Lexikon der Geowissenschaften: Stokes-Problem
Stokes-Problem, Problem von Stokes, die von G.G. Stokes 1849 formulierte Aufgabe, die Gestalt des Geoids und des Schwerepotentials im Außenraum des Geoids aus terrestrischen geodätischen Messungen zu bestimmen. Diese Aufgabe kann in Form eines dritten Randwertproblems der Potentialtheorie formuliert werden ( Abb.). Auf dem Geoid G, das alle terrestrischen Massen einschließe, sei die Schwere gG(B,L) als kontinuierliche Funktion der geographischen Koordinaten B,L gegeben. Die geographische Breite B und Länge L beziehe sich auf ein dem Geoid mittels einer geodätischen Datumsfestlegung (geodätisches Datum) angeheftetes Referenzellipsoid E, dessen kleine (polare) Halbachse in Richtung der Erdrotationsachse zeigt. Das Geoid rotiere mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit ω um eine raum- und körperfeste Rotationsachse. Da die Schwere gG mit dem Betrag des Schwerevektors
G=grad|W|G identisch ist, gG=|
G|, andererseits das Geoid die Äquipotentialfläche W(
G)=W0=const. repräsentiert, entspricht gG in jedem Geoidpunkt PG∈G (bis auf das Vorzeichen) der Ableitung des Schwerepotentials W in Richtung der äußeren Flächennormalen
:
gG=-∂W/∂n(PG).
Die Form der Geoidfläche, d.h. der Abstand N zwischen dem Referenzellipsoid E und dem Geoid G, die Geoidhöhe, ist jedoch nicht bekannt, so daß mit den bezüglich der Geoidhöhe N nichtlinearen Randbedingungen:
gG=-∂W/∂n(PG),
WG=W0=W(PG)
und der im Raum ΩG außerhalb des Geoids gültigen Feldgleichung (erweiterte Laplacesche Differentialgleichung):
ΔW(
)=2ω2,
∈ΩG
ein freies Randwertproblem resultiert. Den beiden Randbedingungen stehen als Unbekannte die Geoidhöhe N(B,L) und das Schwerepotential W(
) im Außenraum des Geoids gegenüber. Um das ursprünglich nichtlineare Problem zu linearisieren, werden Näherungen für die Randfläche G und das Schwerepotential W eingeführt. Als Approximation für W benutzt man ein Normalschwerepotential, im allgemeinen das Potential U eines Niveauellipsoids, so daß W aus U und dem noch unbekannten Störpotential T zusammengesetzt ist:
W=U+T.
Da die Zentrifugalanteile in U und W identisch sind, ist das Störpotential im Außenraum des Geoids harmonisch, d.h.:
ΔT(
)=0 ≈
∈ΩG,
und im Unendlichen regulär. Als Näherung für die räumliche Lage des Geoidpunktes PG wird der Durchstoßpunkt QE auf der Ellipsoidoberfläche verwendet, welcher auf derselben Ellipsoidnormale wie PG liegt, so daß das Referenzellipsoid als Näherung für die Geoidfläche dient. Nach Linearisierung bezüglich des Näherungspotentials U und der Näherungspunkte QE sowie weiteren Vereinfachungen ergeben sich aus den Randbedssorpotborpotssingungen das Theorem von Bruns:
(mit der auf den Ellipsoidpunkt Q bezogenen Normalschwere ΓQE)sowie die Fundamentalformel der Physikalischen Geodäsie:
mit der Schwereanomalie Δg als Differenz zwischen der Schwere im Geoidpunkt PG und der Normalschwere im zugeordneten Ellipsoidpunkt QE. Auch das linearisierte Problem ist nicht exakt lösbar. Unter Vernachlässigung der Elliptizität der Erde (Fehler von der Ordnung 0,3%) entsteht als Lösungsformel die Stokessche Integralformel:
R=mittlerer Erdradius (R=6371 km),
=mittlere Normalschwere, S(ψ)=Stokessche Funktion, die vom Winkel ψ zwischen den geozentrischen Radiusvektoren des Aufpunkts und des variablen Integrationspunktes, dem die Schwereanomalie Δg zugeordnet ist, abhängt; σ=Parameterbereich der Einheitskugel mit dem Flächenelement dσ. Eine entsprechende Formel kann auch für das Störpotential T angegeben werden. Die Berechnung der Geoidhöhe N aus der Stokesschen Integralformel bezeichnet man auch als gravimetrische Geoidbestimmung (die Berechnung der Geoidhöhe aus Schweremessungen). Um die für das Stokes-Problem erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, sind alle Massen außerhalb des Geoids rechnerisch zu beseitigen. Neben den Gezeiten- und atmosphärischen Reduktionen sind an den zunächst auf die Erdoberfläche S bezogenen Schweremessungen g topographische und ggf. isostatische Reduktionen sowie die Freiluftreduktion anzubringen. Mit der aus Bouguerscher Plattenreduktion δgB und Geländereduktion δgG zusammengesetzten topographischen Reduktion δgT werden gedanklich die topographischen Massen zwischen der Erdoberfläche und dem Geoid beseitigt. Da diese Maßnahme das gesamte Schwerefeld im Außenraum des Geoids stark beeinflußt und einen großen indirekten Effektauf den Verlauf der Äquipotentialflächen und damit des Geoids ausübt (größer als 1000m in der vertikalen Position), werden gedanklich die topographischen Massen entsprechend einem Isostasiemodell in das Erdinnere verlagert; auf diese Weise bleibt die Gesamtmasse der Erde praktisch unverändert, so daß sich die Äquipotentialflächen – und damit das Geoid – nur geringfügig verschieben und der indirekte Effekt klein bleibt. Darüber hinaus ist die gemessene Schwere – nach erfolgter topographischer bzw. isostatischer Reduktion δgI – von der Erdoberfläche mittels der Freiluftreduktion δgF nach unten auf das Geoid fortzusetzen. Hierzu verwendet man i.a. den Normalschweregradienten, der oft durch den globalen Mittelwert:
angenähert wird. Die Zusammenfassung aller Reduktionen ergibt die auf das Geoid reduzierte Schwere:
gG=g+δgB+δgG+δgI+δgF
aus der die Schwereanomalie:
Δg=gG-ΓQE
am Geoid berechnet wird. Aufgrund des großen Rechenaufwandes wird mitunter auf das Anbringen z.B. der Bouguerschen Plattenreduktion und der isostatischen Reduktion verzichtet, so daß verschiedene Arten von Schwereanomalien entstehen. Da die Dichte der topographischen Massen und der isostatischen Ausgleichsmassen im allgemeinen nicht ausreichend genau bekannt ist, ist eine hochgenaue Geoidbestimmung wegen fehlerbehafteter Dichteannahmen nicht möglich. Aus diesem Grunde wird das Geoid in der modernen Geodäsie gewöhnlich durch das Quasigeoid ersetzt. [BH]
Literatur: HEISKANEN, W.A., MORITZ, H. (1967): Physical Geodesy. – San Francisco, London.
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