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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Israel Saruq

Ca. 1540–1610

Bei der Verbreitung der lurianischen Kabbala spielten I.s Reisen nach Europa eine entscheidende Rolle. I. wuchs als jüngerer Zeitgenosse Isaak Lurias in Ägypten auf, sein Vater war offenbar ein Isaak Saruq aus Kairo. I. gehörte zu einem Kreis von Kabbalisten in Safed, von dem sonst wenig bekannt ist. Sehr wahrscheinlich studierte er auch bei Isaak Luria (R. Meroz). Er adaptierte Lurias innovative Kabbala, verband sie aber mit eigenen Vorstellungen, die eher in der Tradition der Schule von Moshe Cordovero stehen. I.s kabbalistische Weiterentwicklungen unterschieden sich sehr von den Darstellungen anderer renommierter Schüler Lurias, wie Chajim Vital, Moses Jonah und Joseph ibn Tabul. Ab 1587 wird I. in den Schriften seines berühmtesten Schülers Menachem Azarja Fano in Norditalien erwähnt. Dort wirkte I. vor allem als Wanderprediger. Sein Aufenthalt in Venedig wird von seinen Schülern noch gegen Ende des Jahres 1600 sowie für 1603 bezeugt. In der antikabbalistischen Polemik »Brüllender Löwe« von Leone Modena, der I. während dessen Zeit in Venedig »tausendmal« gesprochen haben will, wird I. mit den Worten zitiert, daß es zwischen Kabbala und Philosophie keinen Unterschied gäbe, und er Kabbala nur auf philosophische Weise lehren würde. Wann I. in Ragusa (Dubrovnik) Abraham Kohen de Herrera in seiner neuplatonischen Version der lurianischen Kabbala unterwies, ist unklar. Ein Aufenthalt in Polen wird durch eine Familientradition bestätigt, wonach Pinchas ha-Lewi Horovitz, ein Schwager von Moshe Isserles, von I. für eine Reinkarnation des tannaitischen Gelehrten Pinchas ben Jair gehalten wurde. Schließlich wird I. noch mehrfach von David ben Abraham Shemarja in seinen 1604 in Saloniki gedruckten Auslegungen zum Buch Sohar zitiert. Aus seinem Hinweis, er habe nur »ein wenig« von I.s Lehre gehört, geht allerdings hervor, daß sich I. nur kurze Zeit in Saloniki aufgehalten hat (G. Scholem). Ort und Datum seines Todes sind nicht bekannt.

Die Schriften von I. sind zum Teil in dem Sammelwerk Limmude Aẓilut (»Studien zur Emanation«, 1887, fälschlich unter Chajim Vitals Namen erschienen) inkorporiert, das auch Lehren des anonymen Kabbalistenkreises enthält, zu dem I. in Safed gehörte, und der später in Jerusalem oder Damaskus wirkte. Zwischen diesem orientalischen und dem italienischen Zweig der Saruq-Schule gab es einen kontinuierlichen Austausch, der auch I.s Weiterentwicklung seiner kabbalistischen Vorstellungen beeinflußte. Die Vorbehalte gegen einen wörtlich verstandenen Rückzug Gottes in sich selbst (zimzum), um der Schöpfung Raum zu geben, wurden bereits in einem frühen Stadium der Saruq-Schule formuliert: Nicht Gottes Rückzug ist der Anfang, sondern sein Gedanke und Wille zur Schöpfung. Nach I. verdankt die Welt ihre Entstehung einer innergöttlichen Freude, die eine Bewegung des »Unendlichen« (en sof) von sich selbst zu sich selbst verursacht. Daraus geht das »Gericht« (din) hervor, das noch untrennbar mit dem »Erbarmen« (rachamim) verbunden ist, und, darin eingegraben, die »Punkte« (neqqudot), die durch das Licht des En Sof zur idealen Welt der »Ur-Tora« aktiviert werden, die aus den Buchstaben des hebräischen Alphabets besteht. Diese Buchstaben besitzen eine magische Potenz und bilden in ihren verschiedenen Kombinationen das göttliche »Gewand« (malbush), das so als linguistischer Prozeß innerhalb des En Sof aufgefaßt wird. Die Länge des Gewandes entspricht den 231 Kombinationsmöglichkeiten hebräischer Buchstabenpaare, wie sie im Sefer Jeẓirah angegeben werden, seine Breite geht aus vier Schreibweisen des Tetragrammatons hervor. Malbush ist mit En Sof so untrennbar verbunden, wie das »Gewand der Heuschrecke« Teil seiner selbst ist.

In dem unter dem Namen von Menachem Azarja Fano gedruckten Werk Gilgule Neshamot (»Seelenwanderungen«, 1907) werden I.s visionäre Einsichten in die Transmigration berühmter biblischer und rabbinischer Gestalten im Verlauf der jüdischen Geschichte präsentiert. I. konnte nach eigenen Angaben den Ursprung der Seele jedes Menschen erkennen. In seiner Seelenlehre verbindet I. traditionelle Naturanschauung mit der lurianischen Vorstellung vom »Bruch der Gefäße«: Die göttlichen Lichtfunken sind gefangen in den vier Elementen, die »die vier Stufen der mineralischen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen Formen hervorbrachten«; jeder Mensch hat die Aufgabe, seine individuellen Funken zu befreien und sie »durch die Kraft seiner Seele zur Heiligkeit aufzurichten«.

Die Bedeutung von I. liegt sowohl in der Verbreitung der lurianischen Lehren als auch in der spezifischen Prägung, die er dieser Kabbala verlieh. Sein Ansatz, philosophische Gedankengänge mit kabbalistischen zu verbinden, wurde in besonderer Weise von Abraham Kohen de Herrera weiterentwickelt, der sich auf seinen mündlichen Unterricht bei I. berief. I.s Schriften wurden dagegen vor allem von Joseph Delmedigo rezipiert. Großen Einfluß übte die lurianische Kabbala mit I.s Zusätzen schließlich durch Naftali ben Jakob Bacheras 1648 in Amsterdam erschienene Werk ‘Emeq ha-Melekh (»Tal des Königs«) aus. In Norditalien wurde I.s Schule u.a. von Menachem Azarja Fano und Aaron Berechja von Modena fortgesetzt.

Werke:

  • Sefer Limmude Aẓilut, hg. J. A. Epstein, Munkacs 1897.
  • Gilgule Neshamot, hg. J. M. Leiner, Lublin 1907.
  • Sefer Tiqqune Shabbat, Nowy Oleksiniec 1767 (enthält I.s Kommentar zu Isaak Lurias Shabbathymnen). –

Literatur:

  • G. Scholem, I. – ein Schüler des ARI? (hebr.), in: Zion 5 (1940), 214–243.
  • R. Meroz, Contrasting Opinions among the Founders of I.s School, in: P. B. Fenton/R. Goetschel (Hg.), Expérience et écriture mystiques dans les religions du livre, Leiden 2000, 191–202.
  • R. Meroz, The Saruq School of Thought – a New History (hebr.), in: Shalem 7 (2001), 151–193.

Gerold Necker

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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