Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Erich Pinchas Fromm
Geb. 23.3.1900 in Frankfurt a.M.;
gest. 18.3.1980 in Locarno-Muralto
In dem unveröffentlichten Fragment Mein Judentum, kurz vor seinem Tod verfaßt, bekennt F., daß er auf die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft mit »keine Religion« antworte. Im gleichen Atemzug steht er aber zu den jüdischen Quellen seines Denkens: »Wer freilich mich und mein Werk kennt, hat keinerlei Anlaß zu der Vermutung, ich könnte meine jüdischen Ursprünge verbergen wollen.«
Als einziges Kind eines orthodox jüdisch lebenden Weinhändlerehepaars im Frankfurter Westen geboren, strebte F. lange danach, es seinen jüdischen Vorfahren gleichzutun und auch Talmudlehrer zu werden. Seinen ersten Unterricht bekam er bei seinem Großonkel mütterlicherseits, dem an der Talmudschule in Posen lehrenden dajjan Ludwig Krause, der seinen Lebensabend bei den Fromms in der Liebigstraße in Frankfurt verbrachte. Sein großes Vorbild aber war sein Urgroßvater väterlicherseits, Rabbi Bär Bamberger, der der geistliche Führer des orthodoxen Judentums Süddeutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Für sein eigenes Judentum prägend war in der Frankfurter Zeit der Rabbiner der orthodoxen Synagoge am Börneplatz, Nehemia Nobel, sowie der Neukantianer Hermann Cohen. Mit Nobel und anderen aus dem Kreis um Nobel gründete F. 1919 das Freie Jüdische Lehrhaus, die erste jüdische Erwachsenenbildungseinrichtung, an der F. auch lehrte.
Statt nach Posen zum Talmudstudium zu gehen, zog er es dann doch vor, zunächst Jura in Frankfurt und ab 1919 Soziologie in Heidelberg zu studieren. Der allseits als »fromm« apostrophierte Student (»Mach mich wie den Erich Fromm, daß ich in den Himmel komm’« – witzelte sein Freund Ernst Simon) ging gut fünf Jahre lang täglich zum Studium des Talmud, der jüdischen Geschichte und Philosophie zu Rabbi Shneur Salman Rabinkow. Dieser vom messianischen Sozialismus und Chabad-Chassidismus Litauens geprägte Privatgelehrte und Lehrer übte einen großen Einfluß auf das Denken F.s aus. Hier lernte er den Chassidismus lieben und den Talmud humanistisch auslegen. Mit Rabinkow besprach er alle Details seiner Dissertation über die soziologische Bedeutung des jüdischen Gesetzes, die F. 1922 bei seinem Doktorvater Alfred Weber abgab.
Mit der Dissertation Das jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diasporajudentums begründete F. seine eigene Art jüdischen Denkens. Er wollte herausfinden, was Menschen innerlich ähnlich denken, fühlen und handeln läßt, wenn sie nicht durch Institutionen wie Staat und gesellschaftliche Ordnungen von außen zu einem bestimmten gesellschaftlichen Verhalten angehalten werden. Er wählte sich drei Erscheinungen des Diasporajudentums aus, den Karäismus, das Reformjudentum und den Chassidismus, um jeweils die Bedeutung einer durch die gelebte Tora bestimmten Lebenspraxis auf das Verhalten der Vielen zu untersuchen. Das gesellschaftsstiftende Moment des gelebten religiösen Ethos konnte er vor allem beim Chassidismus nachweisen.
Die gesellschaftsbegründende Bedeutung, die F. in seiner Dissertation den gelebten Ethosformen zumißt, sprach er nach dem Bekanntwerden mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds Mitte der zwanziger Jahre der durch die Lebenspraxis geprägten »libidinösen Struktur« bzw. dem »Gesellschafts-Charakter« zu. F. brachte soziologisches und psychoanalytisches Denken in seinem eigenen sozialpsychologischen Ansatz zusammen, der gerne als Freudo-Marxismus apostrophiert wird, in Wirklichkeit aber nur vor dem jüdischen Hintergrund des Frommschen Denkens adäquat verstanden werden kann. Mit diesem Ansatz grenzte er sich von einer an Institutionen interessierten Soziologie und einer an Trieben orientierten Psychoanalyse ebenso ab wie vom Mainstream des Marxismus und der Sozialpsychologie. Sein durch seine jüdischen Ursprünge definiertes erkenntnisleitendes Interesse hielt sich zeitlebens durch: Welche Lebenspraxis, das heißt, welche Erfordernisse des Wirtschaftens und der Vergesellung führen zu welchen Charakterbildungen und lassen deshalb Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln?
Die wichtigsten Früchte seiner Sozialpsychologie jüdischen Ursprungs waren die Entdeckung des »autoritären Charakters« (in Die Furcht vor der Freiheit, 1941), des »Marketing-Charakters« (in Psychoanalyse und Ethik, 1947), des »nekrophilen Charakters« und des »narzißtischen Gesellschafts-Charakters« (beide in Die Seele des Menschen, 1964).
1926 wandte sich F. von seiner Vaterreligion ab, wurde Psychoanalytiker und neben seiner Tätigkeit als Psychotherapeut von 1930 bis 1939 Mitarbeiter des von Max Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt und – nach der Emigration 1934 – in New York. Auch nach seinem Ausscheiden aus der »Frankfurter Schule« und seiner Übersiedlung nach Mexiko im Jahr 1950, verharrte sein humanwissenschaftlich und humanistisch gewendetes religiöses Interesse bei der Frage gelingenden Lebens und bei den Bedingungen für ein humanes Zusammenleben. Trotz seiner scharfen Religionskritik (1930 erschien Die Entwicklung des Christusdogmas, 1950 Psychoanalyse und Religion) begegnet man bei seinen philosophisch-anthropologischen, geschichts- und religionsphilosophischen Vorstellungen doch immer der für ihn so typischen jüdischen Philosophie.
Sein im jüdischen Denken wurzelndes Menschenbild motivierte ihn, die Freudsche Theorie vom gleichursprünglichen Lebens- und Todestrieb zu revidieren, von einer primären Potentialität des Menschen zu Wachstum und Entfaltung der ihm eigenen Liebes- und Vernunftkräfte zu sprechen und Gewalt und Destruktivität als Ergebnis eines behinderten oder vereitelten Wachstumssyndroms anzusehen (in Anatomie der menschlichen Destruktivität, 1973, und in Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen, 1979). Er wurde nicht müde, gegen die atomare Bedrohung und für die Liebe zum Leben (»Biophilie«) zu kämpfen und die Hoffnung auf die messianische Zeit in humanistischen Utopien und Gesellschaftsentwürfen zu konkretisieren (in Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955, und in Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, 1976). Nach seiner Emeritierung 1965 in Mexiko erfüllte er sich einen lang gehegten Wunsch und schrieb Ihr werdet sein wie Gott (1966), »eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition«. Hier handelt er vom Menschen-, Geschichts- und Gottesbild des Judentums und zeichnet eine Entwicklungslinie, die über das jüdische Bilderverbot und die negative Attributenlehre zur jüdischen, christlichen und buddhistischen Mystik führt. Mit Meister Eckhart plädierte der 1974 nach Europa zurückgekehrte für ein Gottesbild, das jeder Vorstellung Gottes »ledig« ist. Am Ende seines Lebens nannte sich F. einen »atheistischen Mystiker« – ohne je seine Vorliebe für chassidische Lieder zu verleugnen.
Werke:
- E.F. Gesamtausgabe in 12 Bdn., Stuttgart/München 1999. –
Literatur:
- R. Funk, E.F. – Liebe zum Leben. Eine Bildbiographie, Stuttgart 1999.
- R. Funk, H. Johach, G. Meyer (Hg.), E.F. heute. Zur Aktualität seines Denkens, München 2000.
Rainer Funk
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