Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Emmanuel Lévinas
Geb. 30.12.1905 in Kaunas (Litauen);
gest. 27.12.1995 in Paris
L. sagte von seiner Existenz, daß sie »beherrscht war von der Vorahnung und der Erinnerung an den Nazi-Schrecken«. Sie hatte begonnen in einer Welt weit entfernt vom Zentrum des modernen Europa, aber mitten im jüdischen Leben: in Litauen, wo er in Kovno am 30. Dezember 1905 (gemäß dem orientalischen Kalender am 12. Januar 1906) geboren wurde. Nur ein paar hundert Kilometer von Königsberg entfernt, schien man die Aufklärer Moses Mendelssohn und Salomon Maimon nicht zu kennen. Das geistige Leben wurde von zwei großen Namen beherrscht: Elijahu Gaon von Wilna (1720–1797) und Rabbi Chajim von Volozhin (1759–1821). Vom Gaon von Wilna und seinem Schüler übernimmt L. die Idee eines rationalen Judentums der Talmudisten, das dem Chassidismus mißtraut und dennoch von der Moderne in seinem Traditionalismus kaum berührt wurde. Gemäß seiner Erinnerung spielte sich L.’ Kindheit in zwei Welten ab: in derjenigen seines Vaters, der eine Buchhandlung besaß und seinem Sohn die Annehmlichkeit einer bürgerlichen Existenz bieten konnte; und in derjenigen der Großeltern, die eine Religion praktizierten, die zwar »das tägliche Leben überstieg, aber eine starre Form beibehielt«. Bei allen Umzügen der Familie, die sich in der Ukraine niederließ, genoß er Hebräisch-Unterricht und alles, was zu einer jüdischen Erziehung gehörte. So lebte er bald mit seinen Büchern, kannte die Bibel und ihre Kommentare, aber auch die russische Literatur. Zu Beginn dieser Biographie zeigte sich keine Spur einer Revolte wie etwa die eines Gershom Scholem gegen seine assimilierte Familie. Die Gründe für die Abreise nach Frankreich 1923 bleiben allerdings ungeklärt.
L. besucht die Straßburger Universität; in den Jahren 1928–29 hält er sich in Freiburg auf, wo er mit Edmund Husserl arbeitet, dessen Cartesianische Meditationen ins Französische übersetzt, (1930) und Vorlesungen bei Heidegger hört. An der Seite Husserls, so L. selbst, hat er »der Letztbegründung des Denkens« assistiert. Wie eine Revolution berührt ihn aber Sein und Zeit, das er später als »ein großes Ereignis unseres Jahrhunderts« bezeichnet. Der Wendepunkt seiner Ausbildungsjahre war das berühmte Treffen von Davos im Sommer 1929, zu dem er von der Straßburger Universität kurz vor seiner Promotion delegiert wird. In der Gegenüberstellung nämlich von Cassirer und Heidegger sieht er nicht nur einen Generationenkonflikt zwischen dem Schüler Hermann Cohens, der ein klassisches Denken vertritt, und dem begeisterten Jüngeren im Trachtenanzug, sondern vielmehr einen Umsturz in der Philosophiegeschichte. Er erliegt der Faszination Heideggers und karikiert Cassirer während einer Studentenaufführung am Ende des Treffens. Später jedoch bedauerte L. wiederholt, »Heidegger in Davos vorgezogen zu haben«. In diesem Sinne stellt Davos die Urszene von L.’ intellektueller Biographie dar.
1930 verteidigt L., inzwischen in Paris, seine Dissertation La théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl. Danach verzichtet er allerdings auf eine akademische Karriere und zieht es vor, sich jüdischen Institutionen zu widmen: der Alliance israélite universelle und der Ecole Normale israélite orientale. 1931 eingebürgert, wird er zu Beginn des Krieges Unteroffizier, 1940 gerät er in Gefangenschaft. Geschützt durch seinen Offiziersgrad verbringt er die Jahre der Shoah in einem Gefangenenlager in Pommern. Von seinen Angehörigen hört er nichts; seine Frau und seine Tochter konnten sich in Frankreich verstecken, die übrige Familie ist in Litauen von den Nazis umgebracht worden. Angesichts der Ermordung seiner Familie und des größten Teils der europäischen Juden spricht der Überlebende L. von einem »Tumor der Erinnerung«. Nach dem Krieg entschließt er sich nochmals, in den Dienst der jüdischen Gemeinschaft zu treten: Er wird Leiter der Ecole normale israélite, in der Gewißheit, daß nach dem »unvermeidlichen Wiederbeginn der Zivilisation« auch ein »neuer Zugang zu den jüdischen Texten« gefordert ist. Er sichert die Ausbildung jüdischer Lehrer, indem er seine »Ecole« in ein Studienhaus verwandelt, wo zahlreiche Persönlichkeiten samstags seine »Rashi-Lesung« hören. Schließlich gelangt er an die Universität: in Poitiers, Nanterre, dann in Paris (Sorbonne) und erarbeitet in der Stille einer Denker-Existenz sein wichtigstes Buch: Totalité et infini (»Totalität und Unendlichkeit«), das 1961 unbemerkt bei La Haye, dem Verlag der Husserlschen Texte, erschien.
Ein Satz im Vorwort von Totalité et infini verortet L. in der Landschaft der Gegenwartsphilosophie: »Dieses Buch erweist sich als eine Verteidigung der Subjektivität, aber es beschreibt sie weder auf dem Niveau des reinen egoistischen Protestes gegen die Totalität, noch in ihrer Angst vor dem Tod, sondern begründet sie in der Idee des Unendlichen.« Zwei unterschiedliche Einflüsse lassen sich darin erkennen: auf der einen Seite Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, allerdings bleibe Rosenzweigs Existentialismus zu eingeschlossen in der individuellen Erfahrung. Der zweite Einfluß ist ein »unaufhörliches Bedenken von Sein und Zeit«, doch wird bei L. die Sorge um den Anderen die Angst vor dem Tode als Urerfahrung ersetzen. Die leitende Idee ist die des Unendlichen. Von Jonien bis Jena sahen die Philosophen, gemäß Rosenzweig, den Krieg als Modus des Seins und der Geschichte. L. hält dieser ›Evidenz‹ des Krieges die Gewißheit des »messianischen Friedens« entgegen, die prophetische Eschatologie, die die Totalität auflöst und verheißt, daß es »nicht auf das Jüngste Gericht ankommt, sondern daß alle Augenblicke in der Zeit über einen Lebenden entscheiden«. Die westliche Philosophie hat immer versucht, die Wahrheit des Seins mit Hilfe der Ontologie zu finden; für L. ist es die Ethik, die »erste Philosophie« werden muß: »Die ethische Beziehung geht immer der Gegenüberstellung der Freiheiten, des Krieges, voraus, die nach Hegel die Geschichte begründen.« (Difficile liberté [»Schwierige Freiheit«], 1963)
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Totalität und Unendlichkeit (1987) erklärt L. den zentralen Stellenwert dieses Buches innerhalb seines Denkens. Es eröffnet einen philosophischen Diskurs, der sich Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974) und in De Dieu qui vient à l’idée (1982) fortsetzt. Das Projekt des Buches ist folgendes: »il conteste que la synthèse du savoir, la totalité de l’être embrassée par le moi transcendantal, la présence saisie dans la représentation et le concept de l’interrogation sur la sémantique de la forme verbale de l’être – stations inévitables de la Raison – soient les instances ultimes du sensé.« Hierin liegt L.’ große philosophische Leistung: der Andere wird sichtbar in seiner Nacktheit, »die ihre Fremdheit in der Welt, die Einsamkeit und den im Sein verborgenen Tod, hinausschreit«. Diese absolute Zerbrechlichkeit des Anderen ruft nach mir und stellt meine Konstitution als Subjekt in Frage. Dies erfordert, das klassische Verhältnis zwischen Identität und Alterität neu zu bestimmen. Von Beginn an haben die Philosophen Systeme konstruiert, in denen der Andere im Selben aufgehen muß, um in einer »schönen Totalität« zu münden, zu der Hegel die Synthese angeboten hat. L. zeigt dagegen, daß die Verantwortung für den Anderen der Autonomie des Selbst vorangeht. Dazu zitiert L. wiederholt Dostojewski, der sein Anliegen so resümiert: »Jeder von uns ist schuldig, vor allen, für alle und ich mehr als alle.« Wie Hermann Cohen in Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums sieht L., daß die Beziehung zwischen Mensch und Gott sich in der ethischen Beziehung zwischen den Menschen verwirklicht: »Daß die Beziehung zum Göttlichen sich durch die Beziehung zu den Menschen realisiert und in der sozialen Gerechtigkeit mündet; das ist der ganze Geist der jüdischen Bibel« (Difficile liberté). Dieser Gedanke schreibt sich in die Gegenwartsphilosophie ein; mit Heidegger sucht sie ein Sein, das seit den Griechen vergessen wurde. Es erstrebt seine Verwurzelung in der Welt und lädt ein, in das Geheimnis der Natur einzudringen. Für L. jedoch bedeutet dieses Anklammern an die Erde und an die Wurzeln immer wieder eine »Spaltung der Menschheit in Eingeborene und Fremde«, die die Ursache des Krieges ist. Die Heideggerianer suchen ein »Heiliges, das durch die Welt fließt«, doch dieses Festhalten am »Ort« stellt »die ewige Verführung des Heidentums« dar. Dagegen gründet die philosophische Verantwortung dem Anderen gegenüber auf die jüdische Erfahrung, die der Versuchung der Verwurzelung widersteht: »Der jüdische Mensch entdeckt den Menschen, bevor er Landschaften und Städte entdeckt. Er versteht die Welt aus der Perspektive des Anderen, und nicht das Ganze des Seins in seiner irdischen Funktion.« Die Bücher Autrement qu’être und De Dieu qui vient à l’idée gehen aus von eben diesem Gegensatz zwischen dem Wunsch, das Sein als In-der-Welt-Sein zu finden, und der Sorge um das Unendliche im Antlitz des Anderen: »Einen Gott hören, der nicht vom Sein gezeichnet ist, ist eine menschliche Möglichkeit, die nicht weniger wichtig und nicht weniger gefährdet ist, wie das Sein aus der Vergessenheit zu ziehen, in das es durch die Metaphysik und die Ontotheologie gefallen ist« (Autrement qu’être).
In einer Hinsicht erscheint das ganze Werk L.’ wie eine »Religion der Vernunft«, die aus den »Quellen des Judentums« entsprungen ist. Beim Betrachten seiner Bibliographie entsteht der Eindruck, sie speise sich aus zwei verschiedenen intellektuellen Universen: einem philosophischen Korpus im Kielwasser der Phänomenologie auf der einen und der jüdischen Tradition auf der anderen Seite. So klar ist diese Unterscheidung dennoch nicht. In mehr als 30 Jahren hat L. regelmäßig Talmud-Lesungen gehalten, die eine gleichbleibende Struktur zeigen: Der Lektüre eines ausgewählten Textes aus dem Talmud folgt ein Kommentar, in dessen traditionelle Interpretationen sich historische und philosophische Reflexionen mischen. Manchmal waren sie an aktuelle Fragen gebunden, z.B. »die Jugend Israels« nach den Ereignissen vom Mai 1968; »die Schäden verursacht durch das Feuer« im Augenblick des Kippur-Krieges. Aber meistens behandelten sie philosophische Themen: »auf die Anderen zugehen« zum Thema der Verantwortung; »Verachtung der Tora als Idolatrie« zum Thema der Verbindungen zwischen Schrift und Gesetz; »Die Versuchung der Versuchung« über die Spannung zwischen europäischem Wissen und religiöser Tradition. Immer aber sind die Lesungen von dem Wunsch getragen, »westlicher Jude, Jude und Grieche« zu sein, auch, indem sie dieses Paradox reflektieren: »La fidélité à la culture juive fermée au dialogue et à la polémique avec l’Occident voue les Juifs au ghetto et à l’extermination physique; l’entrée dans la Cité les fait disparaître dans la civilisation de leurs hôtes« (Quatre lectures talmudiques).
Das Denken L.’ ist dennoch klar von der zeitgenössischen, jüdischen Erfahrung geprägt. Dazu gehört auch die Gründung des Staates Israel, die er als Herausforderung des Judentums durch seinen Eintritt in die Geschichte erkennt. Eben darin versucht er, Sinn und Gefahr des politischen Experiments zu ermessen (»Der Staat Cäsars und der Staat Davids«), zugleich aber wägt er auch die Rechte, die die Rückkehr in das Land des Ursprungs geben kann, ab (»Das versprochene Land«). Im wesentlichen ist es jedoch die Shoah, die sein Interesse leitet. »Au delà du souvenir«, jenseits des Erinnerns, dies bezeichnet das a priori dieses Ereignisses. Wenn das jüdische Volk ein Volk der Erinnerung ist, dann ist es dieses Mal mit einer inkommensurablen Erfahrung konfrontiert: »Der Tod von verhungerten Kindern wirft uns in Schlangengruben, an Orte, die keine Orte mehr sind, an Orte die man gewiß nie vergessen kann, die dennoch in keine Erinnerung passen, sich keinem Gedächtnis fügen« (A l’heure des nations). Während gemäß einer traditionellen, apokalyptischen Lektüre die Vernichtung der europäischen Juden wie jedes Unglück als Strafe für Fehler oder als Vorstufe der Ära des Messias zu verstehen sei, sträubt sich L. gegen eine solche Erklärung. Die Weltgeschichte ist auch kein Hegelsches Weltgericht, die Gewalt bringt nicht die Versöhnung hervor. Das radikale Böse bleibt vielmehr, wie bei Kant, unerforschbar und bringt keine Form des Guten hervor. Wie die Philosophie fordert die Shoah deshalb auch die Theologie heraus: Auschwitz widersteht jeder Theodizee als einer Erklärung des Bösen durch einen geheimen göttlichen Plan. Angesichts jenes absolut »unnötigen« Leidens verdeutlicht sich das, was Kant »den Mißerfolg aller philosophischen Versuche einer Theodizee« nannte. Daraus ergibt sich für L. die einzige universelle Bedeutung der Shoah: Niemals mehr zu sagen, daß der Tod des Menschen an der Vervollkommnung der Menschheit teilhat.
Angesichts von Auschwitz macht L. auf die Klagen Hiobs aufmerksam, welche für ihn das Symbol einer Menschheit werden, die das »Zeitalter des Zweifels, der Einsamkeit und der Revolte« erreicht hat. Umgekehrt aber erkennt L. in dieser Verweigerung der »Begeisterung« auch einen Weg zu einer »erwachsenen Religion«. Als Antwort auf Hans Jonas’ Begriff Gottes nach Auschwitz macht L. den Vorschlag: »Man kann sich fragen, ob das westliche Denken, ob die Philosophie nicht in letzter Instanz die Position einer Menschheit sein muß, die das Risiko des Atheismus annehmen, jedoch überwinden muß, als Lösegeld für die Majorität« (Difficile liberté). Man könnte sagen, daß der Gott von L., wie der von Cohen, stark idealisiert ist. Die Liebe Gottes ist »die Liebe einer Idee« (Cohen). Aber diese Idee wird erst durch die Verantwortung für den Anderen relevant, genauer für den Menschen in seiner Zerbrechlichkeit, den die Bibel im Armen, Waisen und Fremden symbolisiert. Als Vertrauen in einen tröstenden und schützenden Gott kann der Monotheismus dem Skeptizismus der Moderne mithin nicht standhalten. Aber er kann seine Rechte wiederfinden, indem die Sorge um den Anderen eine gleichgültige oder egoistische Autonomie in Frage stellt. Die Liebe zum Nächsten ist es, die nach L. die Ewigkeit hervorbringt, der Liebe Gottes antwortet und zu Gunsten der Erlösung arbeitet (Franz Rosenzweig. Ein moderner jüdischer Gedanke). Das bedeutet, daß die Verantwortung gegenüber dem Anderen den Gehorsam Gott gegenüber sogar übersteigen kann. In dem Augenblick, in dem das individuelle Gewissen von der Zerbrechlichkeit des Anderen ergriffen ist, entsteht nach L. erst das Gefühl für die Unendlichkeit und die Transzendenz. Die Furcht um Gott manifestiert sich in »der Furcht um den anderen Menschen«, und die Liebe Gottes bedeutet keine Erwartung von Vergünstigungen. Man könnte deshalb sagen, daß L.’ Werk einem langen Kommentar eines berühmten Apologeten des Talmuds gleichkommt: Einem Heiden, der ihn bittet, ihm den Sinn der Tora in der Zeit, in der er auf einem Bein stehen kann, zu erklären, antwortete Hillel: »›Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu‹, das ist die ganze Tora. Der Rest sind Kommentare. Geh und studiere sie« (Shabbat, 31a).
Werke:
- Totalité et infini, La Haye 1961 (Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i.Br. 2002).
- Quatre lectures talmudiques, Paris 1968 (Vier Talmud-Lesungen, Frankfurt a.M. 1993).
- Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974 (Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 1998).
- Difficile liberté, Paris 1976 (Schwierige Freiheit, Frankfurt a.M. 1992).
- De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982 (Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg i.Br. 1999).
- Ethique et infini, Paris 1982 (Ethik und Unendliches, Graz 1986).
- Die Spur des Anderen, Freiburg i.Br. 1999. –
Literatur:
- M.-A. Lescourret, E.L., Paris 1994.
- J. Derrida, Adieu à E.L., Paris 1997.
- Difficile justice, hg. J. Halpérin u. N. Hansson, Paris 1998.
- D. Cohen-Lévinas (Hg.), E.L., Paris 1998.
- A. Letzkus, Dekonstruktion und ethische Passion. Denken des Anderen nach Jacques Derrida und E.L., München 2002.
- B. Taureck, E.L. zur Einführung, Hamburg 2002. Pierre Bouretz (Übersetzung: Monika Brand)
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