Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: David Neumark
Geb. 3.8.1866 in Szczerzec (Galizien); gest. 15.12.1924 Cincinnati (Ohio, USA)
In eine Familie von Rabbinern und Gelehrten geboren, galt der junge N., der den traditionellen Cheder-Unterricht im Alter von zweieinhalb Jahren begonnen haben soll, als hochbegabter und frühreifer ‘illui (»Genie«). Nach seiner ostjüdischen Tora-Ausbildung und dem anschließenden Studium in Lemberg (1887–1892) wechselte er an die Berliner Universität, wo er 1896 mit einer Arbeit über »Die Freiheitslehre bei Kant und Schopenhauer« promovierte. Daneben besuchte er die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, erhielt 1894 den Mendelssohn-Preis für eine halachische Arbeit über »Die Verschollenheit eines Ehegatten nach rabbinischem Recht«, wurde 1897 zum Rabbiner ordiniert und amtierte anschließend bis 1904 als Rabbiner in Rakonitz (Rakovnik, Böhmen). Da er sich aufgrund seiner liberalen Haltung weigerte, unbeschnittenen Juden das Recht zur Bekleidung jüdischer Ämter kategorisch abzusprechen, stieß seine Bewerbung für das Amt des römischen Rabbino Maggiore auf den Widerstand konservativer Kreise. Statt dessen übernahm er die redaktionelle Verantwortung für die Themenbereiche Talmud und Philosophie in der hebräischen Enzyklopädie Oẓar ha-Jahadut (»Schatzkammer des Judentums«) und unterrichtete 1907 kurzfristig als Nachfolger von Moritz Steinschneider jüdische Philosophie an der Veitel-Heine-Ephraimschen Lehranstalt in Berlin. Auf Vorschlag Kaufmann Kohlers wechselte er im gleichen Jahr auf den philosophischen Lehrstuhl am Hebrew Union College in Cincinnati (USA), wo er 1919 das Journal of Jewish Lore and Philosophy (seit 1924 Hebrew Union College Annual) gründete. Von seinem auf sechs Bände angelegten Hauptwerk, der Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters, konnten aufgrund seines frühen Todes nur die ersten drei Bände erscheinen.
Die Aufgaben der modernen jüdischen Philosophie sind nach N. dreierlei: die philosophische Würdigung und Verarbeitung der Ergebnisse der historisch-kritischen Erforschung der jüdischen Religionsgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart, die historische und systematische Darstellung der Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters sowie die theoretisch-apologetische Formulierung der Grundlehren des Judentums für die Gegenwart auf der Basis einer modernen philosophischen Weltanschauung. Diese drei distinkten, aber zusammengehörigen Aufgaben behandeln das Judentum als evolutionäres »Ganzes«, das von Anfang an durch den ethischen Monotheismus der Propheten und die »kulturgeschichtliche Bewegung« der »Befreiung vom Mythos« geprägt sei (Geschichte der Philosophie des Mittelalters I, 4). Diese biblische Botschaft, die einst nur dem Volk Israel gegeben war, deren universale Bedeutung aber immer mehr zutage trete, war – nach dem talmudischen Diktum von der »Schönheit Japhets in den Zelten Shems« – dem griechischen Denken, vor allem der auf die Einheit Gottes gerichteten Philosophie in Platons Republik, geistesverwandt. Dementsprechend sei – kulminierend in der Logos-Lehre Philons von Alexandrien – die gesamte antike hellenistisch-jüdische Literatur, teilweise (durch Philos Einfluß) selbst die talmudische und natürlich die mittelalterlich-philosophische Literatur, durch die Aufnahme griechischen Gedankengutes geprägt – eine Entwicklung, die es philosophiegeschichtlich nachzuzeichnen und verständlich zu machen gelte. Umgekehrt lasse sich auch vom »System Maimunis« aus, dessen Verständnis »der Schlüssel zur Disposition der gesamten jüdischen Philosophie« sei, ein sicherer »Ausgangspunkt« für die Behandlung der griechischen Philosophie gewinnen, besonders des aristotelischen Substanzproblems »in der Konzeption, in welche es für die Behandlung des Gottproblems gebracht werden muss, das heisst […] als die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Form« (Geschichte der Philosophie des Mittelalters, I, 281f.).
Dem Nachweis der Affinität der weit auseinanderliegenden Literaturen des griechischen und biblisch-israelitischen Denkens auf dem Gebiet der Lehre von den Attributen Gottes sind zwei Halbbände von N.s Geschichte der Philosophie des Mittelalters gewidmet. Platons Idealstaat war für N. »mutatis mutandis ebenso eine Theokratie […] wie der Staat Moses«. Um letzteres nachzuweisen, macht er von der zeitgenössischen religionsgeschichtlichen und assyriologischen Forschung ebenso Gebrauch wie von der Graf Wellhausenschen Quellenscheidung im Pentateuch sowie von der Literatur der Kritiker dieser Theorie (Benno Jacob, David Hoffmann). Im Einklang mit der evolutionären Geschichtsauffassung der mittelalterlichen Religionsphilosophen zeichnet N. die Entwicklung des altisraelitischen Ein-Gott-Glaubens von seiner babylonisch-assyrischen Vorgeschichte, den henotheistischen Anfängen über die schrittweise Herabstufung der mythologischen Mittelwesen bis zum Hervortreten der Heiligkeit und Unkörperlichkeit des Schöpfergottes literarisch und historisch nach. Den »dreizehn Gottesattributen« aus der ältesten, der »elohistischen« Tetrateuchquelle (Ex. 34,5–7: »barmherzig, gnädig, langmütig etc.«), deren Rezeption durch die späteren Texte zu verfolgen sei, kommt dabei eine zentrale Rolle zu (Geschichte der Philosophie des Mittelalters II/1, 70; 163f.). So gewinnt N. einen Leitfaden zum Verständnis der gesamten biblischen und nachbiblischen Literatur. In diesem Zusammenhang hält er im Widerspruch gegen Mendelssohn daran fest, daß das Judentum von Anfang an durchaus dogmatische Aussagen oder Glaubensprinzipien (hebr. ʽiqqarim) gekannt habe, deren Entstehung und Entwicklung es vorurteilslos nachzuzeichnen gelte. Gegen die »aprioristische Geschichtskonstruktion« des Fortschrittsoptimismus vor allem der protestantischen Theologen betont er aber, daß die philosophische Entmythisierung in einer »Gegenreaktion« immer wieder mythologische Neubildungen und Rückfälle ins Irrationale hervorgerufen habe. In der rabbinischen Literatur habe besonders die Auseinandersetzung mit dem frühen Christentum retardierende Effekte gehabt, da die Talmudweisen der »mystischen«, an der Engel-Lehre orientierten Christologie auf ihrem eigenen Felde entgegengetreten seien: zunächst durch Jochanan ben Zakkajs Schöpfungs-»Doktrin« (maʽaseh bereshit), dann durch Akivas Thronwagen-»Doktrin« (maʽaseh merkavah), sowie schließlich durch die Lehre von der Präexistenz der Tora. So sei auch die mittelalterliche Kabbala, die anknüpfend an die platonische Ideenlehre innere Entwicklungstendenzen der esoterischen Merkavah-Doktrin fortführte, nicht vom nachmaimonidischen Philosophiestreit aus zu verstehen. Es handle sich vielmehr um ein weiteres Beispiel für jene Remythisierungsschübe, gegen die das reine und klare Denken immer wieder neu in Stellung zu bringen sei. Die antimythische Tendenz der jüdischen Tradition werde nicht zuletzt bereits am Schweigen der Mischna zum Thema der Engel kenntlich; in der tannaitischen Zeit trete die »Freundschaft zwischen der Halacha und dem klaren logischen philosophischen Denken« zutage (Geschichte der Philosophie des Mittelalters I, 59).
Das Ergebnis von N.s kritischen dogmenhistorischen Untersuchungen ist die Unterscheidung – nach Maimonides – zwischen »philosophischen« und »religiösen« Prinzipien oder – im Anschluß an Crescas – zwischen »essentiellen« und »historischen« Dogmen oder »Meinungen«, die für wahr zu halten dem menschlichen Belieben unterliegen: also Monotheismus, Prophetie, Willensfreiheit und göttliche Vorsehung versus körperliche Auferstehung, Unsterblichkeit der Seele, der persönliche Messias als politischer Erlöser, Göttlichkeit der Tora. Den gegenwärtigen Lehrern der jüdischen Philosophie falle die Aufgabe zu, die durch die kritische Analyse auseinandergefallenen Teile neu zusammenzusetzen, auf das aktuelle jüdische »Lebensideal« bezogen zu interpretieren und dabei neben der Mythologie und dem Aberglauben auch die Gefahren des Atheismus und Agnostizismus abzuwehren.
Um die Grenzen und näheren Umstände des Einflusses des platonischen, aristotelischen und neuplatonischen Denkens auf die Philosophie des Mittelalters näher zu bestimmen, unterteilt N. die jüdischen Philosophen in eine »monistische« (an der Lehre von der creatio ex nihilo und der aristotelischen Physik orientierte) Sa‘adja- und eine »dualistische« (an der aristotelischen Metaphysik, dem Form-Materie-Schema oder dem Gegensatz von Geist und Materie orientierte) »Gabirol-Gruppe«. Beide Schulen hätten sich in der Interpretation der platonischen Ideenlehre unterschieden, wobei es letztlich um das Problem der Selbständigkeit des hylischen Prinzips oder der Potentialität der Materie gehe, die Maimonides wegen der in dieser Vorstellung liegenden Bedrohung für die Lehre von der Schöpfung und der Einheit Gottes entschieden abgelehnt habe. Zugleich seien aber die Vorstellungen beider Schulen von Maimonides zu einer Synthese von absolutem (nämlich ontologischem) Monismus und relativem (phänomenologischem) Dualismus zusammengefaßt worden, da die jüdische Ethik aufgrund ihrer Lehre vom freien Willen, der göttlichen Vergeltung und der menschlichen Individualseele nicht auf Elemente dualistischen Denkens verzichten könne. Die Notwendigkeit dualistischer Denkformen will N. auch am Beispiel von Aporien in der Philosophie Kants aufzeigen, da die Idee der Unsterblichkeit der Seele beispielsweise mit dem Gottesbegriff verbunden sei und – gegen Kant – kein bloßes handlungsleitendes Postulat bleiben könne (Essays, 75).
In einem Aufsatz über Chasdaj Crescas bemüht sich N. um den Nachweis des Einflusses von dessen Hauptwerk Or Adonaj auf Spinozas Tractatus Theologico-Politicus, auf die Entstehung der Bibelkritik, die neuzeitliche Idee der Trennung von Staat und Religion, Mendelssohns Jerusalem und damit letztlich auf die jüdische Reformbewegung. Seine Geringschätzung der Kabbala, die durch das philosophisch geläuterte Judentum überwunden sei, hielt N. nicht von historischen Hypothesen ab, etwa im Hinblick auf die literarische Vorgeschichte des Buches Sohar im Jeẓirah-Kommentar Saʽadjas und im Buch Maʽarekhet ha-Elohut (»Ordnung der Gottheit«, Mantua 1558). Dies trug ihm die Rüge G. Scholems ein, wie auch – seitens anderer Forscher – die Vorwürfe methodischer Oberflächlichkeit und gelegentlich exzessiver Phantasie (A.J. Reines). Diese Urteile, die unter dem Eindruck einer im 20. Jahrhundert vorgenommenen grundlegenden Neubewertung des Verhältnisses von Logos und Mythos im Judentum stehen, machen die seither weithin fehlende Rezeption des Werkes von N. verständlich.
Weiteren Kreisen wurde N. vor allem durch seine im Rahmen des Reformjudentums seiner Zeit eher unübliche Bejahung des Zionismus bekannt. Diesem wollte er freilich ein religiöses Fundament geben, da jüdisches Volkstum ohne Transzendenzbezug keinen Bestand haben könne, wie sich auch das liberale Judentum ungeachtet seiner Ablehnung des messianisch-restaurativen Dogmas zur Errichtung eines geistigen Zentrums in Palästina bekennen dürfe. Im Rahmen der Forschungen zur jüdischen Nietzsche-Rezeption haben neuerdings einige frühe kritische, jedoch im Hinblick auf die Bedeutung des Philosophen Nietzsche hellsichtige, Berichte und Aufsätze N.s besondere Aufmerksamkeit gefunden.
Werke:
- Friedrich Nietzsche (hebr.), in: Mimizroch Umimaarov, hg. R. Brainin, Wien 1894, 115–124.
- Die jüdische Moderne, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 45 (1900), 536–538.
- Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters, 3 Bde., Berlin 1907–1928 (Nd. Berlin/New York 1980).
- Toledot ha-ʽIqqarim be-Jisra’el, Odessa 1912–1919.
- Essays in Jewish Philosophy 1929 (Nd. Amsterdam 1971). –
Literatur:
- Memorial page, in: HUCA, Vol. II (1925) (unpaginiert).
- 2 centenary pages, in: HUCA Vol. XXXVII (1966) (unpaginiert).
- A.J. Reines, Art. D.N., in: Encyclopedia Judaica 1971 (Vol. XII, 1014–1015).
- G. Scholem, Die jüdische Mystik, Frankfurt a.M. 1980.
- D. Krochmalnik, Neue Tafeln. Nietzsche und die jüdische Counter-History, in: W. Stegmaier (Hg.), D. Krochmalnik, Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin/New York 1997, 53–81.
Matthias Morgenstern
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.