Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Azarja de’ Rossi
(Azarja ben Moshe min ha-Adummim, Buon’aiuto de’ Rossi)
Geb. ca. 1514 in Mantua; gest. 1578 ebenda
Der Mantuaner A. verkörpert die Aporie des jüdischen Wissenschaftlers, der sich zwischen der normativen und autoritativen jüdischen Tradition und dem historisch-philosophischen Bewußtsein seiner christlichen gelehrten Zeitgenossen bewegt. Ein ungeheures Wissen und eine breite Gelehrsamkeit lassen sich in seinem Hauptwerk Me’or ‘Enajim (»Sehkraft« oder »Erleuchtung der Augen/Aufklärung«, Mantua 1573–75) bewundern, an welchem er erst im Alter von sechzig Jahren zu arbeiten begann. Die Liste der von ihm zitierten heidnischen, christlichen, jüdisch-hellenistischen, rabbinischen und jüdisch-mittelalterlichen Autoren ist ebenso imponierend wie die seiner eigenen auf Hebräisch, Aramäisch, Lateinisch und Italienisch verfaßten Schriften.
Über sein Leben wissen wir kaum etwas. Seine Familie führte ihre Genealogie bis in die Antike zurück. Er dürfte wohlhabend gewesen sei, soweit man dies aus dem Umfang seiner Bibliothek schließen kann. A. lebte in Venedig, Ancona und Bologna. Nach der Vertreibung der Juden aus dem Kirchenstaat 1569 kraft eines Dekrets Pius V. zog er nach Ferrara. Hier erlebte er das Erdbeben des 18. Novembers 1570, ein Ereignis, das ihn seiner eigenen Aussage zufolge zu seiner literarischen Tätigkeit anregte. Der Bericht über das Erdbeben bildet in der Tat die erste Schrift des Me’or ‘Enajim, die er mit pythagoräischen Anklängen Qol Elohim (»Gottes Stimme«) betitelte. Während dieser angsterfüllten Tage habe ihn ein befreundeter gelehrter Christ nach einer hebräischen Version des sog. Aristeasbriefes gefragt. Über A.s negativen Bescheid erstaunt, habe dieser Freund ihn dazu veranlaßt, die Aristeasschrift, auch als Ablenkung vor jenem Schrecken, ins Hebräische zu übersetzen. A. vollendete die Übersetzung, der die lateinische Version des Garbitius zugrunde lag, in zwanzig Tagen und fügte sie unter dem Titel Hadrat Zeqenim (»Der Glanz der Ältesten«) seinem Werk bei.
Daß das Erdbeben von Ferrara für A.s Begegnung mit Aristeas den Ausschlag gegeben habe, darf bezweifelt werden. Seine Kenntnis der Schrift und der jüdisch-hellenistischen Umwelt Alexandriens ist zu umfangreich und genau, als daß man nicht eine langjährige Beschäftigung mit dem Stoff voraussetzen müßte. Die Schilderung der Reaktion des christlichen Freundes auf die jüdische Nichtbeachtung dieser Schrift darf aber zum Verständnis der literarischen Absichten A.s nicht unterschätzt werden: »Er wunderte sich, wie solche Ehre Israel verlassen konnte, das durch ihn [den Aristeasbrief] zu Recht hohes Ansehen genießen könnte.« Dieses Zitat enthält in nuce die Intention, die hinter A.s Werk steht: die Wiederherstellung eines historischen Glanzes, der bereits in der Antike von Israel gewichen sei. So dient der Aristeasbrief A. als Anlaß, anhand eines Beispiels – der vortrefflichen Übersetzung der Tora ins Griechische – die Weisheit Israels im allgemeinen hervorzuheben, was im übrigen bereits das Ziel der hellenistischen Schrift gewesen war.
Das Werk Me’or ‘Enajim ist kein zusammenhängender Traktat, sondern hat vielmehr die Form einer Essaysammlung, in der A. sich in verschiedenen Gattungen mittelalterlicher und humanistischer Provenienz versucht. Nach der Schilderung des Erdbebens und im Anschluß an die lateinische Übersetzung des Aristeasbriefes folgt der umfangreichste Teil des Werks, das Korpus, das er mit dem Titel Imre Binah (»Sprüche der Einsicht«) versieht. Zu Anfang dieser Abhandlung beschäftigt er sich mit der Frage, weshalb man außerjüdische Autoren zur Beweisführung, in manchen Fällen sogar zur Widerlegung jüdischer Quellen heranziehen könne. Es folgt die Auseinandersetzung mit dem Oeuvre Philons (Imre Binah, Kap. 3–6). Sein Interesse kehrt im darauffolgenden Essay zum Problem der Bibelübersetzungen zurück (Imre Binah, Kap. 7–9). Darüber hinaus widmet er fünf Kapitel der Frage nach der Form der priesterlichen Bekleidung und sechs Kapitel Varia wie hebräische Sprache, Alphabet und Pijjut. Der größte Teil ist jedoch dem Problem der jüdischen Chronologie gewidmet. Er umfaßt gut sechzehn Kapitel (Kap. 29–44) und wurde im jüdischen Milieu wegen der gewagten These über die historische Irrelevanz der Aggada zum Stein des Anstoßes. Zweifelsohne wegen der Bedeutung der Chronologie für die christliche Gelehrsamkeit übersetzte A. das Kap. 35 ins Italienische. Als Antwort auf die darauf folgende Kritik schrieb er die kleinen Traktate Maẓref la-Kesef (»Silberläuterung«) und Ẓedeq ‘Olamim (»ewige Gerechtigkeit«), die zu seinen Lebzeiten nicht erschienen sind.
A.s Werk erhebt nicht den Anspruch, historische Zusammenhänge nach Ciceros Prinzip der »historia magistra vitae« zu beleuchten, wie dies bei Bruni, Guicciardini und Machiavelli der Fall ist. Denn die überlieferte Halacha ist für A. die höchste und unanfechtbare ethische Instanz. Ihm zufolge gibt es keinen Fortschritt in der Halacha. Sie wurde auf dem Sinai einmal und für alle Zeiten gegeben. Auf der anderen Seite läßt sich das Werk A.s kaum als »historia« im klassischen Sinn einstufen, weil die »narratio« der Ereignisse fehlt. Selbst die »Erzählung« über das Erdbeben von Ferrara dient vor allem als Aufhänger für Ausführungen zu Erdbeben in den heiligen Schriften, in der rabbinischen Literatur und in der klassischen Welt und nicht zuletzt auch dafür, dem Leser einen plausiblen Anlaß für A.s literarische Tätigkeit zu liefern. Im Vergleich zu den anderen jüdischen Historiographen seiner Epoche vermißt man bei A. nicht nur die Beschäftigung mit der eigenen Gegenwart, sondern auch – was ebenso bemerkenswert ist – das Eingehen auf das Ereignis, das das Leben des europäischen Judentums tiefgreifend geprägt hatte: die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. A.s Werk zeichnet sich durch zwei Charakteristiken aus: die ausgiebige Verwendung außerjüdischer (bzw. jüdisch-hellenistischer) Literatur und die Unbefangenheit, mit der er sie sowohl als Bestätigung als auch zur Widerlegung rabbinischer Daten und Erzählungen einsetzt. Diese Quellen dürfen allerdings keine polemische Absicht verfolgen, und das Thema darf nicht das Wesen der Tora betreffen.
A.s Bemühen blieb fast ohne Wirkung. Die politische und ideologische Macht der Gegenreformation und die Verbreitung der lurianischen Kabbala – beide Phänomene einer Rückzugsmentalität – haben dazu geführt, die Neuheit seines Ansatzes vergessen zu lassen. Es gab keinen Raum mehr für die Auseinandersetzung zwischen dem philosophisch-historischen Bewußtsein und der normativen Tradition. Seine Theorie der Bibelübersetzungen sollte erst bei Moses Mendelssohn, die Rezeption Philons erst im 19. Jahrhundert in der Wissenschaft des Judentums wieder aufgenommen werden, als die Geschichte auch im jüdischen Verständnis zu einem Wert geworden war und das wissenschaftliche, philologische und historische Studium der jüdischen Tradition der Antike als Ausdruck der Emanzipation betrachtet wurde.
Werke:
- Sefer Me’or ‘Enayim, 3 Bde., hg. D. Cassel, Wilna 1864–1866 (Nd. Jerusalem 1970).
- The Light of the Eyes, übers. J. Weinberg, Yale University Press, New Haven 2001. –
Literatur:
- J. Weinberg, A.: Towards a Reappraisal of the Last Years of his Life, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa 8 (1978), 493–511.
- J. Weinberg, The Me’or ‘Enayim of A.: A Critical Study and Selected Translations, Diss. London 1982.
- L. A. Segal, Historical Consciousness and Religious Tradition in A.s Me’or ‘Enayim, Philadelphia 1989.
- J. Weinberg, A. and the Forgeries of Annius of Viterbo, in: D. Ruderman (Hg.), Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, New York 1992, 252–279.
- G. Veltri, The Humanist Sense of History and the Jewish Idea of Tradition: A.s Critique of Philo Alexandrinus, in: JSQ 2 (1995), 372–393.
Giuseppe Veltri
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