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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Irving (Yitz) Greenberg

Geb. 1933 in New York

Im Mittelpunkt von G.s religionsphilosophischen Überlegungen steht eine Neubestimmung jüdischer Existenz vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrung des Holocaust. Als eine der hervorragendsten Stimmen des gemäßigt orthodoxen amerikanischen Judentums ist G. stark geprägt von der im 19. Jahrhundert in Litauen entstandenen, zwischen Chassidismus und Reformbewegung einzuordnenden Musar-Bewegung (hebr. musar, »Ethik«), deren pietistische Gestimmtheit auf die emotionalen, spirituellen und ethisch-moralischen Aspekte des Talmud-Studiums mehr Wert legte als auf sein rein intellektuelles Verständnis. Das innerjüdische Gewicht seiner religionsphilosophischen Überlegungen manifestiert sich nicht zuletzt auch in seinen exponierten Funktionen als Gründungsdirektor des National Jewish Center for Learning and Leadership sowie als Gründungsmitglied und derzeitiger Vorsitzender des United States Holocaust Memorial Council. Im Rahmen des innerjüdischen Diskurses um die Folgen des Holocaust für das jüdische Selbstverständnis vertritt G. einen »dialektischen« Ansatz, der im Kern eine Religions- und Säkularisationskritik mit einer religiösen und politischen Standortbestimmung jüdischer Existenz verbindet.

Ausgehend von der Tatsache, daß das Judentum seinen Glauben und seine Identität maßgeblich auf historisch verbriefte Ereignisse stützt, komme es nicht umhin, im Holocaust ein historisches Ereignis zu erkennen, dessen Beweiskraft, insbesondere in Anbetracht der über eine Million ermordeten Kinder, die Grundlagen der eigenen Tradition zu widerlegen scheint. Andererseits habe Auschwitz jedoch auch den Bankrott der modernen, säkularen Kultur offenbart und gezeigt, »daß ein unbegrenzter, wertfreier Gebrauch von Wissen und Wissenschaft […] den Weg geebnet hat für den bürokratischen und wissenschaftlichen Feldzug des Todes« (Cloud of Smoke, Pillar of Fire). Die fraglich gewordenen Grundlagen der Religiosität sowie das Versagen der säkularen Traditionen gebieten es daher, von jeglichen Verabsolutierungen Abstand zu nehmen.

Religiös bedeute dies, daß nur noch von »Augenblicken des Glaubens« gesprochen werden könne, »Augenblicke, in denen der Erlöser und die Vision der Erlösung gegenwärtig sind, unterbrochen von Zeiten, in denen die Flammen und der Rauch der verbrennenden Kinder den Glauben auslöschen … « (Cloud of Smoke, Pillar of Fire). Dieser »dialektische Glaube« zeige zudem, daß Kategorien wie ›säkular‹ und ›religiös‹ ein für allemal obsolet geworden seien. Insofern ist nicht mehr Bekenntnis und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tradition das entscheidende Kriterium, sondern das Tun und Handeln des Menschen, denn »Religion ist, was Religion tut; alles andere ist Geschwätz«. Ebenso wie das ethisch verwerfliche Handeln eines ›religiösen‹ Menschen dessen profane Bösartigkeit offenbare, verweise das ethisch gerechte Tun eines säkularen Menschen auf eine verborgene Heiligkeit des Profanen. Aus jüdischer Sicht dokumentiere mithin jeder Akt sozialer Gerechtigkeit, jeder Akt humaner und würdevoller Sozialisierung eine »heilige Dimension des Profanen« und werde als solche Teil einer »säkularisierten Halacha« (The Third Great Cycle in Jewish History).

Auf besonders dramatische Weise spiegelt die Wiedererrichtung Israels diese Zusammenhänge wider und ergänzt sie durch einen weiteren, entscheidenden Aspekt. Zunächst unterstreiche die Staatsgründung selbst den dialektischen Charakter jüdischer Existenz im Schatten des Holocaust: »Wenn die Erfahrung von Auschwitz unser Abgeschnitten-Sein von Gott und der Hoffnung symbolisiert […], dann symbolisiert die Erfahrung von Jerusalem, daß Gottes Verheißungen glaubhaft sind und Sein Volk weiterlebt. […] Israels Glaube an den Gott der Geschichte verlangt, daß ein beispielloser Akt der Zerstörung von einem ebenso beispiellosen Akt der Erlösung konterkariert wird, und genau dies ist geschehen« (Cloud of Smoke, Pillar of Fire). Demzufolge lebe das gesamte jüdische Volk in einer dialektischen Spannung zwischen Nihilismus und Erlösung, zwischen der Erfahrung der Vernichtung und jener der Errettung.

Die auf individueller, kollektiver, religiöser und säkularer Ebene bereits wirksame Dialektik erstrecke sich im Kontext der neugewonnenen Staatlichkeit jüdischer Existenz nun auch auf die (macht-)politische Ebene: »Aus der Erfahrung des Holocaust erwächst die Forderung nach einer Verteilung der Macht. Das Leitprinzip ist einfach. Niemals wieder sollte irgend jemand bezüglich seiner fundamentalen Sicherheit und seines Existenzrechts allein vom guten Willen anderer abhängig sein. […] Niemand sollte mit weniger Macht ausgerüstet sein, als er benötigt, um seine Würde absichern zu können« (Cloud of Smoke, Pillar of Fire). Anknüpfend an seine Vorstellung von einer in die Säkularität hineinverschlungenen Gegenwart des Göttlichen, sieht G. die einschneidendste Veränderung in der Beschaffenheit des Judentums im »Übergang der Herrschaft des Sakralen zur Herrschaft des Säkularen«, was im Kontext der Staatlichkeit Israels einer »Bewegung von der Ohnmacht zur Macht« gleichkomme. Der Fähigkeit, mit dem neu gewonnenen Machtstatus verantwortlich umzugehen, falle eine entscheidende Bedeutung in der Beantwortung der Frage zu, ob Israel und das Judentum der »Dialektik der Macht« gewachsen sei. Die dieser Dialektik innewohnende Spannung bewege sich zwischen den unbestreitbaren Tatsachen, daß einerseits jüdische Machtlosigkeit »unmoralisch« sei, andererseits aber »Macht unausweichlich korrumpiert […]. Der Erweis ihrer Moralität wird durch eine relative Verminderung des Bösen und bessere Mechanismen der Selbstkritik, Korrekturfähigkeit und Bußfertigkeit zu erbringen sein.« Gelingen könne dies nur durch eine starke und stetige Erinnerung an das historische Leid der Juden und ihre Machtlosigkeit: »Es ist so leicht, die Lehren der Sklaverei zu vergessen, ist einem erst einmal Macht zugewachsen, aber solche Vergeßlichkeit wird dazu führen, anderen auf gefühllose Weise Schmerz zuzufügen […]. Erinnerung ist der Schlüssel zur Moralität« (The Third Great Cycle in Jewish History).

Werke:

  • Cloud of Smoke, Pillar of Fire. Judaism, Christianity, and Modernity after the Holocaust, in: E. Fleischner (Hg.), Auschwitz – Beginning of a New Era?, New York 1977, 7–55.
  • The Third Great Cycle in Jewish History, in: Perspectives (1981), 8–34.
  • The Jewish Way, New York 1983. –

Literatur:

  • M. Wyschogrod, Auschwitz – Beginning of a New Era?, in: Tradition 16 (1977/78), 63–78.
  • M. Ellis, Toward a Jewish Theology of Liberation, Maryknoll 1987.
  • C. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1996.

Christoph Münz

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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