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Lexikon der Geowissenschaften: Kartographiegeschichte

Kartographiegeschichte, schließt über die engere Disziplingeschichte die Geschichte der Kartographie als Wissenschaft, und als Bestandteil der theoretischen Kartographie, darüber hinaus die Entwicklung des kartographischen Schaffens und die Kartenproduktion ein, umfaßt aber auch die Entwicklung des Erdbildes als Ausdruck des jeweils als gültig angesehenen Weltbildes. Kartographiegeschichte ist bisher weitgehend aus europäischer Sicht geschrieben worden. Die Entwicklung in anderen Regionen reicht teilweise weiter zurück und verlief unterschiedlich lange eigenständig. Die Geschichte der Kartographie läßt sich damit nicht als einfacher zeitlicher Ablauf darstellen, sondern erfordert als konzeptionelle Vorstellung neben einer Zeitachse auch eine Sachgebietsgliederung des Kartenschaffens und eine regionale Dimension. Im einzelnen sind zugehörig: a) Entstehung und das Schicksal von Einzelkarten, Kartenwerken und Globen; die Herausbildung und Entwicklung von spezifischen kartographischen Tätigkeitsfeldern als Zweige der Angewandten Kartographie (Kartographie), wie Verlags-, Schul-, Seekartographie, topographischer Kartographie und thematischer Kartographie mit ihren vielfältigen Untergliederungen. b) Entwicklung der technischen Verfahren für Kartenentwurf und -herausgabe sowie der Kartenherstellung, einschließlich Kartenvervielfältigung, in enger Wechselwirkung zur Entwicklung der graphischen Techniken (Holzschnitt, Kupferstich, Lithographie). c) Entwicklung der Allgemeinen Kartographie, die die kartographische Zeichentheorie, die Methoden der Reliefdarstellung und der Kartengestaltung einschließlich der Kartenprojektion sowie die Kartennutzung umfaßt. Eng verbunden mit Kartographiegeschichte ist das Fortschreiten der Entschleierung der Erde von mehreren Kulturzentren aus. Die Ausweitung des geographischen Gesichtsfeldes (Entdeckungsgeschichte) schlägt sich in Karten nieder, verändert aber auch die Vorstellungen über die Erdgestalt und führt zur Entwicklung der zur Erdvermessung notwendigen astronomischen und mathematischen Kenntnisse, zu dafür geeigneten Instrumenten für geographische Ortsbestimmung zur Zeit-, Winkel- und Streckenmessung und zur Erfassung des Fixsternhimmels. Später tritt die topographische Erschließung hinzu, der zeitlich und räumlich überlappend die Erforschung der Geosphäre durch die Geowissenschaften mit thematischen Kartierungen der Länder und Meere folgt. Ausgehend vom Wesen der Karte als Informationsträger gehören zur Kartographiegeschichte auch die noch gering erforschten Wege und Methoden der Kartennutzung. In dieser umfassenden Diktion greift sie über die Fachwissenschaft Kartographie weit hinaus, und hat als ein vielfältig differenziertes, interdisziplinäres Arbeitsfeld zu folgenden Wissenschaften engen Bezug: Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Polygraphie (alle Zweige des graphischen Gewerbes umfassendes Gebiet), Buch- und Verlagswesen, Bibliotheks- und Archivwesen, Betriebs- und Volkswirtschaft und zur Geschichte des Vermessungswesens. Bei der Neubelebung der Wissenschaft in der westeuropäischen Renaissance erfüllte die graphische Dokumentation des Erdbildes eine zunächst integrierende, später disziplinbildende Funktion. Beziehungen zur Mathematik, Astronomie (geodätische Astronomie, Geodäsie und Geographie, aber auch zu allen anderen Geowissenschaften blieben jeweils für beide Seiten bis zur Gegenwart prägend. Dabei hat der Zusammenhang einerseits mit der Geschichte der Geodäsie und andererseits zur Geschichte der geographischen Wissenschaften besondere Bedeutung, wurde doch über lange Zeiträume unter Geographie hauptsächlich die Herstellung von Karten verstanden. Später, insbesondere im 19. Jh., wurde im Rahmen der Geographie die thematische Kartographie und im 20. Jh. eine allgemeine Methodologie der Kartographie begründet und eingeführt. Die differenzierte Entwicklung der Kulturen und Völker verlangt notwendigerweise regional gebundenes Arbeiten. Regionale Kartographiegeschichte, die bisher erst zu einem gewissen Teil aus den Quellen aufgehellt ist, schafft erst die Grundlagen für eine globale Gesamtschau, einer allgemeinen Kartographiegeschichte. Ein zentrales Problem bildet dabei die Periodisierung. Dabei verschieben sich Beginn und Entfaltung neuer Bereiche kartographischen Schaffens, jeweils zunächst von einem Kulturzentrum ausgehend, mit räumlicher Entfernung auch zeitlich. Der Werdegang kartographischer Erzeugnisse vollzog sich dabei zu allen Zeiten in nur lose miteinander in Beziehung stehenden Zweigen:

a) Aus praktischen Erfordernissen entwickelte sich ein kleinräumig arbeitendes Vermessungswesen, wobei die Notwendigkeit sowohl zur Fixierung von Grundstücks- und Besitzgrenzen im Gelände durch Vermarkung wie auch für ihr Abbild in verkleinerter, geometrisch ähnlicher Darstellung als Karte bestand (Markscheidewesen). Katastervermessung in großen Maßstäben ist eine Obliegenheit, die auch heute noch in allen Teilen der Erde als praktische Aufgabe besteht. Aus älterer Zeit sind Dokumente solcher Vermessungen nur spärlich erhalten. Zu Städteansichten und Vogelschaubildern des 16. und 17. Jh. kamen seit dem 18. Jh. grundrißliche Stadtpläne und seit dem 19. Jh. geometrisch exakte großmaßstäbige Stadtkartenwerke hinzu. Seit dem frühen 19. Jh. weitete sich die militärische Ingenieurvermessung zu Kartierungen der Forsten, Straßen und Eisenbahnen aus.

b) Zwischen dieser lokalen und der globalen Dimension kartographischen Schaffens steht das weite Feld der regionalen Kartographie, der Kartierung von kleineren und größeren Territorien, von Landschaften, Ländern und Kontinenten wie auch der Meere. Dieses Arbeitsfeld war lange Zeit zunächst auf die Erfassung des Geländes mit seinen sichtbaren Geländeobjekten, der Topographie, gerichtet, wobei zwei Wurzeln zu unterscheiden sind: a) das geographische Wissen über die Lage bestimmter Objekte wurde in ein graphisches Bild gebracht, für das sich die Bezeichnung Landkarte einbürgerte. Der von den Humanisten intensiv betriebene, bald über das überlieferte Wissen der Geographie des Ptolemäus hinausgehende, Erkenntnisfortschritt zwang immer wieder zu neuen räumlichen Synthesen für größere Räume. Dabei wuchsen mit dem Wissen die benutzten Maßstäbe und damit die zu bearbeitende Kartenfläche. Im Laufe der Zeit entstanden unterschiedliche Kartensammelwerke. Zu diesen historischen Atlanten zählen z.B. die Werke von Ortelius und Mercator aus dem 16. Jh. oder die großartigen Barockatlanten des 17. Jh. von Blaeu und Hondius. Ab dem 18 Jh. (z.B. Sanson, Homann oder Seutter) wurden die Werke immer differenzierender. Neuerdings zählt man zu den historischen Atlanten alle vor 1945 erschienenen Werke. b) Zum anderen gingen Regionalkarten aus der Verallgemeinerung früher topographischer Vermessungen des 16. Jh. hervor. Mit der Vervollkommnung der topographischen Aufnahmeverfahren entstanden auf der Grundlage geodätischer Landesvermessungen topographische Landeskartenwerke, deren Herstellung seit Mitte des 20. Jh. stark durch die Photogrammetrie beeinflußt wurde und am Ende des 20. Jh. in topographische Geoinformationssysteme (GIS) mündet (ATKIS, digitale Geländemodellierung). Topographische Karten wurden seit Beginn des 19. Jh. zur Bearbeitung moderner Handatlanten (Andrees Handatlas, Stielers Handatlas) genutzt. Als besonderer Zweig spaltete sich im 19. Jh. die Schulkartographie ab. Anfangs mit politischen, dann sog. physischen und schließlich seit dem 20. Jh. überwiegend thematischen Karten. Als weitere Zweige im mittleren Maßstabsbereich entstanden neben einigen frühen Straßenkarten um 1500 (Etzlaub), seit Ende des 17. Jh. zur allgemeinen Orientierung über Postverbindungen dienende Postkarten, im 19. Jh. traten an ihre Stelle Eisenbahnkarten, im 20. Jh. Autostraßenkarten. Auf topographischer Grundlage begann schließlich die Herstellung entsprechender thematischer Kartenwerke. Mit der Fernerkundung der Erde, der Erforschung des Erdmondes und anderer Planeten aus dem Weltraum ist seit den 70er Jahren des 20. Jh. die Erforschung der Erde in ein neues Stadium getreten; flächendeckende thematische Kartierungen sind im Gange. In Verbindung mit topographischen (Basis-)informationssystemen entstehen jetzt Fachinformationssysteme.

c) Erkenntnisvorgänge über Welt und Erde wurden zunächst in einem verbal formulierten Welt- und Erdbild niedergelegt, erst auf entsprechend fortgeschrittenem Erkenntnisstand fanden sie auch ihren graphischen Ausdruck. Von einfachen, unmaßstäblichen Erdbildern als Zeichnungen, die aus überlieferten antiken Beschreibungen im 19. Jh. rekonstruiert wurden, führt hier der Entwicklungsweg zur exakten Darstellung zunächst des Fixsternhimmels mit Gradnetz, erst später zu maßstäblichen, Lagetreue anstrebenden Erd- und Erdteilkarten ("Mappae mundi") auf der Grundlage verebneter Abbildungen des analogen Gradnetzes auf der Basis der Kugel zu Himmels- und Erdgloben (Behaimglobus). Dieser aus der Antike indirekt überlieferte Prozeß wurde vom Spätmittelalter an in Westeuropa durch die Kreuzzüge und über das arabische Spanien bekannt, aufgegriffen und selbständig zur Blüte geführt. Es entstanden z.B. Mönchskarten und Radkarten. Aus diesen historischen Karten,aus der an Universitäten entwickelten Gelehrtenkartographie und über die Kunde der Land- und Seereisenden wuchs das Wissen, das seinen Niederschlag in kleinmaßstäbigen Karten (Portolankarten) fand. Mit der Entschleierung der letzten weißen Flecke auf der Erdoberfläche im traditionellen Sinne kam dieser Prozeß erst in jüngster Vergangenheit zum Abschluß. [WSt]

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