Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Abraham Kohen de Herrera
(Alonso Nuñez de Herrera)
Geb. ca. 1562; gest. 1635
Am Beginn der Ausbreitung lurianischer Kabbala machte ihre neuplatonische Interpretation in Europa Schule. Neben Israel Saruq und Joseph Delmedigo war A. der wichtigste Vertreter einer philosophischen Darstellung der Kabbala in der frühen Neuzeit. Seine beiden Hauptwerke, Puerta del cielo und Casa de la divinidad (nach Gen 28, 27: »ein Haus Gottes und die Pforte des Himmels«), sind die einzigen kabbalistischen Schriften, die auf Spanisch verfaßt wurden. Zwanzig Jahre nach A.s Tod wurden sie von Isaak Aboab da Fonseca mit Kürzungen ins Hebräische übersetzt und gedruckt. Diese Version diente Christian Knorr von Rosenroth als Grundlage einer ausgewählten lateinischen Übertragung (Porta coelorum) in seinem umfangreichen Kompendium Kabbala Denudata (1677–84) und fand auf dem Hintergrund des sog. Pantheismusstreits weite Verbreitung unter christlichen Gelehrten, die sich auf die lateinische Fassung der »Himmelspforte« als Synthese einer mystischen Theologie des Judentums beriefen und diese als »Höllenpforte« (J. Reimmann) und Weg in den Atheismus verdammten. Initiiert wurde die Kontroverse von J. G. Wachter, der den vermeintlichen Pantheismus in der Philosophie Spinozas auf die kabbalistischen Lehren aus der Porta coelorum zurückführte (Der Spinozismus im Jüdenthumb, Amsterdam 1699). Nach J. F. Buddes Kritik an dieser Gleichsetzung vollzog Wachter eine Revision seiner Polemik und veröffentlichte 1706 den Elucidarius cabalisticus, in dem er Spinozas Metaphysik in einer aus christlicher Sicht positiven Weise aus der Kabbala deduzierte: Beide lehren einen spiritualistischen Monismus und haben das neuplatonische Emanationsmodell übernommen. Wachters Versuch einer Rehabilitation der spinozistischen Philosophie durch seine christliche Interpretation von Porta coelorum stieß zwar auf Ablehnung, belebte aber die Spinoza-Debatte (G. W. Leibniz, Réfutation inédite de Spinoza). Noch M. Mendelssohn, in dessen Bibliothek der Elucidarius ebenfalls vorhanden war, hielt in seinen Ausführungen zu Lessings »Das Christentum der Vernunft« gegenüber F. H. Jacobi trotz aller »kabbalistischen Schwärmerei« einen »geläuterten Spinozismus« für möglich (W. Schröder). Obwohl nicht nachweisbar ist, daß Spinoza tatsächlich H. gelesen hat, ebnete Wachters ambivalente Rezeption der Porta coelorum den Weg für eine Identifizierung kabbalistischer mit spinozistischen Thesen. Daß »Kabbala nichts als erweiterter Spinozismus« sei, postulierte interessanterweise auch S. Maimon, der im Unterschied zu Wachter durchaus mit hebräischen kabbalistischen Quellen vertraut war.
Geburtsort und -jahr von Alonso Nuñez de Herrera, wie A.s nichtjüdischer Name lautete, sind unbekannt. A. stammte aus einer Familie spanischer Conversos, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Florenz übersiedelte und sich dort wieder zum Judentum bekannte. Die Herkunft seines Vaters, David Cohen, war nach A.s Angaben Córdoba. Ein panegyrisches Gedicht von Daniel Levi de Barrios preist A. als Nachfahren von Gonzalo Fernández de Córdoba, dem Gran Capitan Philips II. und Vizekönig von Neapel. Die umfangreiche Kenntnis von nichtjüdischer theologischer und philosophischer Literatur, die A. in seinen Werken unter Beweis stellt, läßt vermuten, daß er eine christliche Ausbildung erhielt. Die erste dokumentierte Station seines Lebens ist eine Geschäftsreise, die ihn zuerst zu seinem Onkel Juan de Marchena, dem Handelsagenten des Sultans von Marokko, und danach ins südspanische Cádiz führte. Während seines Aufenthaltes fiel die englische Flotte unter Robert Devereux, Lord von Essex, am 3. Juni 1596 in die Stadt ein, und A. wurde nach Ware in der Nähe von London in vierjährige Gefangenschaft gebracht. Um 1600 heiratete er seine Cousine Sara, 1617 wird er in Inquisitionsakten als Mitglied der jüdischen Gemeinde von Hamburg aufgeführt und ab 1620 in den Amsterdamer Steuerlisten der Gemeinde Neweh Shalom erwähnt. Die hebräisch-portugiesische Inschrift auf seinem Grab in Ouderkerk gibt als Todesdatum den 16. Shevat 5395 (4.2.1635) an.
Den Zugang zur lurianischen Kabbala verdankte A. nach eigener Aussage seinem Lehrer Israel Saruq, von dem er in Ragusa (Dubrovnik) mündlich unterwiesen wurde und bei dem er auch die Schriften von Chajim Vital studierte. Für die Vereinbarkeit von philosophischer mit kabbalistischer Wahrheit beruft sich A. auf Moshe Cordovero. Trotz zahlreicher Zitate aus dem Sefer Jeẓirah, kabbalistischer Literatur von Azriel von Gerona bis Chajim Vital und jüdischen Philosophen wie Maimonides, Joseph Albo und Leone Ebreo überwiegen die Verweise auf nichtjüdische Autoren von Platon und Aristoteles über Ibn Sīnā und Thomas von Aquin bis zu Francisco Suarez und Torquato Tasso. Deutlich im Vordergrund steht dabei seine Rezeption italienischer Renaissance-Philosophie (Marsilio Ficino, Pico della Mirandola). A. übernahm die Idee einer Prisca theologia, die über den Patriarchen Abraham zu den heidnischen Philosophen gelangte und – im Unterschied zu Ficinos Vorstellung – nicht in christlichen Lehren gipfelte, sondern in der Kabbala. Platonische Philosophie kann »con poca mudança« in die hebräische Wahrheit verwandelt werden, die auf umfassende Weise in den Systemen von Moshe Cordovero und Isaak Luria zum Ausdruck kam. Nach A. gibt es keinen Widerspruch zwischen Cordoveros System und der lurianischen Kabbala, beide ergänzen sich vielmehr. Die Vernunft gewährt den Menschen Zugang zur philosophischen und mystischen Wahrheit und verpflichtet sie zu einem religiösen Leben. Dieser intellektuelle Ausgangspunkt bestimmt auch A.s Interpretation kabbalistischer Schriften. Die mythische Beschreibung des lurianischen Schöpfungsdramas wird von A. nicht wörtlich genommen: Die »Selbstverschränkung Gottes« (zimzum) ist ein ontologischer Begriff, der den Übergang der unendlichen ersten Ursache in eine endliche Seinsstufe markiert. Die anthropomorphe Lichtgestalt des »Urmenschen« (adam qadmon) der lurianischen Kabbala deutet A. mit Hilfe einer Wendung aus einer späten Schrift des Buches Sohar (Tiqqune Zohar) als »Ursache der Ursachen«, die von der »Ursache aller Ursachen« zu unterscheiden sei. In der neuplatonischen Tradition findet A. hier eine Entsprechung zu dem Verhältnis zwischen dem transzendenten Einen und der Hypostase Geist (nous). Er zitiert aus Pico della Mirandolas Kommentar zu Girolamo Benivienis Canzona d’amore den neuplatonischen Grundsatz, daß »aus einer äußerst vollkommenen Ursache nichts hervorgehen kann als eine äußerst vollkommene Wirkung«. Die lurianische Vorstellung von adam qadmon ist gleichbedeutend mit der intelligiblen Welt der platonischen Ideen, der ersten Emanation bei Plotin, die als Erstverursachtes alle weiteren Ursachen beinhaltet. Diese philosophische Interpretation kabbalistischer Symbole ist nach G. Scholem ein neuer und für A. spezifischer Beitrag zur Geschichte der jüdischen Mystik.
Puerta del cielo und Casa de la divinidad wurden zwischen 1620 und 1632 in Amsterdam verfaßt. Beide Werke verweisen aufeinander und ergänzen sich. Letzteres präsentiert in sieben Büchern (entsprechend den sieben Pforten der Heiligkeit) A.s kabbalistische Weltanschauung in aufsteigender Richtung und beginnt mit der untersten der vier Welten, die als Erde geschaffen wurde (‘olam ha-‘asijjah). Danach folgen die Welt der zehn Engelklassen (‘olam ha-Jeẓirah) und der Bereich des himmlischen Throns (‘olam ha-beriah). Diese drei Welten haben nach A. eine Analogie in der plotinischen Vorstellung von der Weltseele (anima mundi), wobei eine Abstufung in der Seinshierarchie zwischen der irdischen und den immateriellen Welten impliziert wird. In diesem Zusammenhang behandelt A. auch die lurianische Seelenlehre und versucht kabbalistische und philosophische Erklärungen der Prophetie zu harmonisieren, indem er sie als höchsten Grad des menschlichen Geistes beschreibt, der allein durch den göttlichen Willen gewährt wird. In seinem bekannteren Werk Puerta del cielo beginnt A. dagegen, die darin enthaltenen zehn Bücher (entsprechend den zehn Sefirot) in einer absteigenden Anordnung mit der ersten Ursache, die er dem kabbalistischen Begriff für die unendliche und transzendente Gottheit, En Sof, gleichsetzt. Daraus geht nach A.s neuplatonischer Argumentation adam qadmon als einzige vollkommene Wirkung hervor (»un solo perfectissimo effecto«), die mit der ersten Materie und ersten Form bei Platon korrespondiert, aus kabbalistischer Sicht aber mit dem Tetragrammaton identisch ist und die oberste Welt der Sefirot bzw. Welt der Emanation (‘olam ha-aẓilut) enthält. Der adam qadmon selbst repräsentiert wie bei Isaak Luria eine fünfte Welt, die A. mit der »höchsten Krone« und dem »höchsten Denken« (»la altissima mahassaba [mache shavah] «) in der älteren Kabbala gleichsetzt. Die zehn Sefirot charakterisiert A. mit Rekurs auf Proklus’ Schrift Elemente der Theologie als begrenzte, sekundäre Gottheiten (»deydades limitadas y segundas«) und in sich vollkommene Henaden (»unidades«). Ihre Entstehung verdanken sie dem göttlichen »Entzücken« (sha‘shua‘), einer erotischen Bewegung, die zur »Schwangerschaft« und der »Geburt« des Endlichen aus dem Unendlichen führt. Diesen dynamischen Vorgang in der lurianischen Kabbala bezeichnet A. als »movimiento metaphorico«, der analog zu dem intellektuellen Prozeß des Hervorgehens von Wirkungen aus der Ersten Ursache bei Moshe Cordovero zu verstehen sei. Auch andere mythische Beschreibungen im lurianischen Schöpfungsdrama wie der »Tod der Könige« bzw. der »Bruch der Gefäße« und der Restitutionsprozeß (tiqqun) werden von A. metaphorisch erklärt. Ersteres vergleicht er mit dem platonischen Mythos vom »Fall« der Seele in den Körper, letzteres mit der Rückkehr des Intellekts zu seiner ursprünglichen Vollkommenheit. Obwohl sich A. der ganzen Bandbreite lurianischer Begrifflichkeit bedient, ist es gerade seine Interpretation der dramatischen mythologischen Ereignisse als intellektuelle Prozesse, die ihm eine Synthese disparater kabbalistischer und philosophischer Systeme erlaubt. Seine eigenwillige Interpretation legitimierte A. mit dem Hinweis, daß er selbst Empfänger der mündlichen Tradition bei Israel Saruq war und durch seine Initiation nicht nur Zugang zur »verdadera reception« erhielt, sondern selbst Teil der kabbalistischen Überlieferungskette wurde (A. Altmann).
Die gekürzte und unzureichende hebräische Übersetzung von A.s kabbalistischen Werken, in der nichtjüdische Autoren nur eingeschränkt wiedergegeben wurden, führte zu einer einseitigen Rezeption, die A.s Versuch einer Harmonisierung zwischen Philosophie und Kabbala unter der Prämisse einer jüdischen Prisca theologia nicht gerecht wurde. A. wird als kabbalistische Autorität von Isaak Aboab da Fonseca in seiner Kontroverse mit Sha’ul Morteira über die Ewigkeit der Höllenstrafe angeführt und gilt als Begründer der metaphorischen Exegese lurianischer Kabbala (N. Yosha). A.s Adressaten waren ehemalige Conversos, die noch fest in der zeitgenössischen Kultur des spanischen Siglo de Oro verankert waren, aber »keine – oder nur oberflächliche und nebulöse – Vorstellungen von der wahren Theologie und hebräischen mystischen Tradition« hatten. Im Prolog seiner einzigen gedruckten Schrift, die zwei zusammengebundene spanische Bücher über Logik enthält (Epitome y compendio de la logica o dialectica und Libro de diffiniciones, o.J.) trägt A. der Bedeutung profaner Bildung Rechnung: Sein »Organon« betrachtet er als Voraussetzung zur Erkenntnis der kabbalistischen Wahrheit, da Logik oder Dialektik die Unterscheidung zwischen wahr und falsch lehrt und so der intellektuellen Vervollkommnung dient.
Werke:
- Epitome y compendio de la logica o dialectica, G. Saccaro del Buffa (Hg.), Bologna 2002 (enthält auch Libro de diffiniciones).
- Gate of Heaven, übers. K. Krabbenhoft, Leiden 2002.
- House of Divinity/Gate of Heaven, übers. N. Yosha (hebr.), Jerusalem 2002.
- Das Buch Sha‘ar ha-Shamajjim oder Pforte des Himmels, aus dem Lateinischen übers. F. Häußermann, Einleitung v. G. Scholem. –
Literatur:
- A. Altmann, Lurianic Kabbala in a Platonic Key: A.s Puerta del cielo, HUCA 53 (1982), 317–155.
- K. Krabbenhoft, The Mystic in Tradition: A. and Platonic Theology, Ann Arbor 1982.
- N. Yosha, Myth and Metaphor. A.s Philosophic Interpretation of Lurianic Kabbalah (hebr.), Jerusalem 1994.
- J. G. Wachter, De primordiis Christianae religionis, Elucidarius cabalisticus, Origines juris naturalis, W. Schröder (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1995.
Gerold Necker
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