Lexikon der Geowissenschaften: Geographie
Geographie, [von griech. geo = Erde und graphi = Schrift; in etwa: "Erd-Beschreibung"], eine der klassischen Erdwissenschaften, die sich mit der dreidimensionalen Struktur und Entwicklung der Landschaftshülle der Erde beschäftigt. Wichtig ist dabei die integrative Betrachtungsweise der Landschaft als ein von physischen, biotischen und anthropogenen Sachverhalten geprägter Wirkungskomplex (Mensch-Umwelt-System).
Geographie kann in die zwei Teildisziplinen untergliedert werden: Physische Geographie und Anthropogeographie. Die Forschungsobjekte der Physischen Geographie sind qualitative und quantitative Zusammenhänge von Material-, Massen-, Stoff- und Energiehaushalten, d.h. die Analyse der Systemzusammenhänge der Geosphäre. Zum Einsatz kommen naturwissenschaftliche Methodiken, insbesondere die empirische Feldforschung und analytische Methoden. Die Anthropogeographie betrachtet primär den Menschen in seinem sozial-kulturellen Kontext sowie Werden und Zustand sozio-ökonomischer Strukturen, wobei v.a. sozialwissenschaftliche Ansätze und Methoden Anwendung finden.
Die Anfänge einer wissenschaftlichen Geographie reichen in die griechische Antike zurück. Damals bedeutete Geographie eine universale Beschreibung der erfahrbaren Umwelt. Erste schriftliche Zeugnisse stammen von Herodot (484-425 v.Chr.), der kultur- und physisch-geographische Beschreibungen der Regionen des Perserreiches lieferte. Als Urvater einer Allgemeinen Geographie kann B. Varenius (1622-1650/51) gelten, der 1651 eine "Geographia generalis" veröffentlichte. Er unterschied darin bereits in die zwei Teildisziplinen der Physischen Geographie als dem Studium der in der Natur gegebenen Umwelt und der Anthropogeographie als dem Studium der kulturell bedingten Aspekte der menschlichen Umwelt. Die Allgemeine Geographie wurde im 19. Jh. als eine Wissenschaft der Verbreitungsmuster der Phänomene der Erdoberfläche, ihrer Ursachen und Entwicklungen neu begründet (A. Humboldt, C. Ritter). Bis dahin beschäftigte sie sich als rein deskriptive "Erdkunde" mit der universalen Beschreibung der Erde in ihrer Unterschiedlichkeit.
Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften etablierte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts der positivistische Ansatz (Positivismus). Die hergebrachte Auffassung von Geographie genügte nicht mehr den Idealen einer allgemein anerkannten methodischen Wissenschaftlichkeit, die nun linear-kausales Denken mit nomologischer Zielsetzung favorisierte. Folglich nahm die Geographie vermehrt die zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlichen Ansätze auf, wobei sich ab etwa 1875 zwei unterschiedliche Schwerpunkte in der Fachinterpretation herausbildeten: Parallel zur Aufteilung der Erfahrungswissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften entwickelten geologisch vorgebildete Geographen (z.B. F.v. Richthofen, A. Penck) die Grundlagen der Physischen Geographie, insbesondere der Geomorphologie. Auf der anderen Seite entstand durch die Integration des positivistisch-materialistischen Forschungsansatzes eine umweltdeterministische Anthropogeographie (z.B. F. Ratzel, W.M. Davis, E.C. Semple), welche von der Darwinschen Evolutionstheorie beeinflußt mit Mensch-Umwelt-Kausalmechanismen argumentierten (Umweltdeterminismus). Im folgenden entwickelten sich die Physische Geographie bzw. die Anthropogeographie aufgrund der inhaltlichen und methodischen Divergenzen zu in der Praxis nahezu selbständigen Wissenschaften.
1) In der Physischen Geographie entwickelte sich bis in die 1920er Jahre zunehmend ein "Beziehungsdenken". Nicht mehr isolierte, lineare Kausalitäten sollten analysiert werden, sondern in Analogie zu den pluralistischen Beobachtungen die Komplexe der angetroffenen Sachverhalte in deren regelhaftem Strukturzusammenhang (Geofaktorensystem). In den letzten Jahrzehnten bildete sich einerseits eine zunehmende Spezialisierung in den Teildisziplinen der Physischen Geographie heraus, die sich durch eine enge Beziehung zu den benachbarten Geowissenschaften (Bodenkunde, Geobotanik, Geochemie, Geologie, Meteorologie, Klimatologie, Mineralogie) kennzeichnet. Andererseits wurde ab den 1970er Jahren mit der Landschaftsökologie der Versuch unternommen, die physisch-geographischen Teildisziplinen wieder stärker in einem gemeinsamen inhaltlichen Forschungsansatz zu integrieren. Heute sind inhaltliche Schwerpunkte der Physischen Geographie Geosystemforschung, Geoökologie, Landschaftsökologie, Umweltforschung, insbesondere die Grundlagenforschung zu den Themen Wasser, Luft, Boden, Umweltverträglichkeitsprüfungen, Altlastenerkundung und Umweltgutachten. Methodisch finden verstärkt Fernerkundungssysteme (Fernerkundung) und Geoinformationssystemen (GIS) sowie die numerische Modellierung umweltverändernder Prozesse ihre Anwendung. Sie dienen der Prozeßforschung in Gegenwart und Vergangenheit (Paläoumweltforschung) und stellen zugleich Basisdaten für Prognosen der zukünftigen Entwicklung des Naturraumes bereit. Bedingt durch historische sowie aktuelle Eingriffe des Menschen in den Naturhaushalt steht die Physische Geographie auch im Zusammenhang mit den Geschichtswissenschaften (v.a. Archäologie) und weiteren Fächern der Sozial- und Kulturwissenschaften.
2) In der Anthropogeographie z.T. synomym als Kulturgeographie, Humangeographie oder human geography bezeichnet, verlief die Theoriebildung hingegen weitgehend analog zur allgemeinen Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Anthropogeographie läßt sich in drei große sog. Paradigmen gliedern: a) Länderkundlicher Ansatz, b) Anthropogeographie als Raumwissenschaft, c) Anthropogeographie als handlungszentrierte Sozialgeographie.
a) länderkundlicher Ansatz: Das länderkundlich-idiographische Paradigma entwickelte sich aus den anthropogeographischen Ansätzen des 19. Jahrhunderts. Der Umweltdeterminismus wurde durch den Possibilismus (P.H. Vidal de la Blache) abgelöst, der dem Menschen unter Beibehaltung des Mensch-Natur-Antagonismus eine stärkere autonome Bewältigung seines Lebens und seiner Kultur zubilligte. Aus den Nachbarwissenschaften Ethnographie und Kulturanthropologie herrührende Einflüsse wurden in einer Kulturgeographie i.e.S. verarbeitet, die bevorzugt Völker aus Übersee geographisch betrachtete. Durch A. Hettners maßgeblichen Einfluß auf die fachtheoretische Diskussion etablierte sich die Länderkunde als oberstes Ziel geographischer Forschung. Ab den 1920er Jahren führten Versuche, den Dualismus in der Allgemeinen Geographie zu überbrücken, in Deutschland zur sog. "Kulturlandschaftsgeographie". Dazu wurden der Physischen Geographie die Feldmethoden der empirischen Geländebeobachtung entlehnt und in Analogie zur Geomorphologie die materiellen Kulturtatbestände landschaftlicher Größenordnung als "Morphologie der Kulturlandschaft" aufgenommen (O. Schlüter). In der Folgezeit führte das Defizit in der Erklärung sozioökonomischer Strukturen zum zunehmenden Einsatz sozialwissenschaftlicher Empirie. Damit verlagerte sich die Auffassung von Kulturlandschaft mehr in Richtung eines harmonischen Funktionsgefüges. Der Aufstieg der Sozialwissenschaften nach dem 2. Weltkrieg, v.a. mit strukturell-funktionalen Gesellschaftstheorien, induzierte in der Kulturgeographie die Konzentration auf eine sozial orientierte Geographie des Menschen, in deren Verlauf sich Wirtschafts- und Sozialgeographie als eigenständige Disziplinen etablierten (z.B. E. Otremba, H. Bobek, W. Hartke, K. Ruppert, F. Schaffer).
b) Anthropogeographie als Raumwissenschaft: Gegen Ende der 1960er Jahre trat die Unvereinbarkeit der überkommenen länderkundlichen Tradition der deutschen Hochschulgeographie mit den modernen sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen immer deutlicher zutage. D. Bartels leitete einen Paradigmenwechsel in der Anthropogeographie ein, indem er die Gedanken des kritischen Rationalismus auf die Anthropogeographie übertrug und sie als handlungsorientierte Raumwissenschaft neu definierte. Mit der methodologischen Revolution ging die sog. "Quantitative Revolution" einher, in der verstärkt die Methoden der sozialwissenschaftlichen Statistik angewendet wurden. Die Länderkunde, v.a. in Gestalt einer regionalen, genetischen Kulturlandschaftsgeographie, spielt seither in der anthropogeographischen Praxis keine Rolle mehr. Eine disziplinpolitsche Konsequenz war, daß mit dem endgültigen Wegfall des "Landschaftskonzeptes", das den traditionalistischen Gedanken vom Landschaftsraum als dem gemeinsamen Forschungsobjekt einer Geographie in sich trug, die gelegentlich geforderte Re-Integration von Physischer Geographie und Anthropogeographie in der Praxis aufgegeben wurde. Seit Bartels' Arbeiten wird auch die Bedeutung der abstrakten und formalisierten Theoriebildung für die anthropogeographische Praxis allgemein erkannt. Jene kennzeichnet sich mittlerweile durch den konsequenten Import sozialwissenschaftlicher, ökonomischer und insbesondere handlungsorientierter Theorien, die ab den 1990er Jahren das dritte Paradigma in der Anthropogeographie auf den Plan riefen.
c) Anthropogeographie als handlungszentrierte Sozialgeographie: Der noch von Bartels postulierte Raumbezug tritt für den Erkenntnisgewinn zunehmend in den Hintergrund, da räumliche Strukturen Ergebnisse autonomen, sozialen Handelns, aber nicht dessen Ursache sind. Raum oder Distanz können demnach nicht Forschungsgegenstand eo ipso sein. Im Mittelpunkt des jüngeren sozialgeographischen Forschungsinteresses stehen nicht mehr die Raumwirksamkeit menschlichen Handelns, sondern "Raum als Element sozialer Kommunikation" bzw. als "Komplexitätsreduzierung sozialer Wirklichkeit" (H. Klüter) sowie das "alltägliche Geographie-Machen" (z.B. B. Werlen). In der inhaltlichen Praxis der letzten 2-3 Jahrzehnte zeichnet sich ein Schwerpunkt ab, der auf der Erarbeitung der Grundlagen der Raumplanung und die praktische Zuarbeitung zu diesem Komplex ruht. Hierbei findet methodisch eine zunehmende Gewichtung zugunsten qualitativer Methoden empirischer Sozialforschung statt. [PH]
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