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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Benzion Kellermann

Geb. 11.12.1869 in Gerolzhofen (Oberfranken); gest. 29.6.1923 in Berlin

Zu Recht erinnert man sich des seit 1917 in Berlin amtierenden Rabbiners und Philosophen K. im Zusammenhang mit Hermann Cohen. Bei ihm hat er in Marburg studiert und mit ihm bis zu dessen Tod 1918 engen freundschaftlichen Kontakt gepflegt. Bereits 1901 war er als Lehrer an die jüdische Knabenschule in Berlin gegangen. Zusammen mit Ernst Cassirer und anderen gab er eine vielbeachtete Kant-Ausgabe heraus. Neben Ismar Elbogen und Eugen Mittwoch war K. für die Festschrift Judaica (1912) zu Cohens 70. Geburtstag als Herausgeber verantwortlich. Sein dort enthaltener Aufsatz »Die philosophische Begründung des Judentums« ist ganz und gar Cohens Denken verpflichtet. Dessen Religionsphilosophie hat er in der anläßlich von Cohens Tod erschienenen Sondernummer der Jüdischen Monatshefte 1918 weitgehend zustimmend referiert, auch wenn er sich später von manchen Ansichten Cohens emanzipiert hat. Durch den frühzeitigen Tod K.s konnte Cohens Wunsch, er möge die Einführung in seine geplanten Jüdischen Schriften schreiben, nicht in Erfüllung gehen.

Ein in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums erschienener Beitrag über »Universalistisches und partikularistisches Judentum« (1911) zeigt einen an den Erkenntnissen der protestantischen Bibelkritik und dem kritischen Idealismus Marburger Herkunft geschulten Denker. Daß K.s Judentum sich den durch die Forschungen von Wellhausen und anderen vorgelegten historischen und philologisch-systematischen Erkenntnissen verpflichtet fühlte, hat er bereits 1898 in derselben Zeitung in einer scharfen Kritik an dem bedeutendsten jüdischen Bibelexegeten des 20. Jahrhunderts, Benno Jacob, gezeigt. Dessen Festhalten an dem massoretischen Text vereitle die Wahrnehmung, daß die Septuaginta ein hervorragendes Beispiel »jüdischer Geistesarbeit« sei. Jacob treibe »Tendenzforschung«, die versuche, den »heute von jedem besonnenen Bibelforscher rückhaltlos« anerkannten »Universalismus der Propheten« in Zweifel zu ziehen.

Für K. bestand das Judentum aus drei zentralen Motiven. Die Kritik der biblischen Propheten verpflichte zur steten Bewahrung der »universalistischen Allheit« des Judentums. Daraus folgte für K. eine Ethik, die zwar den Einzelnen in ihren Mittelpunkt stellt, jedoch gleichzeitig jede partikularistische Eintrübung des Universalismus zurückweist. Die Ethik setzt also eine Anthropologie voraus, in der das Individuum nur Beispiel ist. Lediglich das Ideal der Menschheit muß stets den hohen Anforderungen des Sittlichen genügen. Schließlich habe das Judentum nach K. über die »Reinheit der Gottesidee« zu wachen. Nur so kann für ihn das Judentum seine eigene historische Kontinuität wahren und gleichzeitig als Vorbild für die Menschheit wirken.

K. hat den »Glauben an die Erfüllbarkeit der Ethik auf Erden«, und die aus diesem Anspruch hervorgehende »Humanisierung« oft begründet und verteidigt. So in einem Berliner Vortrag, der den Zusammenhang zwischen liberalem Judentum und den prophetischen Schriften akzentuierte (Liberales Judentum, 1907). In seiner Schrift Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion (1908) trat er mit den philosophischen Instrumentarien des kritischen Idealismus für seine Sicht des Judentums entschieden ein und nahm sie 1917 in der mehr zitierten als verstandenen Streitschrift gegen Ernst Troeltsch (Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung) von neuem in Schutz. Für K. war klar: Weil die jüdische Literatur für die »meisten nichtjüdischen Forscher […] ein Buch mit sieben Siegeln« sei, bleibe ihnen die Kernaussage des Alten Testaments verborgen, nämlich die »Gleichheit aller Menschen«.

Doch K.s komplexes Verständnis des Judentums wäre entschieden verkürzt dargestellt, wenn man es auf Cohen und die Apologetik des Judentums reduzierte. In seiner zweibändigen kommentierten Ausgabe von Lewi ben Gershoms Die Kämpfe Gottes (1914/16) vertrat K. die Auffassung von der Notwendigkeit, die Geschichte des modernen Judentums bis ins Mittelalter zu verlängern. Wenn man die bei Maimonides und Gersonides zu findenden Gedankenmotive systematisiere und damit sichere, könne man sie als wesentlichen Teil der »allgemeinen kulturellen Entwicklung« begreifen. Dies gelte ausdrücklich auch vor dem Hintergrund einer Auffassung wie der Cassirers, auf den sich K. stets berief, daß das moderne Denken erst mit Cusanus beginne. K. sah Philosophie und Kultur in dem von ihm edierten Text ständig ineinandergreifen, wodurch für ihn der Nachweis der Modernität dieses mittelalterlichen Textes erbracht war.

In seinem systematischen Hauptwerk Das Ideal im System der Kantischen Philosophie (1920) findet sich die philosophische Ausformulierung der korrelativen Beziehung zwischen Kultur und Philosophie. Ihr Ergebnis ist ein Verständnis von »Einheit«, das das »allgemeine Hinneigen aller Erkenntnisgegenstände zum Sittlichen als oberstem Leitprinzip aller Forschung und damit allen Seins« zum Ausdruck bringt. K. ging es folglich darum nachzuweisen, daß der Primat des Ethischen im Judentum eine ebenso religiöse wie auch philosophische und das heißt letztlich kulturelle Einsicht sei, denn diese ist bestimmend für das zu schaffende allgemeine »Kulturbewusstsein«. K. sah daher Kant aus »rein systematischen Interessen« für den Abschluß seines Denkens ins »religiöse Gebiet« einbiegen und wertete dies als Nachweis dafür, daß eine jüdische Religionsphilosophie bei aller notwendigen Kritik an Kant aus systematischen Gründen und nicht aus Sympathie bei diesem ansetzen muß. Damit radikalisierte K. Cohen, von dessen Begriff des »Ideals« er sich wiederholt scharf abgesetzt hat. Denn im Gegensatz zu seinem Lehrer sieht K. keine Identität zwischen ethischer Maxime und dem Ideal vom höchsten Gut. Erst wenn das Ideal als rein ethischer Begriff verstanden wird, ist er nach K. in der Lage, den »Übergang zwischen Idee und Wirklichkeit« zu schaffen.

In K.s großem, auf zwei Bände angelegten Kommentar zu Spinozas Ethik (Die Ethik Spinozas. Über Gott und Geist, 1922) sah er für die Rezeption Spinozas die entscheidende Frage darin, inwieweit jener einen Beitrag zum »kritischen und kritizistischen Denken« liefern konnte oder ob er sich davon entfernte. K. interessierte sich hier nicht für die Haltung Spinozas gegenüber der Bibelwissenschaft, wie es Cohen tat, sondern für den systematischen Gehalt in Spinozas Ethik. K.s immanente Lektüre, die als zweites Erkenntnisziel die grundsätzliche Möglichkeit einer kantianischen – gemäß der erwähnten Kant-Deutung K.s – Lesart Spinozas prüfte, griff dabei auf die oben gegebene ethische Darstellung von K.s Sicht des Judentums zurück. Spinoza fand dabei natürlich nur begrenzt Gnade vor dem Religionsphilosophen, während der Philosoph dessen »Axiomen« durchaus einiges abgewinnen könne.

K.s eigenständiges Denken wird häufig durch die verwendete Begrifflichkeit verdeckt. An seiner engen Anlehnung an Cohens Verständnis bestimmter Begriffe kann gar kein Zweifel bestehen, doch vor allem seine späten Schriften zeigen eine deutliche Emanzipation von den erkenntnistheoretischen Prämissen der Marburger Neukantianer. K.s Denken zeigt eine Tendenz, die mit »Zurück zu Kant« am besten umschrieben werden kann. Zwar liegen zu K.s Werk zahlreiche Rezensionen vor, jedoch außer einigen Nachrufen fehlt eine umfassende Würdigung seines Schaffens.

Werke:

  • Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion, Berlin 1908.
  • Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Berlin 1917 (Nd. Berlin 1971).
  • Das Ideal im System der Kantischen Philosophie, Berlin 1920.
  • Die Ethik Spinozas. Über Gott und Geist, Berlin 1922. –

Literatur:

  • A. Baeumler, Kritizismus und Kulturphilosophie, in: Kant-Studien XXV (1920), 411–426.
  • A. Liebert, B.K.†, in: Kant-Studien XXVIII (1923), 486–490.

Thomas Meyer

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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