Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Elijah ben Moshe Abba Delmedigo
Geb. 1460 in Candia (Kreta);
gest. 1497 ebenda
Der traditionell jüdisch ausgebildete und zugleich mit den philosophischen Diskussionen seiner Zeit vertraute D. erfuhr in seinem Denken in besonders krasser Weise leidenschaftliche Anerkennung wie auch scharfe Ablehnung – wozu seine intensiven Kontakte zu christlichen Gelehrtenkreisen noch verstärkend beitrugen. Zeit seines Lebens versuchte D. zwischen den Traditionen der Rationalität und der Offenbarung zu vermitteln. Sie bildeten das Spannungsfeld, innerhalb dessen er seine Version der Theorie von der »doppelten Wahrheit« entwickelt hat, wie sie besonders von den lateinischen Averroisten vertreten wurde. Ausgehend von den Schriften des Ibn Rushd plädierte diese Auffassung dafür, die Philosophie nicht länger der Kompetenz der Religion unterzuordnen, sondern Glaube und Wissen vielmehr als zwei in ihrem Geltungsanspruch gleichberechtigte Zugänge zur Wahrheit anzuerkennen. Dadurch war die Philosophie nicht mehr nur ein Werkzeug der Theologie, sondern wurde zu einer eigenständigen Disziplin der Wahrheitsfindung. Ob allerdings D., der sich in seinem Hauptwerk Bechinat ha-Dat (»Prüfung der Religion«) ausdrücklich auf Ibn Rushd berief, diese generelle Einschätzung der Averroisten teilte, ist fraglich. Zwar trat auch er für eine Emanzipation der Philosophie ein und dehnte den Bereich der Themen, zu deren Klärung diese Wissenschaft beitragen könne, erheblich aus, doch hielt er zugleich ausdrücklich an der Wahrheit bestimmter Glaubenssätze fest. Es handelt sich dabei um Glaubenssätze, die schon in dem entsprechenden maimonidischen Kanon als verbindliche Wahrheiten proklamiert worden waren: die Existenz Gottes, seine Offenbarung sowie die Erwartung des Messias. Deren Wahrheit ist für jeden Menschen ungeachtet seines intellektuellen Selbstverständnisses gerade deshalb verbindlich, weil ihre Gültigkeit durch die Vernunft weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Hieran wird D.s tiefe Einbindung in die Tradition jüdischen Denkens deutlich. Dies ist angesichts des in seiner Zeit an den italienischen Universitäten in Padua, Venedig oder Florenz vorherrschenden generellen geistigen Klimas bemerkenswert, wo D. – sehr ungewöhnlich für einen Juden – Philosophie unterrichtete. Dort verarbeiteten in einem bis dahin kaum gekannten Ausmaß von Synkretismus Theoretiker wie Giovanni Pico della Mirandola, der D.s Schüler und Gönner wurde, oder Marsilio Ficino in ihren Werken Einflüsse aus verschiedensten Kulturen und intellektuellen Systemen und riskierten dabei bewußt den nicht selten artikulierten Vorwurf des Eklektizismus. In dieser Zeit, in der die Kombination zunächst unvereinbar scheinender Theoreme zum philosophischen Programm erhoben wurde, suchte D. nach einer Möglichkeit, die Eigenart seiner Religion zu bewahren. Dabei ging er sogar so weit zu bezweifeln, ob kabbalistische Lehren, wie sie etwa im Buch Sohar zu finden sind, überhaupt als spezifisch jüdisches Gedankengut betrachtet werden dürften, da sie im Talmud noch nicht erwähnt worden seien. Wegen der relativ jungen Geschichte der Kabbala und wegen ihrer gedanklichen Unvereinbarkeiten mit den Glaubensvorstellungen der Tora verwarf D. u.a. die kabbalistische Theorie der Sefirot als eine der wichtigsten Lehren der Kabbala. Bei seiner Suche nach einem Fixpunkt jüdischer Identität in einer interkulturell geprägten Epoche fand er diesen aber nicht nur in der Kontemplation, sondern, wie er in seinem Bechinat ha-Dat ausführte, vor allem auch in der Tat als dem wesentliche Merkmal religiösen Lebens im Sinne der Tora.
Gleichzeitig hat sich D. mit großem Engagement um die Verbreitung der Lehren des Ibn Rushd verdient gemacht. Zahlreiche seiner Werke übersetzte er aus dem Hebräischen ins Lateinische, wie etwa die sechs Fragen des Ibn Rushd zur aristotelischen Logik und die Teile eins bis sieben aus dessen Mittlerem Kommentar zur Metaphysik. In einer eigenständigen Abhandlung mit dem Titel Quaestiones tres (»Drei Fragen«) reflektiert D. darüber hinaus averroistische Theoreme in den folgenden Einzeluntersuchungen: De primo motore (»Über den ersten Beweger«), De mundi efficientia (»Über die Wirkweise der Welt«) und De esse et essentia et uno (»Über das Sein, das Wesen und das Eine«). Diese drei Fragen zum Wesen Gottes, seiner eigentümlichen Wirkweise und seiner Relation zur Welt behandelte D., obwohl sie auch das Gebiet der Religion berührten, ausdrücklich mit Hilfe der aristotelischen Physik und ihrer Interpretation durch Ibn Rushd. Dies sollte keinen Widerspruch zu seiner im Bechinat ha-Dat vertretenen Ansicht bilden, wonach gerade die Glaubensrelevanz der Frage nach Gott nicht rational faßbar sei. Nach Aristoteles hat die Bewegung des Kosmos eine erste Ursache, die nicht zwangsläufig als ein willentlich agierendes Wesen verstanden werden muß. Als Ursache für diesen naturhaften Prozeß hat er eine kausale Relation für ausreichend erachtet, die ohne ein zusätzliches Element der Bindung wie etwa den Willen Gottes oder die göttliche Güte, die das Universum erschuf, auskam. D. hingegen versuchte mit erheblichem argumentativem Aufwand zu belegen, daß es sich um ein und dieselbe erschaffende Potenz handelt, die in philosophischer Terminologie als Bewegungsprinzip, in der Sprache der Religion hingegen als Gott bezeichnet werden kann. Er war der Meinung, »[…] daß Gott oder das erste Prinzip […] den ersten Himmel unmittelbar bewegt […]«. So wie die kausale Ordnung alles Seiende aneinanderbindet und zu einem wohlstrukturierten Kosmos zusammenfügt, durchzieht auch das Wirken Gottes seine gesamte Schöpfung, wobei sich die Relation zwischen Schöpfer und Geschaffenem in den immer neuen Demonstrationen göttlicher Güte manifestiert. Nach D.s Verständnis unterscheiden sich die Lehren der Philosophie und der Religion in diesem speziellen Punkt in erster Linie durch ihre Methode der Darstellung, nicht aber durch ihren Inhalt. So will er durch seine eigene Art des Umgangs mit der rationalen Untersuchung von Naturabläufen demonstrieren, daß es für einen gläubigen Juden ohne weiteres möglich ist, sich an der philosophischen Diskussion zu beteiligen, ohne dadurch in seinem Glauben beeinträchtigt oder in seiner Befolgung der religiösen Gebote eingeschränkt zu werden.
Die relativ spärlich überlieferten Details seiner Biographie erwecken den Eindruck, als habe D. auch mit seinem eigenen Wirken belegen wollen, daß es keinen Widerspruch bedeuten muß, als Jude in einer christlich dominierten Gesellschaft zu leben. Während von christlicher Seite sein intellektuelles Engagement mit Anerkennung honoriert wurde, hat D.s Akzeptanz philosophischer Spekulationen unter seinen Glaubensbrüdern zum Teil offene Feindseligkeit ausgelöst, wie etwa seine folgenreiche Kontroverse mit dem Rabbiner von Padua, Jehudah Minz, über halachische Fragen zeigte. Dieser Disput zwang D. schließlich nach dem Tode seines Freundes und einflußreichen Gönners Pico zur Aufgabe seiner Lehrtätigkeit in Italien und zur Rückkehr in seine Heimatstadt Candia. An seiner Beerdigung einige Jahre später nahm nach einem überlieferten Bericht eine nicht unerhebliche Anzahl christlicher Gelehrter teil.
Es wäre aber voreilig, aus Tatsachen wie dieser oder dem Umstand, daß D. in einem Streit zwischen den italienischen Universitäten als Schiedsmann eingesetzt wurde, folgern zu wollen, er hätte sich seiner nicht-jüdischen Umwelt gänzlich assimiliert. Wie es scheint, war nicht die Preisgabe eigener religiöser Überzeugungen zugunsten einer problemlosen Anpassung an die vorherrschende Meinung die Voraussetzung für D.s Anerkennung unter den christlichen Intellektuellen, sondern eher seine Diskussionsbereitschaft. Dabei war er offensichtlich darum bemüht, sich als jüdischer Denker an diesem intellektuellen Austausch zu beteiligen. Davon zeugt, daß er trotz der außergewöhnlichen Vorliebe seines Freundes Pico für die Kabbala an seiner Ablehnung dieser mystischen Lehre festhielt. Für den Versuch einer Positionsbestimmung jüdischen Selbstverständnisses im Zeitalter der Renaissance ist das Beispiel D.s von unschätzbarer Bedeutung, weil er – nach allem, was sich über sein Leben heute noch erfahren läßt – intellektuelle Offenheit mit dem Bewußtsein der eigenen religiösen Identität verband.
Werke:
- Heliae Hebrei Cretensis philosophi acutissimae quaedam quaestiones: De primo motore.
- De efficientia mundi.
- De esse et essentia et uno, in: Johannes von Jandun, Quaestiones super octo libros physicorum Aristotelis, Venedig 1551 (Nd. Frankfurt a.M. 1969). –
Literatur:
- P. Ragnisco, Documenti inediti e rari intorno della vita agli scritti di Nicoletto Vernia e di E.D., in: Atti e memorie della reale accademia di scienza, lettere ed arti in Padova 7 (1890/1891), 275–302.
- J. Guttmann, E.D.s Verhältnis zu Averroes in seinem »Bechinath ha-Dath«, in: Jewish studies in mem. of I. Abrahams, New York 1927, 192–208.
- B. Kieszkowski, Les rapports entre E.D. et Pic de la Mirandole, in: Rinascimento 4.2 (1964), 41–92.
- A. Poppi, Causalità e infinità nella scuola padovano dal 1480 al 1513, Padua 1966.
Susanne Möbuß
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