Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Abraham ben David Portaleone
Geb. 1542 in Mantua; gest. 29.7.1612 ebenda
P. stammte aus einer berühmten jüdischen Familie aus Mantua, in der sich zahlreiche ihrer Mitglieder in der Medizin hervorgetan hatten. Er bekam eine umfassende Erziehung: Bei Rabbi Meir aus Padua und Rabbi Joseph Sarko erlernte er den Tenakh (die hebräische Bibel) und seine wichtigsten Kommentare. Rabbi Joseph Sinai, Rabbi Jakob Fano und Rabbi Jehudah Provenzali waren seine Lehrer in der talmudischen und rabbinischen Literatur. Mit besonderer Verehrung erwähnt P. unter seinen Lehrern Abraham ben David Provenzali, welcher ihn außer im Talmud auch in Latein und Philosophie unterrichtete. Entsprechend der Tradition seiner Familie studierte P. in Pavia Medizin und erhielt im Jahre 1563 den Doktortitel. Im Jahre 1566 wurde er in den Ärzteverein von Mantua (Collegio dei Medici) aufgenommen. Trotz des für jüdische Ärzte Christen gegenüber geltenden Behandlungsverbots wurde im Jahre 1591 von Papst Gregorius XIV. der Erlaß des Herzogs Guglielmo Gonzaga aus dem Jahr 1577 bestätigt, wonach P. die Erlaubnis erhielt, auch bei Christen zu praktizieren. Am 25. Februar 1576 konnte P. einem Hinterhalt unverletzt entkommen, der aus ungeklärten Gründen von einem bestimmten Agostino, Sohn von Raffaello, auf ihn verübt worden war. Dieser Vorfall, welchen P. in seinem Lebensüberblick am Ende seiner Shilte ha-Gibborim (»Heldenschilde«) merkwürdigerweise nicht erwähnt hat, wird in einem von S. D. Luzzatto 1860 in der Zeitschrift Oẓar Nechmad veröffentlichten Brief von Isaak Chajim (Vitale) Cantarini (1644–1728) an den Pastor Chr.Th. Unger berichtet. Ein Wendepunkt in P.s Leben war ein plötzlicher Schlaganfall im Jahre 1605, der ihn an der linken Körperseite lähmte. In seiner Erkrankung sah P. eine mahnende Strafe Gottes wegen seiner Vorliebe für das profane Wissen, nämlich die Medizin und die Philosophie, wodurch er die Tora vernachlässigt habe. Als Zeichen seiner Reue schrieb er sein Hauptwerk Shilte ha-Gibborim, das er seinen drei Söhnen widmete. Außer den Shilte ha-Gibborim, seinem einzigen auf Hebräisch geschriebenen Werk, hat P. noch zwei Traktate auf Lateinisch geschrieben, nämlich Dialogi tres de auro (Venedig 1584) und ein medizinisches Traktat, Consilia Medica, welches unveröffentlicht blieb.
Das umfangreiche Werk Shilte ha-Gibborim gliedert sich in vier Teile, wobei der erste Teil mit insgesamt 90 Kapiteln enzyklopädischen Charakter hat. Die drei folgenden Teile oder »Schilde«, wie P. sie nennt, enthalten Gebete für die Wochentage und die jüdischen Feste mit verschiedenen Auszügen aus der Bibel, dem Talmud, den Midrashim und dem Sohar. Der erste Teil enthält eine ausführliche Beschreibung des Jerusalemer Tempels, seiner Geräte und des Kultdienstes und gliedert sich wie folgt: Die ersten drei Kapitel dienen als Einführung und bieten eine allgemeine Übersicht über das Land Israel und den Tempel. Die Kapitel 4–13 befassen sich mit der Tempelmusik und den Musikinstrumenten. Die Kapitel 14 und 15 beschreiben die verschiedenen Kammern, Tore und Tempelbereiche, die Kapitel 16–19 die Tempelbewachung und die Kapitel 20–22 die Tempelsteuer. Die Kapitel 23–34 befassen sich nochmals ausführlicher mit den Kammern, Toren und Höfen des Tempels und mit seinen Einrichtungen (Altare, Tische, Leuchter und Gefäße). In den Kapiteln 35–41 werden die verschiedenen Tempelbeamten und Priesterämter aufgezählt und erklärt. Die Beschreibung der Priester-Hierarchie schließt Ausführungen über die Sozialstruktur des israelitischen Volkes und seiner Staatsverwaltung ein (Kap. 40). Dem Heer als Teil der Staatsverwaltung widmet P. drei lange Kapitel (Kap. 41–43), in denen auch die Waffen und die Kriegsführung der Israeliten beschrieben werden. Durch phantasievolle Wortableitungen und Interpretationen biblischer Namen versucht P. die seltsam anmutende These zu untermauern, daß die Israeliten bereits alle modernen Waffen, einschließlich Gewehre und Kanonen, wie auch die Regeln der modernen Kriegsführung kannten.
Die Kapitel 44 und 45 befassen sich mit den Gewändern des Hohenpriesters, die Kapitel 46–48 mit dem Efod, d.h. der Brusttasche des Hohenpriesters und mit den Edelsteinen, die den Efod und die Brusttasche schmückten. Die Kapitel 49 und 50 handeln von Edelsteinen, Gemmen und den ihnen zugeschriebenen Wunderkräften; die Kapitel 51–53 von den Opfertieren, ihren Reinheitsmerkmalen und den Tieren im allgemeinen; die Kapitel 54–56 von gefälschten Edelsteinen, Preislisten von Diamanten und Wechselkursen verschiedener Münzen zur Zeit P.s; die Kapitel 57–75 von den Opfergaben und ihren Vorschriften; das Kapitel 76 vom Salz für die Opfergaben die verschiedenen Salzsorten aufführend; das Kapitel 77 befaßt sich mit dem Holzstoß für die Brandopfer; die Kapitel 78–88 erläutern das Räucherwerk und die dafür verwendeten Pflanzen und Spezereien; die Kapitel 89 und 90 erklären zum Schluß die Gebetsordnungen.
Dies zeigt, daß sich P. nicht nur auf eine Beschreibung des salomonischen Tempels beschränkte, vielmehr waren ihm die zahlreichen Themen, die er mit dem Tempel in Zusammenhang brachte, Anlaß, sich mit unterschiedlichen Aspekten der Kultur seiner Zeit auseinanderzusetzen. Auf diese Weise ist das Buch eine Enzyklopädie, in der die wichtigsten Wissensgebiete aus der Sicht eines gebildeten Juden des 16. und 17. Jahrhunderts dargestellt werden. Die enzyklopädischen Werke der Renaissance waren eine Folge der tiefgreifenden Veränderung der Weltanschauung und der kulturellen Umbrüche dieser Zeit. Die Auffassung, daß der Mensch und nicht mehr Gott im Mittelpunkt stand, die Betrachtung der Natur (einschließlich des Menschen) als ein Lebewesen mit magischen Kräften, die Entdeckungen neuer Länder, die wissenschaftlichen Errungenschaften und die jüngsten technischen Erfindungen – all das stellte das mittelalterliche Prinzip in Frage, daß die Theologie das oberste Ziel der Bildung sei, der alle anderen Wissensgebiete unterzuordnen seien und in ihr ihre Einheit fänden. Eine Folge der kulturellen Umwälzungen war das Bemühen, in Form der Enzyklopädie ein neues System des Wissens zu entwickeln und dieses den bis zu diesem Zeitpunkt als gültig anerkannten Kenntnissen der Tradition gegenüberzustellen.
Da die Shilte ha-Gibborim, wie oben erwähnt, das Ergebnis einer geistigen und philosophischen Wandlung ihres Autors war, zog P.s religiöse Umkehr auch seine intellektuelle Umkehr zum »wahren« Wissen nach sich: Wirkliches Wissen könne nur im Wort Gottes, wie es sich in der Bibel offenbart, enthalten sein. Auf diese Weise sollte die Trennung zwischen profanem Wissen einerseits und Glauben andererseits, die P. und vielen anderen jüdischen Intellektuellen, wie z.B. Azarja de’ Rossi und Abraham Jagel, als sehr problematisch und gefährlich erschien, überwunden werden. Dies war es, was P. beabsichtigte, wenn er in seinen Shilte ha-Gibborim das Wissen seiner Zeit mit Hilfe der Beschreibung des salomonischen Tempels darstellte und nach der Struktur der Tempelanlage anordnete. In der Spätrenaissance betrachtete man unter kabbalistischen und neuplatonischen Einflüssen den salomonischen Tempel als Darstellung der Harmonie des Universums (Makrokosmos) und des menschlichen Körpers (Mikrokosmos). Gemäß der hermetischen Tradition wurde der Tempel bzw. sein Erbauer Salomon als der wahre Weise und Wissenschaftler verehrt. Der Tempel hatte für P. aber auch die Funktion, seine Leser an eine glorreiche Vergangenheit der Juden zu erinnern und damit ihr Selbstbewußtsein zu stärken, da sie in der Gegenreformation ökonomisch, sozial und kulturell unter Druck geraten waren. Der humanistischen Bewunderung für die griechische und römische Kultur stellte P. den Tempel und die Epoche des Königs Salomon gegenüber, die sehr viel älter als die klassische Kultur war. Er war der Auffassung, daß alles – auch die modernen Erfindungen und Entdeckungen – bereits in der Bibel enthalten sei und dies in ihr auch nachgewiesen werden könne, solange sie »richtig« interpretiert werde. So leitet P. z.B. seine Beschreibung des israelitischen Heeres mit folgenden Worten ein: »Es ist jedem, der Wissen und Verstand hat, wohl bekannt, daß unsere heilige Tora ein Heilmittel ist, in dem alles enthalten ist. Wie uns ihre Gebote und Vorschriften nicht unzugänglich sind, die uns zur ewigen Glückseligkeit führen, um uns im Glanz der Gottesgegenwart, im Licht des Lebens der zukünftigen Welt zu ergötzen, so fehlt in ihr nichts von dem, was nützlich ist, um den Menschen jederzeit zur Vervollkommnung des politischen Lebens anzuleiten […] [und die Tora zeigt uns den Weg], den wir gehen müssen und was wir tun müssen, um im Schatten der Weisheit vor dem Frevel der Weltvölker verschont zu bleiben« (Shilte ha-Gibborim, Kap. 41).
Daraus folgte für P., daß die jüdische Tradition jeder anderen Kultur überlegen sei, weil die Juden die ursprünglichen und legitimen Bewahrer der Bibel seien. Demzufolge bilden die Shilte ha-Gibborim, nach der Auffassung ihres Autors, das ideale Muster des Wissens und das ideale Curriculum für die Bildung eines frommen Juden.
Werke:
- Die Heldenschilde, übers. und komment. von G. Miletto, Frankfurt a.M. 2003. –
Literatur:
- S. Simonsohn, History of the Jews in the Duchy of Mantua, Jerusalem 1977, 584, 637–638, 642–648.
- V. Colorni, Note per la biografia di alcuni dotti ebrei vissuti a Mantova nel secolo XV, in: G. Busi (Hg.), We-zo’t le-Angelo. Raccolta di studi giudaici in memoria di Angelo Vivian, Bologna 1993, 189–198.
- P. Guetta, A.P. from Science to Mysticism, in: J. Targarona Borrás and P. Sáenz-Badillos (Hg.), Jewish Studies at the Turn of the Twentieth Century. Proceedings of the 6th EAJS Congress Toledo July 1998, Bd. 2, Leiden 1999, 40–47.
- G. Miletto, Die Bibel als ›Kriegshandbuch‹ nach einer Interpretation von A.P., in: G. Veltri und P. Winkelmann (Hg.), Juden in der Renaissance. Beiträge zur Geschichte und Literatur der Juden im 16. Jahrhundert, Leiden 2003.
Gianfranco Miletto
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