Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Hermann Levin Goldschmidt
Geb. 11.4.1914 in Berlin;
gest. 29.3.1998 in Zürich
G. kam 1938 als Student nach Zürich, wo er Philosophie studierte und 1941 mit der Arbeit Der Nihilismus im Licht einer kritischen Philosophie promovierte. Kurz nach 1952 gründete G. das Jüdische Lehrhaus in Zürich, das er bis 1961 leitete. G.s Forderung einer Philosophie als Dialogik (1948) machte die bei Martin Buber und seinen Zeitgenossen zunächst aus dem Zusammenhang religionsphilosophischer Ansätze entstandene Vorstellung des dialogischen Denkens zu einem Imperativ kritischen Philosophierens überhaupt. In Freiheit für den Widerspruch (1976) ging G. noch einen Schritt weiter: »Wo ein Widerspruch laut wird, dort, meint man, sei etwas falsch, statt zu begreifen, daß dort, wo kein Widerspruch vorliegt, etwas falsch sein muß« (W.A. 6, 15). Auf diese Weise deutete er das Verhältnis zwischen Partikularität und Universalität, nämlich als einen produktiven Widerspruch, dessen Spannung es – statt sie aufzulösen – auszuhalten und auszutragen gelte.
G.s Arbeit am Wiederaufbau jüdischen Lebens nach Auschwitz wurde aufgrund dieser theoretischen Einsicht zu einer Forderung, die nicht nur für das Judentum hinsichtlich der Neubestimmung seiner geschichtlichen Bedeutung von Dringlichkeit war. Vielmehr erwies sie, daß ein solcher Wiederaufbau gerade auch für die nichtjüdische Seite von grundlegender Bedeutung war, wo sie zu einem kritischen Verständnis ihrer eigenen Geschichte und der Problematik der eigenen Gegenwart gelangen wollte. Im abschließenden Abschnitt »Das jüdische Volk auf der Schwelle zur Nachkriegszeit« seiner Schrift Hermann Cohen und Martin Buber. Ein Jahrhundert Ringen um Jüdische Wirklichkeit (1946) führt G. aus, daß mit Auschwitz die Bedeutung des geschichtlichen Auftrags des jüdischen Volkes nicht widerlegt, sondern umgekehrt gerade in überwältigender Weise erneut unter Beweis gestellt worden sei. Auch wenn es einerseits zunächst einmal um die Bergung und Aufarbeitung der kulturellen Leistungen des deutschen Judentums ging, die angesichts von Auschwitz der Vergessenheit anheimzufallen drohten, so bedeutete dies mehr als bloß eine Inventarisierung archivarischer Bestände. Bewußte jüdische Weiterarbeit nach Auschwitz gründete für G. in einer Konzeption der Geschichte, welche die in der Vergangenheit nicht realisierten Entwürfe und Möglichkeiten als ein für die Gegenwart und Zukunft wegweisendes Vermächtnis begriff. Sein Buch Das Vermächtnis des deutschen Judentums (1965) sah den jüdischen Beitrag in seiner historischen Diversität als ein nicht länger zu verdrängendes Thema von zentraler Signifikanz für die Debatte der deutschen Nachkriegszeit. Kritisch gegen die Frontstellungen des Kalten Kriegs gerichtet, forderte G. dort mit aller Eindringlichkeit zur Einsicht auf, der verhinderten und dann abgebrochenen Emanzipation der Juden wenigstens nachträglich historiographisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hierdurch sollten sich nicht nur die Juden von einer selektiv blinden deutschen Geschichtsschreibung emanzipieren, sondern es sollte damit auch die Voraussetzung geschaffen werden, deutsche Geschichte selbst frei von nationalistischen Fixierungen neu zu konzipieren.
Statt Sympathie und (Selbst-)Mitleid zu später Stunde und des Verharrens bei einem selbstzufriedenen Schulddiskurs forderte G. eine ernste Besinnung, die das Trauma deutscher Schuld nicht länger bloß durch philosemitische Betroffenheitsgesten über die Vernichtung des Judentums verdrängte. Derartig entschärft und ins Mythologische erhoben bestand die Gefahr, daß dieses Trauma so zum stabilisierenden Faktor im libidinösen Haushalt der deutschen Befindlichkeit wurde. Statt nach der Vernichtung jüdischen Lebens die jüdische Geschichte weiterhin aus deutscher Perspektive wahrnehmen zu wollen, galt es für G., diese Geschichtswahrnehmung zunächst einmal selbst in Frage zu stellen und durch eine dezidiert den jüdischen Standpunkt einnehmende Darstellung zu korrigieren. G. sah sich dabei bewußt in einer Kontinuität, die an die Theorie und Praxis jüdischer Historiker von der Wissenschaft des Judentums bis zu Dubnow anschloß. Indem er die Frage nach Sinn und Ziel jüdischer Existenz nach Auschwitz im Rekurs auf die historiographische Herausforderung anging, um dem deutschen Judentum zuerst einmal seinen geschichtlichen Ort zu sichern, wies G. auf die weit über die theologische Problematik hinausweisenden Implikationen des Vermächtnisses des deutschen Judentums. Ironischerweise war es aber gerade G.s Bestehen auf der nicht bloß theologischen und allgemein menschlichen Bedeutung der jüdischen Existenz nach Auschwitz, sondern auch auf der zentralen Bedeutung des Aufarbeitens der Vergangenheit für die philosophische und konkret politische Arbeit in Deutschland, die auf enttäuschend wenig Verständnis zu stoßen schien. Für viele stellte G.s unbeirrtes Festhalten an der Botschaft des Judentums, wie der Titel eines seines Bücher lautet, eine Herausforderung dar, auf die mit Verlegenheit geantwortet wurde. Sollte es auch zuweilen zu Schuldbekenntnissen kommen, so zogen es die meisten doch vor, es bei Betroffenheitskundgebungen zu belassen und dem Judentum lieber historisch nachzutrauern als ihm eine Bedeutung für die eigene Gegenwart zugestehen zu wollen.
G. verstand seine nicht-zionistische wie nichtorthodoxe Position in der Linie von Spinoza und Mendelssohn. Er sah sich in der auf diese Denker zurückgehenden Tradition des liberalen Judentums, wie sie insbesondere auch von Leo Baeck vertreten worden war, und ihre eigenständige Verwurzelung in der deutschen Kultur hatte. Wie Leo Baeck, der Deutschland 1945 erst zu dem Zeitpunkt zu verlassen bereit war, als es klar geworden war, daß der Ruf zu seiner Wiedereinsetzung als Vertreter des deutschen Judentums ausgeblieben war, vertrat G. die Ansicht, daß das Ende des deutschen Judentums nicht durch den Nationalismus, sondern erst durch die kultur- und religionspolitischen Entscheidungen der Politik des Wiederaufbaus besiegelt worden war. Mit ihr verlagerte sich die Frage nach der Verantwortung von der strafrechtlichen in die theologische Sphäre, wo sie zum Opferdiskurs verklärt wurde. Dagegen hat G. in zahlreichen Beiträgen zum christlich-jüdischen Dialog, von dem er sich später wegen seiner Folgenlosigkeit enttäuscht zurückzog, seine Stimme erhoben. In Weil wir Brüder sind und anderen Schriften zum christlich-jüdischen Gespräch (W.A., 9) führt G. eindrücklich vor Augen, wie befreiend, herausfordernd, aber auch weiterführend der christlich-jüdische Dialog hätte sein können.
Die Vorstellung, daß biblische Weisheit auf dem Boden der Neuzeit an kritischem Potential nichts verloren hat, erlaubte es G., auch sein Interesse an anderen vergessenen Traditionen progressiven Denkens, etwa des Matriarchats, sowie an Traditionen antiker Natur- und Allverbundenheit (in Zenons Stoa) aufzuarbeiten und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Marxismus, Feminismus, Umweltschutz sowie die weltweit lautwerdende Einforderung von Freiheit und Selbstbestimmung verstand G. deswegen nicht als eine von außen an den modernen Menschen herangetragene Forderungen, sondern fand sie von den eigenen Wurzeln biblischen Denkens her mitbegründet und mitbestätigt.
Im Anschluß an Hermann Cohen verstand G. Philosophie »aus den Quellen des Judentums« als kritisches Denken, das den Geschichtsauftrag des biblischen Universalismus und die messianisch begründete Hoffnung als den Existenzgrund des Menschen in die philosophische Reflexion mit hineinnimmt. Der bewußte Rückgriff der Philosophie auf die biblischen Quellen thematisierte so die Aporie theoretischer Selbstbegründung in geschichtsphilosophisch reflektierter Weise, ohne dabei in philosophische Letztbegründungs- oder pragmatische Kontingenzdiskurse zu verfallen. Vielmehr eröffnete für G. eine Philosophie »aus den Quellen des Judentums« den Dialog nach Hegel zwischen Glauben und Wissen, Vernunft und Religion als Ort des Austragens eines Grundwiderspruchs, der jenseits dialektischer Auflösung die menschliche Existenzbedingung kennzeichnet.
In der Form philosophischer Reflexion artikulierte sich diese Problematik als die Frage, wie Partikularität und Universalität aufeinander zu beziehen seien. Das philosophische Skandalon jüdischer Existenz besteht nach G. darin, die Partikularität der eigenen Existenz in ihrer besonderen Geschichtlichkeit als Ausdruck und Garant der Universalität zu begreifen. Denn echte Universalität beweise sich erst dort, wo sie die durch Partikularität markierte Differenz als den fruchtbaren Grund begreift, um Universalität auf fruchtbare Weise zu begründen. Die Pointe jüdischer Partikularität bestand für G. darin, daß sie in der Geschichtlichkeit einer Tradition wurzelt, deren Sendungsbewußtsein gerade durch einen progressiven Universalismus bestimmt ist. Dies als dialogisch gedachtes Spannungsverhältnis, das das Judentum als entscheidendes Moment in der neuzeitlichen Konzeption von Universalismus ausweist, vermag nach G. die immer wieder als überraschend erfahrene Lebens- und Überlebenskraft des Judentums zu erklären. Traditionelle Vorstellungen von Universalität setzen stets das völlige Aufgehen des Partikularen in dem als universal Gesetzten voraus. Gegen solche hierarchischen Vorstellungen, selbst in dialektisch dynamisierter Form, machte G. geltend, daß Universalität als kritischer Wechselbegriff verstanden stets mit der Konzeption von Partikularität selbst verknüpft sei. Wird aber Universalität als dialogisch konzipierter Korrespondenzbegriff begriffen, so wird aus einem unhinterfragbar normativen Konstrukt von Universalität eine dynamisierte Vorstellung, die sich gerade in der Differenz begründet weiß.
Für G. bestand die Botschaft des Judentums in einem Auftrag, der weit über theologische Fragen hinaus auf die messianische Hoffnung auf die künftige Freiheit der ganzen Welt wies. Diese Hoffnung war nach G. die entscheidende Quelle, aus der sich auch die Möglichkeit speiste, Philosophie sinnvoll als kritisches Projekt zu betreiben. Fernab und kritisch gegenüber wissenschaftspraktischen und institutionellen Vorgaben bewegte sich sein Denken außerhalb des akademischen Diskurses zwischen den Disziplinen und auch dort noch anders als die eingeschliffenen Formen institutionell sanktionierter Interdisziplinarität. G.s philosophische Grundlagenbesinnung reflektiert in kritischer Weise die eigene Geschichtlichkeit, deren spekulatives Moment es ihm statt zu eliminieren oder als Kontingenz festzuschreiben, in kritischer Weise durchzuarbeiten gilt.
In G.s Schriften zum biblischen und neuzeitlichen Judentum ebenso wie in seinen Arbeiten zu Lao-Tse, Xanthippe, Zenons Stoa, Judas, Pestalozzi, Bachofen, Burckhardt, Nietzsche und Turel sowie seinen anderen philosophischen Essays ging es ihm stets darum, den produktiven Widerspruch in seiner historischen Spezifizität laut und für die philosophische Reflexion fruchtbar werden zu lassen. Biblische Quellen und jüdische Tradition wurden dabei zum integralen Bestandteil eines Denkens, das im Rekurs auf bewußte Partikularität theoretisch einen kritischen Universalismus zu begründen suchte. G.s aus den Quellen des Judentums schöpfender Universalismus und Messianismus vermag seine Aussage zu verdeutlichen: »Heiliges Land ist überall« (Weil wir Brüder sind, 185–198).
Werke:
- Werkausgabe, Wien 1993ff..
- Weil wir Brüder sind, Stuttgart 1975. –
Literatur:
- W. Goetschel (Hg.), Perspektiven der Dialogik, Wien 1994.
- W. Goetschel, H. L.G., in: S. Gilman and J. Zipes (Hg.), Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture, 1096–1996, New Haven 1997, 704–709.
Willi Goetschel
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