Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Elijah Benamozegh
Geb. 24.4.1823 in Livorno;
gest. 6.2.1900 ebenda
B. widmete seine ganze Energie der Verbreitung und Verteidigung der Kabbala, dies zu einer Zeit, als die junge Wissenschaft des Judentums in Europa sie als »fremde«, »abergläubische« oder »heidnische« Lehre ablehnte. B. lehrte als Rabbiner jüdische Theologie am rabbinischen Seminar in Livorno und erfüllte gleichzeitig die Aufgabe des Predigers. Zugleich beschäftigte er sich seit seiner Jugend mit Kabbala und Philosophie. Autodidakt in der Philosophie und in allem, was die weltliche Bildung im allgemeinen anbelangt, hatte er die Kabbala mit seinem Onkel mütterlicherseits, Jehudah Coriat, studiert, der wie die Familie seines Vaters aus dem marokkanischen Fès stammte. In einem Jugendwerk (Emat Mafgiʽa ʽal ha-Ari, »Die Angst des Löwen vor dem kleinen Tier«, eine Kritik der anti-kabbalistischen Position des Leon Modena im 17. Jahrhundert) beschreibt er, wie er in die kabbalistische Lehre initiiert und mithin zum Kabbalisten (mequbbal) wurde.
B. hat eine Fülle verschiedenster Werke verfaßt: im Bereich der Bibelexegese einen Psalmenkommentar (Ner le David, »Das Licht Davids«, 1858) und einen Kommentar zum Pentateuch (Em la-Miqra’, »Mutter der Schrift«, 5 Bde., 1862–1865); im juristischen Feld Delle fonti del diritto ebraico, (»Quellen des hebräischen Rechts«, 1882) und Jaʽaneh ba-Esh (»Er wird durch das Feuer antworten«, 1886); eine apologetische Schrift (»Jüdische Moral und christliche Moral«, 1867); polemische Schriften (Emat Mafgiʽa, 1855, und Taʽam le-Shad, 1863, eine gegen David Luzzatto und seine Kabbala-Kritik gerichtete Schrift); die historische Arbeit Storia degli Esseni (»Geschichte der Essener«, 1865) und ein religiöses Projekt Israel und die Menschheit (1914). Seine wichtigsten Arbeiten liegen jedoch im theologischen Bereich, insbesondere, aber nicht nur mit Teologia, 1877, und Spinoza und die Kabbala, in: Univers Israélite XIX, 1864.
B. arbeitete sein Leben lang an einer philosophischen Deutung der Kabbala. Sein eigentlicher Ansatz bei der Interpretation der jüdischen Mystik besteht folglich darin, kabbalistische Konzepte in der Terminologie der westlichen Philosophie zu beschreiben und zu aktualisieren. So nimmt B. am europäischen philosophischen Diskurs aus der Perspektive eines Kabbalisten teil. Folglich kann man seine Werke sowohl in einen europäischphilosophischen Zusammenhang, als auch in eine spezifisch jüdische Tradition stellen. Diese doppelte Zugehörigkeit hat die Rezeption seiner Werke nicht leicht gemacht. Von den Rabbinern Syriens und Palästinas wurde er zurückgewiesen, da er sich in geradezu skandalöser Weise für orientalische Mythologien und das Christentum öffne. Wegen seiner kabbalistischen Bezüge am Rande nicht nur der rabbinischen, sondern auch der europäischen Kultur beschreibt er sich selbst – nicht ohne Ironie – als »wie in der Luft hängend« (Ẓori Gilʽad oder »Gileadbalsam« in: Ha-Levanon, 1871). Er stellt sich aber auch an die Seite des liberalen katholischen Philosophen Vincenzo Gioberti (1801–1852), mit dem er die Kritik der Hegelschen Dialektik teilte. Für beide religiösen Denker geht die Synthese der These und der Antithese voran, d.h. Gott ist vor dem Menschen und der Welt da. Die menschliche Geschichte ist für B. ein unendlicher Progreß, der sich allmählich der göttlichen Fülle annähert, ohne sie – gleich einer asymptotischen Kurve – je zu erreichen (Teologia). So teilt B. zwar den Fortschrittsoptimismus mit dem 19. Jahrhundert, doch der Fortschritt, wie er ihn versteht, bedeutet letztlich eine Rückkehr zu Gott in einem unvollendbaren Prozeß der Einswerdung des in der Welt zerstreuten Göttlichen. Auf diese Weise werden auch die Einheitskonzepte des Neoplatonismus und der Kabbala dynamisiert und erweitert: Der Akteur des Fortschreitens ist nicht mehr nur das Individuum, sondern die Menschheit überhaupt. Aber auch die darwinistische Evolutionstheorie ist in B.s theoretischen Entwürfen präsent, indem er sie in einen metaphysischen Kontext integriert, wo das Konzept der beror (»Selektion«) eine zentrale Rolle spielt.
Das originellste philosophisch-kabbalistische Theorem B.s ist wohl die Idee des Seins als einer Folge von konzentrischen Bewußtseinsformen und die Idee Gottes als dem Bewußtsein allen Bewußtseins. Die Geschichte wird so genauer zu einem Fortschreiten vom Unbewußten zum Bewußten, und Gott verkörpert das entfaltete Bewußtsein, nach dem die Menschen streben, da »wir nie das volle Bewußtsein unserer Selbst, das keine unüberschreitbaren Grenzen hat, haben können« (Bibliothèque de l’hebraisme, 1897). Damit aktualisiert er die kabbalistische Lehre der Schöpfung als eines Fortschreitens vom Unbekannten zum Bekannten (vgl. etwa Ezra von Geronas Kommentar zum Hohelied), als allmähliche Manifestation dessen, was immer schon existiert hat, auch gemäß dem Begriff der Sefirot als göttlichem Emanationsprozeß, in dem die oberen mit den unteren Bereichen in Zusammenhang stehen (vgl. etwa Moshe Cordovero, Pardes Rimmonim, »Garten der Granatäpfel«). Diese Theoreme gehen bei B. wiederum einher mit philosophischen Konzepten des deutschen Idealismus, etwa mit der »Philosophie des Unbewußten« Eduard von Hartmanns, während später die Psychoanalyse die Kategorie des »Unbewußten« vom religiösen ins psychologische Feld verschieben wird.
Die Kabbala bedeutet für B. die authentische Tradition des Judentums, das ohne ihre Lehren eine Art »rituelle Maschine« ohne metaphysischphilosophische Begründung wäre. Sie bietet so auch einen Ausweg aus der religiösen Krise Europas, indem sie den »semitischen« Monotheismus mit dem »arischen« Geist der Vielheit verbindet (Israel und die Menschheit). Dabei ist die Kabbala nach B. vom Christentum wie vom Spinozismus abzugrenzen, die das zerbrechliche Gleichgewicht zwischen göttlicher Welt (d.h. der Sefira malchut) und Menschenwelt aus den Fugen bringen. Das Christentum nämlich nimmt der Menschenwelt allen Wert durch die Rückbindung »nach oben« (Morale juive et morale chrétienne, L’origine des dogmes chrétiens). Der Spinozismus wiederum vergöttlicht die menschliche Welt durch eine Rückbindung »nach unten« (Spinoza et la kabbale, Bibliothèque de l’hébraïsme). Das Christentum übergeht die grundlegenden Aspekte der Menschenwelt wie die politische Sphäre, und in dieser Übermacht der ideellen über die materielle Sphäre hat sich geradezu eine Bewußtseinskontrolle ergeben. Zudem ist hier durch die Inkarnation die Dynamik zwischen göttlicher und menschlicher Welt auf ein Ereignis und auf eine Person reduziert, nach B. im Gegensatz zur Kabbala: »Durch die Einheit, die in Jesus Christus verkörpert ist, werden die weiten Horizonte und die großen Gedanken und Konzepte der Kabbalisten auf die Proportionen eines einzigen Wesens verkleinert, den man um jeden Preis vergöttlichen wollte« (L’origine des dogmes chrétiens). Gleichzeitig teilt B. mit manchen zeitgenössischen Denkern die Kritik des spinozistischen Pantheismus, wobei er jedoch weit weniger scharf ist, denn »Spinoza nähert sich in fast allem seinen Vorgängern, den Kabbalisten: ausgenommen in einem einzigen Punkt, wo ein Abgrund sie trennt«, nämlich in der Idee der Vergöttlichung der Materie. In der Konsequenz seines Denkens lehnt B., wie die rabbinisch oder aufklärerisch orientierten jüdischen Gelehrten seiner Zeit, die Wendung in der Rezeption der Kabbala von einer Religionsphilosophie zu einem »Wunderglauben« ohne philosophischen Kern ab, wie er im Chassidismus in Osteuropa noch im 19. Jahrhundert präsent war.
Werke:
- Scritti scelti, hg. A.S. Toaff, Rom 1955. –
Literatur:
- G. Lattes, Vita e opere di E.B., Livorno 1901.
- Rassegna mensile di Israel 63 (1997).
- A. Guetta, Philosophie et Cabbale. Essai sur la pensée d’E.B., Paris 1998.
- ders. (Hg.), Per B. Atti del Convegno internazionale di Studi nel Centenario della morte di E.B., Milano 2001. Alessandro Guetta (Übersetzung: Monika Brand)
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