Verknüpfung aber simultan verfügbar sein müssen. Generell werden die durch die unterschiedlichen Sinneskanäle aufgenommenen Informationen im Arbeitsgedächtnis in einem sprachlichen und einem räumlichen Speicher (visuell-räumliches Gedächtnis) aktiv gehalten. Durch Wiederholung und Elaboration der so aufgenommenen Information werden Informationselemente dauerhaft enkodiert und bilden sowohl nach sprachlichen und visuell-räumlichen Informationen getrennte als auch gemeinsame Informationen ab. Für viele kognitive Anforderungen im Rahmen der Nutzung kartographischer Medien ist die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses entschieden zu klein, so z.B. bei der Arbeit mit schnell wechselnden Bildschirmkarten, bei denen immer wieder Zwischenresultate, Werte von Variablen oder Systemzustände kurzzeitig präsent gehalten werden müssen.
Die langfristige Speicherung des menschlichen Wissens findet in einer weiteren Gedächtnisstruktur statt, dem Langzeitgedächtnis (LZG). Die Kapazität des LZG ist nach bisherigen Erkenntnissen praktisch unbegrenzt. Die Organisation des LZG scheint vor allem auf der Basis von Assoziationen (visuelle Assoziationen) zu beruhen. Diese Assoziationen kann man sich als gerichteten Zeiger von Wissenseinheiten auf andere Wissenseinheiten vorstellen. Die Assoziationen sind von unterschiedlicher Bedeutung und können Generalisierungen, Spezialisierungen, Ähnlichkeiten, Ausnahmen, Teilbeziehungen, aber auch beliebige, semantisch kaum greifbare Zusammenhänge darstellen. Die große Bedeutung des LZG für die Kartennutzung macht dessen Grundfunktion deutlich, die in der dauerhaften Abbildung besteht, d.h. in der zeitstabilen und störresistenten Repräsentation von Informationen. Die vorbezeichnete Grundfunktion des LZG ist die Basis für drei wesentliche Leistungen: a) das Identifizieren, d.h. Erkennen oder Wiedererkennen aktueller Sinnesempfindungen durch Vergleich und Abgleich mit bestehendem Gedächtnisbesitz, z.B. eines bestimmten Zeichenmusters in der Karte; b) das Reproduzieren, d.h. Wiedergewinnen durch Anregung, Formierung oder motorische Aktualisierung von Speicherinhalten, z.B. der Funktion einer bestimmten Leitfarbe in der Karte; c) das Produzieren, d.h. Umformen von Gedächtnisinhalten bzw. die Kombination oder Konstruktion neuer Einheiten sowie Verbindungen zu bestehendem Gedächtnisbesitz, z.B. die Gewinnung indirekter Informationen.
Neben der temporal-funktionalen Gliederung der Gedächtnissysteme werden verschiedene Teilsysteme unterschieden, die auf die Verarbeitung spezifischer Informationen spezialisiert sind. Gegenwärtig werden vier miteinander vernetzte Gedächtnisarten diskutiert – zwei deklarative und zwei nicht deklarative: a) das episodische Gedächtnis für autobiographische, größtenteils singuläre Ereignisse sowie nach Ort und Zeit bestimmte Fakten; b) das semantische Gedächtnis für Weltkenntnisse, Schulwissen, Wissen um generelle Zusammenhänge sowie semantisch-grammatikalische Kenntnisse; c) das prozedurale Gedächtnis für mechanische und motorische Fertigkeiten und Handlungsabläufe; d) das sogenannte Priming für erleichtertes Erinnern von ähnlich erlebten Situationen oder früher wahrgenommenen Reizmustern.
Das komplexe Zusammenspiel der Gedächtnissysteme bildet die Grundlage für eine erfolgreiche Nutzung kartographischer Medien. Sind bestimmte für die Informationsauswertung benötigte Gedächtnissysteme nicht verfügbar, kommt es zu Fehlern bei der Decodierung der in der Karte abgebildeten Zeichenmuster. Beispiele für kognitive Systeme, die beim Kartennutzer verfügbar sein müssen, sind die Skalierungsniveaus bei statistischen Daten oder geometrische Eigenschaften von kartesischen Koordinatenwerten. Bei undifferenzierten Wertungen von nominalskalierten Daten können z.B. hierarchische statt kategoriale Informationseigenschaften interpretiert werden. Bei kartesischen Koordinatenwerten können deren Eigenschaften mit Eigenschaften von geographischen Koordinatenwerten verwechselt werden. Fehlt das benötigte Kontextwissen oder kann es aus unterschiedlichen Gründen nicht aktiviert werden, kommt es zu Fehlschlüssen oder zu einer Situation, in der die in der Karte abgebildeten Informationen nicht umfassend für die Beantwortung der aktuellen Fragestellung genutzt werden. Die Aktivierung von in den dargestellten Gedächtnissystemen repräsentiertem Wissen sowie der Ausgleich von Wissensdefiziten sind grundlegende Aufgaben kartographischer Arbeitsgraphik.
Zusammengefaßt zeigen die Erkenntnisse die Bedeutung einer zielgerichteten, auf visuell-kognitive Prozesse ausgerichtete Präsentation kartographischer Informationen. Besonders hervorgehoben werden muß vor allem die Notwendigkeit, die syntaktische und semantische Komplexität sowohl in Papierkarten als auch im besonderen in Bildschirmkarten zu verringern, um eine kognitiv plausible, daß heißt der menschlichen Gedächtnisleistung angemessene Präsentation zu gewährleisten. Gleichzeitig ist es die Aufgabe jeder Kartenmodellierung, möglichst viele Anknüpfungspunkte für die effektive Aktivierung von aufgabenrelevantem Kontextwissen zu ermöglichen. [FH]
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