Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Gustav Landauer
Geb. 7.4.1870 in Karlsruhe;
gest. (ermordet) 2.5.1919 in München
L. war eine der interessantesten Erscheinungen der oppositionellen Intelligenz des wilhelminischen deutschen Reiches. Sein literarisches und philosophisches Werk stand lange im Schatten der Verfemung, die sein Name während seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik erlitt, bei deren Niederschlagung L. ermordet wurde. Gleichwohl wurde sein visionär experimentelles, gesellschaftskritisches Denken in Kreisen der Lebensreformbewegung, der sozialistischen und jüdischen Jugendbewegung und des literarischen Expressionismus rezipiert und beeinflußte so die Kibbuz-Bewegung und die deutsch-jüdische Philosophie der Moderne (M. Buber, E. Bloch, W. Benjamin).
L. entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die sich erst in der Generation des Vaters in Karlsruhe niedergelassen hatte. Seine Jugend in der süddeutschen Residenzstadt beschreibt L. als einen Zustand von »Traum und Empörung«. Traum und Empörung markieren den sozusagen emotionalen Leitfaden durch Leben und Werk. Auf diese emotionale Disposition, nicht auf den politischen Anarchismus seiner Zeit, hebt L. rückblikkend ab, wenn er von sich sagt, er sei Anarchist eher denn Sozialist gewesen. Wagner, Schopenhauer, Ibsen und vor allem Nietzsche bilden die Marksteine auch seiner intellektuellen Sozialisation. Gleichwohl findet der Student der Philologie und Philosophie (1888–1892 in Heidelberg, Straßburg und Berlin) den Weg zur oppositionellen Linken in der Sozialdemokratie eines A. Bebel. Als Redakteur ihrer Zeitschrift Der Sozialist wird L. bald zum führenden Kopf dieser Gruppierung, die er dem Anarchismus annähert. Revolutionäres Engagement und literarische Interessen überschneiden sich: Der Roman Der Todesprediger (1893), eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit Nietzsches Zarathustra, und einige Novellen (Macht und Mächte, 1903) entstehen; ebenso ist L. für die künstlerische Profilierung der von der Berliner Freien Volksbühne abgespaltene Neuen freien Volksbühne verantwortlich, deren künstlerischem Beirat er zeitlebens angehörte. Neben Nietzsche wurde L.s philosophische Orientierung durch die Sprachkritik F. Mauthners geprägt. L. lernte den Schriftsteller und einflußreichen Literaturkritiker 1890 als Student in Berlin kennen und wurde zu Mauthners wichtigstem Gesprächspartner während des langwierigen Entstehungsprozesses der Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1900/1901), deren ersten Band er während einer Haftstrafe im Tegeler Gefängnis (wegen öffentlicher Beamtenbeleidigung) redigierte. Die an E. Machs Empiriokritizismus (mit seiner These von der prinzipiellen Ununterscheidbarkeit von Ich und Welt, Psychischem und Physischem) orientierte radikale Sprachskepsis des »Sprachzertrümmerers« Mauthner wird zum methodischen Leitfaden des revolutionären Anarchisten L., der auch anarchistische Positionen, wie etwa die M. Stirners, sprachskeptisch kritisiert. Mauthners Agnostizismus, seine Reduktion der Sprache auf ihre pragmatische, allenfalls ästhetische Tauglichkeit, sein radikaler Nominalismus und die daraus resultierende dogmen- und begriffskritische Perspektive fundieren L.s Zweifel an den herkömmlichen Theorien des (marxistischen) Sozialismus und des Anarchismus. In seinen Mauthner-Studien setzt er sich zunächst mit dem erkenntnistheoretischen Aspekt der Sprachkritik auseinander. Gegenüber dem resignativen Weltverlust der (Sprach-)Skepsis betont er die rebellischen, sprachschöpferischen Möglichkeiten einer neuen Mystik. Zwischen den Polen von Skepsis und Mystik – so der Titel seiner Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik (1903) – setzt sich L. hier u.a. mit der philosophischen und literarischen Sprachkrise der Jahrhundertwende (Nietzsche, H. v. Hofmannsthal) und dem zeitgenössischen Monismus (E. Haeckel, J. und H. Hart) auseinander. Seine Beschäftigung mit der christlichen Mystik, die in der Studie Meister Eckharts Mystische Schriften. In unsere Sprache übertragen (1903) gipfelt, erfährt ihre Fortsetzung im intensiven Austausch mit Martin Buber (vgl. die Korresponenz über die Anthologie Ekstatische Konfessionen, 1909 und über Daniel – Gespräche von der Verwirklichung, 1913). Durch Bubers Chassidismus-Studien wird L. die Aneignung jüdischer Denktraditionen möglich (Die Legende des Baalschem, 1910, und Martin Buber, 1913).
Biographisch fiel die Periode von L.s sprachkritisch motivierter Neuorientierung zusammen mit dem Scheitern der revolutionären Arbeiterbewegung und der ersten Ehe mit der Schneiderin Grete Leuschner. Die Verbindung mit der aus einem jüdischen Kantorenhause stammenden Lyrikerin Hedwig Lachmann unterstützte seine jüdische Orientierung, die – nicht zuletzt angesichts eines zunehmend antisemitisch sich artikulierenden wilhelminischen Deutschland – schließlich zur politischen Option wird. Als L. 1908 nach einer fast zehnjährigen Phase politischer Zurückgezogenheit wiederum mit Vorträgen über Sozialismus an die Öffentlichkeit trat, wurde in dem von ihm propagierten Programm eines Sozialistischen Bundes (vgl. seine Zeitschrift Der Sozialist, 1909–1915) auch die Bindung an Traditionen des biblischen Judentums deutlich. Judentum und Sozialismus (1912), so der Titel eines Vortrags vor der zionistischen Ortsgruppe West-Berlin, wurden jetzt als identische Ziele begriffen. Schließlich trat L. mit seiner in Bubers sozialpsychologischer Reihe Die Gesellschaft erschienenen Studie Die Revolution (1907) in die Tradition der revolutionären Rezeption des biblischen Judentums. Seine an sprachkritische Gedanken anknüpfende Deutung der europäischen Neuzeit als eines in den Polen von »Topie« und »U-Topie« sich bewegenden, periodisch nach Ausgleich strebenden revolutionären Prozesses war richtungweisend für E. Blochs Begriff der Utopie (vgl. Geist der Utopie, 1918). Der sprach- und religionskritische Horizont der Mauthnerschen Philosophie erlaubt ihm einen eigenwilligen Zugriff auf religiöse Vorstellungs- und Erfahrungstraditionen, die sein Konzept des Sozialismus maßgeblich prägen. In Formulierungen wie »Formen des Mitlebens« oder »Geist und Wahn« zur Umschreibung sozialer bzw. geistiger Gebilde wird der skeptische Gestus seines begrifflichen Experimentierens deutlich. Mit den Dreißig sozialistischen Thesen (1907), den drei Flugblättern zum Sozialistischen Bund (1908/1909) und seinem zweiten großen Essay Aufruf zum Sozialismus (1911) verbindet L. seine theoretische Perspektive mit einer rhetorischen Strategie, die sich wiederum auf Figuren der religiösen Tradition bezieht: der Schwarmgeist, der Ketzer oder der Prophet, dessen flüchtiger Ruf die Beweiskraft des wissenschaftlichen Sozialismus in Frage stellt. In diesem Essay bezieht L. seine Vorstellungen von Sozialismus ausdrücklich auf die Gerechtigkeitsvorstellung des prophetischen Judentums.
L. wandte sich nun auch ausdrücklich an ein jüdisches Publikum. So mit seinem Vortrag bei der Eröffnung des von Siegfried Lehmann in Berlin gegründeten Jüdischen Volksheims (1916). Hier spricht er von seinem Judentum als einer von den Vorfahren ererbten »Tatsächlichkeit«, die immer dann aus der Sprachlosigkeit gehoben werden muß, wenn sich das jüdische Volk an einem »Wendepunkt« seiner Geschichte befindet. Ausdrücklich hebt er auf die besondere Mission des in der Diaspora lebenden (europäischen) Judentums ab und betont die gemeinsame Zielperspektive des gegenwärtigen Judentums und des Sozialismus. Während der Zionismus ein neues jüdisches Gemeinwesen in Palästina anstrebe, lebe der Sozialist wie der »Jude in der galut« (»Jude im Exil«) als Einsamer unter den Völkern, getragen von der Sehnsucht nach einer neuen »Gemeinschaft des Geistes«. Der Begriff des »verbindenden Geistes« erhält hier neben seiner marxismuskritischen eine auf die antisemitische Metaphorik anspielende Konnotation: An die Stelle von »Bewucherung« soll verbindender Geist, an die Stelle des »Geldjudentums« soll jüdischer Geist treten. Aus dieser Position heraus nimmt L. sowohl gegen Stimmen des assimilierten Judentums Stellung, die eine originär jüdische Tradition leugnen (vgl. Zur Poesie der Juden gegen Julius Bab), als auch gegen die zionistische Option des ereẓ jisra’el (»Land Israel«). Diese Perspektive mochte für die verarmten jüdischen Massen Rußlands sinnvoll sein, nicht jedoch für L. selbst. Er begriff sich selbst und seine Persönlichkeit als ein aus den europäischen Kultur- und Sprachtraditionen gespeistes Gebilde, zu dem auch sein Judentum als eine neben anderen »Tatsächlichkeiten« gehörte (Sind das Ketzergedanken?, 1913). Damit entwarf L. einen Begriff von jüdischer Nationalität, der politischen und ethnischen Nationalismus ausschließt. Nationalität ist keine monologische Größe, sondern ererbte Vielstimmigkeit, für die jeder Jude mit seiner Individualität einsteht: »Mein Judentum und mein Deutschtum tun einander nichts […] zuleide.« Der Chauvinismus des Weltkriegs verschärft in L. auch das Bewußtsein für die Gefährdung der Juden in Europa. Er nimmt Stellung zum Ritualmordprozeß gegen den Schlachtermeister Mendel Beilis (Kiew, 1913) und zur Ostjudenpolitik des deutschen Reiches (Ostjuden und deutsches Reich). Auch in seinen literarischen Essays geht L. auf die Bedingungen jüdischer Existenz ein: So diskutiert er das Phänomen der Décadence als jüdische Adoleszenzproblematik (Walter Calé, 1907) oder geht anhand von A. Strindbergs Historischen Miniaturen (1917) dem Verhältnis von Judentum und Macht nach. Als Vermächtnis können die in den letzten Kriegsjahren entstandenen Shakespeare- Studien (1920) gelten. L. setzt sich hier am Leitfaden der Ethik Spinozas mit den subjektiven Grundlagen politischer und gesellschaftlicher Macht auseinander. Sein Shylock-Kommentar kann als seine Erklärung zum Antisemitismus der Kriegsjahre gelesen werden. Der forcierten Gewalt setzt er eine Haltung forcierter Geistigkeit, die seine jüdische Vision ist, entgegen. Sie bestimmt, gepaart mit dem klaren Bewußtsein der Grenzen des politisch Möglichen auch sein Engagement in der Münchner Räterepublik. Seine jüdische Existenz begreift L. jetzt ganz und gar politisch, als »Amt an der Menschheit«: »Wie aber die Juden, wenn sie zur Menschheit gehen sollen, erst zu sich selber kommen müssen, so wird den andern Nationen der Erde herzlich und dringend zu sagen sein, daß sie nie wahrhaft sie selber und nie auf dem Wege zur Menschheit sind, wenn sie nicht die Juden […] in ihrem Innern aufsuchen und in ihrer Wirklichkeit kennen lernen« (Kiew, 179).
Werke:
- Der Todesprediger, Dresden 1893.
- Die Revolution, Frankfurt 1907.
- Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1911.
- Der Sozialist 1909–1915 (diese 3 Bde. im Nd., Vaduz 1980).
- Der werdende Mensch, hg. M. Buber, Potsdam 1921.
- G.L. – Fritz Mauthner. Briefwechsel 1890–1919, hg. H. Delf, München 1994.
- Werkausgabe in 6 Bden., hg. G. Mattenklott und H. Delf.
- Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays und Reden zu Dichtung, Philosophie, Judentum, WA Bd. 3, hg. H. Delf › Berlin 1997. –
Literatur:
- E. Simon, Der werdende Mensch und der werdende Jude, in: Der Jude 6 (1921/22) und 8 (1922), 457–475.
- E. Lunn: Prophet of Community. The Romantic Socialism of G.L., Berkeley 1973.
- H. Delf, G.L.s frühe Nietzsche Lektüre, in: W. Stegmaier u. D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin 1997.
- H. Delf und G. Mattenklott (Hg.), G.L. im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag, Conditio Judaica 18, Tübingen 1997.
Hanna Delf von Wolzogen
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.