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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Constantin Brunner

(ursprüngl. Leo Wertheimer)

Geb. 27.8.1862 in Altona;

gest. 27.8.1937 in Den Haag

B., der Enkel Akiba Wertheimers, des Oberlandesrabbiners von Altona und Schleswig-Holstein, war zunächst streng orthodox, begann sich jedoch während seiner Ausbildung im Kölner Jüdischen Lehrerseminar von seinen religiösen Vorstellungen zu lösen. Nach einem Philosophie- und Geschichtsstudium in Freiburg und Berlin (seine Promotion stellte B. nicht fertig), sowie einer literarischen Periode in Hamburg – er gründete ein »Literarisches Vermittlungsbüro« und gab mit Leo Berg, später mit Otto Ernst, die literarische Zeitschrift Der Zuschauer heraus – zog sich B. 1895 nach einem Inspirationserlebnis im Londoner British Museum plötzlich aus dem öffentlichen Leben zurück, heiratete die geschiedene Rosalie Auerbach und widmete sich in Berlin und ab 1913 in Potsdam ausschließlich der Entwicklung eines eigenen philosophischen Systems.

Im Jahr 1908 erschien als erstes das vor allem erkenntnistheoretische Werk Die Lehre von den Geistigen und vom Volke, für dessen Veröffentlichung Gustav Landauer (mit dem er zwischen 1903 und 1911 eng befreundet war) gesorgt hatte. Es folgten eine polemische Streitschrift für Spinoza und gegen Kant (Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit, 1910) sowie das politische Hauptwerk B.s, Der Judenhaß und die Juden, das infolge des Krieges erst 1918 gedruckt werden konnte. Hier und in mehreren anderen Büchern und Aufsätzen hat B. seine an Spinoza orientierte Gesellschafts- und Staatslehre am Beispiel der »Judenfrage« dargestellt. Ein zweiter Aspekt war für B. die (zum Teil auch politische) Bedeutung Jesu Christi für das Judentum: Er wollte ihn als »geistiges Genie« in das Judentum »zurückholen« (1921 erscheint Unser Christus oder das Wesen des Genies) – ein Aspekt, den Walther Rathenau zum Anlaß nahm, mit B. in freundschaftlichen Kontakt zu treten.

Überhaupt entstand um B. insbesondere in den frühen zwanziger Jahren ein größerer Kreis von Freunden und Schülern, einerseits in Berlin, andererseits vor allem auch in Czernowitz (Rose Ausländer gehörte dazu). Einige gründeten 1925 in Berlin eine C.B.-Gemeinschaft, die aber nur bis zur Naziherrschaft Bestand hatte. B. verschloß sich diesem (nicht nur an seinem Werk, sondern auch an seiner Person) wachsenden Interesse nicht, wurde vielfach geradezu seelsorgerisch tätig, blieb aber öffentlichen Veranstaltungen nach wie vor fern und verstand sich weiterhin als »Einsiedler«.

In seinem philosophischen System unterscheidet B. drei »Fakultäten« des Denkens: das relative Denken der Dinge (»praktischer Verstand«), das Denken des absoluten Einen (»Geist«) und das Denken eines Fiktiv-Absoluten (»Aberglaube« oder »Analogon«). Das relative Denken der Dinge ist richtig, wenn es nicht von fiktiv-absoluten Vorstellungen durchsetzt ist. Doch die geistige Gründung des praktischen Verstandes auf das immanente Eine, die nach B. theoretisch jedem möglich ist, findet sich in der Praxis höchst selten. Er geht daher von zwei Menschentypen aus: dem »Geistigen« und dem (abergläubischen) »Volk«, die in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen und dadurch die Gesellschaft und die Geschichte bestimmen. Vor diesem Hintergrund stellt B. u.a. ein »geistig-mystisches« einem »abergläubisch-religiösen« Judentum gegenüber. Das geistige Judentum versteht er nicht als Religion, Tradition, Nation oder Rasse, sondern als eine der vielen Formen der Offenbarung der geistigen Wahrheit: »Es gibt keine jüdische Religion; das Judentum, als die Lehre der Geistigkeit, ist Gegensatz zur Religion und Protest gegen jede« (Unser Christus, 229). B. zieht hier eine weite Parallele zwischen Moses, Christus und Spinoza, von denen dieselbe immanente Wahrheit des Einen gelehrt worden sei. Er spielt seine mystische Interpretation von Moses’ jahwe echad (»Das Seiende ist Eines«, wie B. übersetzt) als unpersönliches, bildloses Eines gegen den Glauben an eine transzendente Gottperson sowie gegen die Erstarrung und damit die, seiner Ansicht nach, abergläubische Pervertierung des Geistigen im Pharisäismus und Talmudismus aus, wozu auch die Ablehnung der Messiaserwartung gehört. B.s Denken ist anti-teleologisch und daher auch anti-soteriologisch.

Politisch folgt für B. daraus eine Ablehnung des religiösen Zionismus. Aber auch andere zionistische Argumentationsformen bekämpft er, da es – wenigstens in den westlichen Nationen – kein »jüdisches Volksbewußtsein« mehr gäbe: »Die Zionisten haben sich das Dogma ›Rasse und Nation‹ auf die allerärgste Weise angeeignet und sind, als Assimilanten dieses Antisemitendogmas mit ihrer verhängnisvollen Agitation dafür, Feinde nicht allein der Emanzipation der Juden, sondern auch der Emanzipation der Menschheit oder der Kultur und damit auch der Grundidee des Judentums« (Der Judenhaß, 197). Seit 1914 fordert B. eine »Selbstemanzipation« der Juden, die er als ein Aufgeben des Separatismus und als vollständige politische (nicht religiöse) Assimilation in die westlichen Nationen versteht. Erst dann kann nach B. auch der Judenhaß – Facette eines allgemeinen Menschenhasses, der sich nur an »Anderen« entzünden kann – ein Ende finden und die politische Gleichberechtigung aller Bürger, welche das Ziel der demokratischen Staatslehre B.s ist, erreicht werden.

An diesen antizionistisch-assimilatorischen Ansichten, die in jüdischen Kreisen weitgehend negativ diskutiert wurden, hielt B. auch nach 1933, im niederländischen Exil, fest. Dort starb er im Jahre 1937. Frau und Tochter des Philosophen kamen 1943 im Vernichtungslager Sobibor um. Die Überlebenden des Brunnerkreises, der seit 1933 in Auflösung begriffen war, gründeten 1947 das Internationaal C.B. Instituut in Den Haag und begannen, die durch die Nazis vernichteten Werke dieses eigensinnigen Querdenkers der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen. Es entstanden auch Sekundärschriften, die teilweise in Schriftenreihen mit der 1975 in Hamburg gegründeten C.B.-Stiftung herausgegeben wurden. Dennoch gehört B. nach wie vor, gerade in philosophischen Fachkreisen, zu den wenig beachteten Denkern des frühen 20. Jahrhunderts.

Werke:

  • Die Lehre von den Geistigen und vom Volk, Berlin 1908 (Nd. Stuttgart 1962).
  • Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit, Berlin 1910 (Nd. Assen 1974).
  • Der Judenhaß und die Juden, Berlin 1918 (Nd. Berlin 2003).
  • Die Herrschaft des Hochmuts (Memshelet Sadon). Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden, Berlin 1920 (Nd. Stuttgart 1969).
  • Unser Christus oder das Wesen des Genies, Berlin 1921 (Nd. Köln-Berlin 1958).
  • Materialismus und Idealismus, Potsdam 1928 (Nd. s’-Gravenhave 1976).
  • Höre Israel und Höre Nicht-Israel (Die Hexen), Berlin 1931 (Nd. Den Haag 1974). –

Literatur:

  • F. Ritter, C.B. und seine Stellung zur Judenfrage, in: BLBI 14, Jg. 51 (1975), 40–79.
  • H. Matthes: C.B. Eine Einführung, Düsseldorf 2000.
  • J. Stenzel, Philosophie als Antimetaphysik. Zum Spinozabild C.B.s (mit umfangreicher Bibliographie), Würzburg 2002.
  • J. Stenzel, Die Philosophie C.B.s, Essen 2003.

Jürgen Stenzel

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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