Direkt zum Inhalt

Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Chajim Schitlowski

(Ben Ehud, Y. Chassin)

Geb. 19.4.1865 in Uschatschi, Witebsker

Gubernie (Weissrußland); gest. 6.5.1943 in New York

Als einer der wichtigsten Politiker, Denker, Schriftsteller und Literaturkritiker in der Welt des osteuropäischen Judentums vertrat Sch., obwohl seine intellektuelle Laufbahn nicht unbedingt gradlinig verlief, unentwegt das Ideal einer Synthese zwischen jüdischem Diaspora-Nationalismus und Sozialismus. Aus einer traditionellen jüdischen Familie stammend, schwärmte er gemeinsam mit seinem Jugendfreund S. An-ski für den russischen Populismus der Narodniki, bis ihn die grausamen Pogrome ab 1881 besonders auf die Verteidigung der Juden und ihrer Kultur im zaristischen Rußland lenkten. In den 1880er Jahren stand er unter dem Einfluß der Choveve Zion (»Liebhaber von Zion«) und des Ideals der Ansiedlung der Juden in der Landwirtschaft, aber er übertrug diese Ideen auf die Länder des Exils. Er studierte ab 1886 jüdische Geschichte bei Harkavy in St. Petersburg, weiter ab 1888 Philosophie in Zürich, und promovierte 1892 an der Universität Bern über Abraham ibn Da’ud und der Anfang der aristotelischen Periode in der jüdischen Religions-Philosophie, wobei ihn besonders die Verschmelzung jüdischer und abendländischer Gedanken interessierte.

In seinem programmatischen Essay Evrei ke-Evreiam (hebr.: ʽIvri keIvriam oder »Ein Jude zu den Juden«, 1892) ruft er die jüdische Intelligenz zur Rückkehr zum Volk auf, dies in einem nationalen, aber auch sozialen Sinne. Als Mitbegründer der russischen Sozialistischen Revolutionären (SR) veröffentlichte er zahlreiche Abhandlungen auf Deutsch und Russisch, u.a. in den Beiträgen zur Geschichte und Kritik des Marxismus und in Pernerstorfers Deutschen Worten, in den Sozialistischen Monatsheften wie auch in den Zeitschriften Russkii rabotshii (»Der russische Arbeiter«) und Nakanune (»Am Vorabend«). In seinem Essay Tsyonizmus oder Sotsyalizmus (1898) vertritt er als erster in der jüdischen Welt die These, daß die Ideale des Sozialismus und die der jüdischen Nationalismus-Bewegung nicht antagonistisch, sondern im Gegenteil vereinbar seien. Sehr früh setzte er sich für die Entwicklung und Verteidigung der jiddischen Sprache und Kultur ein, zum Beispiel in seinem Aufsatz »Farvos davke yidish?« (»Warum gerade Jiddisch?«, geschrieben 1896, veröffentlicht 1900) und gründete 1896 in Berlin den Verlag »Zeitgeist« mit, der sozialistische Literatur in jiddischer Sprache verbreiten sollte. Unmittelbar nach dem ersten Zionistischen Kongreß 1897 in Basel veranstaltete er ein Alternativtreffen, bei welchem er auf die assimilierende Wirkung des Zionismus hinwies und zum ersten Mal die Thesen des »Jiddischismus« vertrat – der Jiddischismus begründet die Identität der aschkenasischen Juden auf der jiddischen Sprache und der ostjüdischen Kultur. 1903, nach dem Kischinewer Pogrom, verschrieb er sich dem Territorialismus, einer Theorie, die die Antwort auf die grausamen antisemitischen Exzesse in einer raschen Ansiedlung der bedrohten jüdischen Bevölkerung auf einem beliebigen Territorium sah und die hauptsächlich von Israel Zangwill vertreten wurde. Ausgehend davon entwickelte er seine eigenen Theorien als Synthese von Sozialismus und Nationalismus, von Autonomismus (jüdische Eigenbestimmung und Selbstverwaltung in der Diaspora) und Territorialismus.

1905 wurde er in die zweite russische Duma gewählt, war aber auch vielfach im Ausland, mußte er doch in Rußland als bekannter sozialistischer Aktivist in den Untergrund gehen, und unterwegs auf politischen Tourneen als Vertreter der Parteien SR, SERP (Jüdische Sozialistische Arbeiter Partei oder Sejmisten) und SS (Zionistische Sozialisten oder Territorialisten) in Amerika, Galizien, Bukowina, Finnland und sogar in Israel, wo ihm allerdings von den radikalen Zionisten verwehrt wurde, seine Referate zu halten. Tatsächlich erstrebte er eine Vereinigung dieser verschiedenen jüdisch-sozialistischen Parteien. Diese Koalition vertrat er auf dem internationalen sozialistischen Kongreß in Stuttgart 1907. 1908 emigrierte er in die USA, wo er die wichtige politisch-kulturelle jiddische Zeitschrift Dos naye lebn (»Das neue Leben«) gründete, eine »literarisch-wissenschaftliche Monatsschrift«, und als Journalist und Herausgeber weiter arbeitete. Als Verteidiger eines »Sprachnationalismus« war er eine der Leitfiguren auf dem Czernowitzer Kongreß der Jiddischisten 1908, der die Entwicklung jiddischer Publizistik, Presse, eines jiddischen Schul- und Erziehungswesens und jiddischer Sprach- und Literaturforschung förderte. 1911 erschien seine Arbeit Di natsyonal-poetishe vidergeburt fun der yidisher religye (»Die national-poetische Wiedergeburt der jüdischen Religion«), in der er für eine Säkularisierung und Nationalisierung der jüdischen Religion und für das Fortsetzen und die Modernisierung der jüdischen Kultur eintritt, eine Entwicklung, die tatsächlich weitgehend in der Diaspora stattfand, sowie in Israel mit dem Erscheinen einer vom Staat selbst unterstützten und entwickelten »zivilen Religion«.

Während des Ersten Weltkrieges vertrat Sch. die neutralistische Position, während die meisten Juden pro Deutschland waren. 1922 nahm er mit Shmuel Niger die kurz vor dem Krieg eingestellte Zeitschrift Dos naye leben wieder auf. Er lebte weiter von Vorträgen und Publikationen, darunter immer auch allgemein philosophische. Sein 60. Geburtstag 1925 wurde in New York in Anwesenheit von 20000 Menschen gefeiert. Trotz seiner Berühmtheit in der jüdischen Welt wurde er in den dreißiger Jahren zunehmend isoliert, besonders da er von 1936 an die sowjetische Ansiedlung der Juden im Birobidschan und damit auch die stalinistische Politik unterstützte.

Sch. beschäftigte sich stets mit Philosophie, Theorie des Sozialismus und mit Literatur-, Kultur- und Gesellschaftskritik. Nicht zuletzt übersetzte er auch Nietzsches Also sprach Zarathustra auf Jiddisch (1919) und verfaßte mehrere Werke über deutsche und allgemeine Philosophie. Sch. war aber vor allem einer der wichtigsten Theoretiker der jüdischen Diaspora. Oft polemisch und doch auch überparteilich, entwickelte er eine eigene Synthese von Judentum und Universalismus, von politischem Denken, Geschichts- und Religionsphilosophie.

Werke:

  • Gezamlte verk, 10 Bde., New York 1912–1919.
  • Gezamlte verk, 15 Bde., Warschau 1929–1932.
  • Zikhroynes fun mayn leben (»Erinnerungen aus meinem Leben«), 3 Bde., New York 1935–1940. –

Literatur:

  • J. Frankel, Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism and the Russian Jews 1862–1918, Cambridge 1981.
  • D.H. Weinberg, Between Tradition and Modernity. Haim Zhitlowski, Simon Dubnow, Ahad Haam and the Shaping of Modern Jewish Identity, New York 1996.

Delphine Bechtel

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.