Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Isaak de Pinto
Geb. 1715/17 in Bordeaux;
gest. 1787 (in Holland?)
P. war einer der wenigen jüdischen Intellektuellen – neben Moses Mendelssohn und einigen anderen Männern und Frauen der Haskala und der Berliner Salons –, der eine herausragende Rolle in der europäischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts gespielt hat. Er stammte aus einer alten Marranen-Familie, die sich in den großen sefardischen Zentren Europas verzweigte. In Bordeaux als einem dieser Zentren geboren, ließ sich der als Bankier tätige P. aus beruflichen Gründen in Amsterdam nieder. Dort war er der persönliche Financier und Berater des Amsterdamer Statthalters. Bekannt wurde P., der sich auch lange in London und Paris aufhielt, als Schriftsteller und Ökonom. Denis Diderot, der ihn gut kannte, zeichnete von ihm das Bild eines Libertin (ohne ihn beim Namen zu nennen, läßt er ihn in seinem Dialog »Rameaus Neffe« auftreten). Tatsächlich war er ein angesehener Notabler, der fest in die jüdische Gemeinschaft in Den Haag als ihr parnass oder Leiter integriert war. Gleichwohl vertrat er als Deist das »aufgeklärte« Judentum und ließ z.B. statt in England, wo die rabbinische Orthodoxie es nicht gestattete, eine englische Übersetzung des Pentateuch (1761–1766) in New York drucken.
Nach Arthur Herzberg ist P. der bedeutendste jüdische Schriftsteller vor der Französischen Revolution. Wahr ist sicherlich, daß er durch seine Zugehörigkeit zur »portugiesischen Nation« marranischen Ursprungs sehr viel besser in den europäischen Diskurs der Aufklärung integriert war als Juden anderer Herkunft. Daß er sich mit dieser »jüdisch-portugiesischen Nation«, wie man zu seiner Zeit sagte, stark identifizierte, beweist P.s erstes auf Portugiesisch geschriebenes Buch über die »Konstitution der jüdischen Nation«, das vom desolaten Zustand ihrer Finanzen und den Wegen zu ihrer Konsolidierung handelt. Das Netz von P.s Beziehungen erstreckte sich über fast die gesamte europäische Gelehrtenrepublik. Er hatte Freunde und Korrespondenten in allen Hauptstädten Europas, jüdische wie Moses Mendelssohn, aber auch nicht-jüdische Denker der Aufklärung wie David Hume, Adam Smith, François Marie Voltaire, Denis Diderot und Jean-Paul Marat. Er publizierte vor allem auf dem Gebiet der Nationalökonomie, aber auch über philosophische und politische Themen. So sprach er sich gegen die amerikanische Unabhängigkeit aus, da er die traditionellen politischen Autoritäten respektierte. Als Philosoph der Ökonomie wagte er es aber, gegen die Moralisten (maßvoll) für Spiel und Luxus einzutreten. Herzberg stellte deshalb bei P. mehr als nur eine schwache Antizipation der Keynes’schen Ökonomie fest. Schon Karl Marx hatte P. wegen seiner Befürwortung der Börsenspekulation den »Pindar der Amsterdamer Börse« genannt, und auch Werner Sombart sprach sich für einen besonderen Platz von P.s Abhandlung über den »Geldumlauf und den Kredit« (Traité de la circulation et du crédit, 1771) in der Geschichte der Nationalökonomie aus. In diesen Fragen war P.s Position »mit den Modernen« wie etwa Voltaire und stellte sich gegen den exklusiven Kult der »römischen Tugenden« und die Weltverneinung der jansenistischen Prediger. Aber wegen der Angriffe Voltaires gegen die Juden (auch gegen die »portugiesische Nation«, der man gewöhnlich die Vorurteile gegen die »einfachen« Juden ersparte), verstrickte sich P. in einen ungleichen Kampf gegen den Riesen der Aufklärung.
Es ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob Voltaire – anachronistisch gesprochen – ein Antisemit oder eher ein Judenhasser war. Voltaire hat nicht durchgängig feindselig über die Juden gesprochen, denn wie Montesquieu hat er die Barbarei der Inquisition gegeißelt. Aber in demselben Jugendgedicht, in dem er den Opfern der Inquisition Kränze flicht (La Henriade, 1723), charakterisiert er die Lehre von Moses folgendermaßen: »Die subtile Lüge, die als Wahrheit/Dieses Gesetzgebers erschien, begründete die Autorität/Und ließ dem öffentlichen Glauben seinen Lauf,/Von dem die Welt infiziert wurde.« Unübersehbar wurden Voltaires Ausfälle gegen die Juden in seinem Dictionnaire Philosophique, deren Unverblümtheit ihre Aufnahme bei den Nazis und dem Vichy-Regime erklärt. Die Juden seien »das abscheulichste Volk der Erde«, und »in allem Nachahmer« – dies alles spätere Gemeinplätze des Antisemitismus. Hiergegen wurde P. mit seiner 1762 in Amsterdam veröffentlichten Apologie pour la nation juive (1762) aktiv. Nach Ansicht einiger Forscher hat P. sich in die Auseinandersetzung mit dem »König Voltaire« gestürzt, weil andere »Portugiesen« ihn aufgefordert hatten, sich für die Sache seiner Nation einzusetzen, deren Position durch die »Juden des Papstes« (die Avignonnais) bedroht schien. Nur so lassen sich P.s Anstrengungen verstehen, die deutlich machen sollten, daß die »portugiesischen Juden« den anderen Juden durch ihren Ursprung überlegen seien. P. argumentiert, daß die »Nation« oder Gemeinschaft, die heute sefardisch genannt wird, aus den Nachkommen der in die Niederlande, nach Hamburg, Dänemark, Großbritannien, Italien (Livorno) und bestimmte Städte in Frankreich (Bordeaux, Paris) ausgewanderten Marranen bestehe. Die Nachkommen der aus Spanien und Portugal ins ottomanische Reich und Marokko Geflohenen dagegen rechnete P. nicht zur »Nation juive«. Mit den deutschen und polnischen Juden, den ashkenazim, solidarisierte sich P. trotz manch strenger Formulierung wegen ihrer Rückständigkeit, die P. auf ihre Diskriminierung zurückführte.
Voltaire antwortete seinem »portugiesischen« Kritiker unverzüglich, daß er in der Tat »böse und ungerechte Zeilen« geschrieben habe, daß es »unter euch sehr gebildete und sehr achtenswerte Menschen gibt«; aber er fügte sogleich hinzu: »Ich sage Ihnen mit der gleichen Offenheit, daß nicht wenige Menschen weder eure Gesetze, noch eure Bücher und euren Aberglauben aushalten können.« Die Dynamik der Kontroverse vereitelte, daß es bei P.s Verteidigung der Minorität einer Minorität blieb. Gegen die giftigen Bemerkungen Voltaires zitiert P. Montesquieu: »Ihr verachtet uns, ihr haßt uns, uns, die wir das glauben, was ihr glaubt, weil wir nicht alles glauben, was ihr glaubt. Wir folgen einer Religion, die, wie ihr wißt, einstmals von Gott geliebt wurde, und wir denken, daß Gott sie immer noch liebt […] (De l’esprit des Lois, Buch 34, Kap. 13; Montesquieu legte diese Worte einer jungen Jüdin in den Mund, die von der Inquisition zum Scheiterhaufen geführt wurde). Schließlich wurde diese Debatte zwischen P. und Voltaire auch noch von den katholischen Widersachern Voltaires instrumentalisiert. Ein Priester, der Abbé Guénée, veröffentlichte 1776, zwei Jahre vor Voltaires Tod, seine bekannten Lettres de quelques Juifs portugais, allemands et polonais à Monsieur de Voltaire. Ziel Guénées war es zu zeigen, daß der Apostel der Toleranz selber intolerant war. Voltaire antwortet mit Un Chrétien contre six juifs (1777; »Ein Christ gegen sechs Juden«). Die dieser Auseinandersetzung eigentlich zugrunde liegende Frage, nämlich ob die Juden emanzipiert würden oder Menschen zweiter Klasse bleiben sollten, stellte erst die folgende Generation (Herz Cerf-Beer von Medelsheim, Gabriel-Honore Riqueti, Graf von Mirabeau, Pater Henri Grégoire). P. hat das ganze Dilemma des modernen Juden als Weltbürger vorausgeahnt. Er vertraute auf die Aufklärung und hoffte, daß sie dem Haß der Nationen angesichts der sich ankündigenden Emanzipation eine andere Farbe geben könne.
Obwohl in P.s Schriften die Juden und das Judentum nur selten erwähnt werden, könnte es sein, daß sie einen versteckten »jüdischen« Aspekt, einen »intellektuellen Marranismus« enthalten. Hertzberg hat diese Hypothese nach der Analyse von P.s Précis de argumentes contre les matérialistes (»Abriß der Argumente gegen die Materialisten«; 1774) geäußert. Diese Schrift ist gegen diejenigen gerichtet, die die Herrschaft der Natur befürworteten (wogegen P. u.a. Mendelssohns Phaidon ins Feld führt). P. stimmte der These der ökonomischen »Philosophen« zu, nach der die Erde oder besser die landwirtschaftliche Produktion eine Quelle des Reichtums darstelle – um sie aber sofort zu nuancieren: auch der Handel gehöre dazu (wofür ihn Adam Smith pries). Gegen den Schriftsteller Gabriel Mably, der den polnischen Juden vorwirft, Parasiten der Agrargesellschaft zu sein, lobt P. den kleinen, fleißigen und bescheidenen Grundbesitzer und wirft am Beispiel Polens dem Großgrundbesitzer vor, einen unfruchtbaren Einfluß auf die Weltwirtschaft zu haben. Man kann in dieser Verteidigung des »weichen Handels« und der Geldzirkulation eine heimliche Apologie des »nicht grundbesitzenden« Judentums sehen.
Werke:
- Apologie pour la nation juive, ou réfléxions critiques sur le premier chapitre du VIIème tome des oeuvres de Voltaire au sujet des Juifs, Amsterdam 1762.
- Essai sur le luxe, Amsterdam 1762.
- Lettre de l’auteur à Mr. D(iderot) sur le jeu de cartes, Londres 1768.
- Traité de la circulation et du crédit, Amsterdam 1771.
- Précis des arguments contre les matérialistes, Amsterdam 1774.
- Letters on the American Troubles, Londres 1776. –
Literatur:
- M. B. Amzacak, Oeconomista I.P., Lisabonn 1922.
- I.S. Wijler, I.P., sa vie et ses oeuvres, Paris 1923.
- A. Hertzberg, The French enlightenment and the Jews, New York/Oxford 1968.
- H. Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, Nd. Darmstadt 1998.
Daniel Lindenberg (Übersetzung: Monika Brand)
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