Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Jūsuf al-Baṣīr
(Joseph ben Abraham ha-Kohen ha-Ro’eh)
Geb. in Persien oder Irak; gest. ca. 1040 in Jerusalem
Mit dem Namen B. verbindet sich das theologische Werk eines bedeutenden karäischen Gelehrten, der einem streng rationalistischen Denken verpflichtet war. Das Erkennen der religiösen Wahrheit durch die Kraft des eigenen Verstandes erachtete er im Rahmen seiner theologischen Lehre als die höchste Pflicht, die jedem Gläubigen von Gott auferlegt ist. Um dem Einfluß von B. jedoch gerecht zu werden, müssen neben seinen theologischen auch seine halachischen und polemischen Schriften erwähnt werden sowie, nicht zuletzt, seine Responsen, in denen sich seine Rolle als herausragende intellektuelle und religiöse Führungsfigur der Karäer widerspiegelt.
Die Quellen von B.s rationalistischer Theologie (‘ilm al-dīn) liegen im Islam und können unter dem Begriff Kalām (wörtl. »Rede«; hier in der Bedeutung von »dialektischer Disput«) zusammengefaßt werden. Der Kalām ist vermutlich in der Frühzeit des Islam aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die Wahrheit (d.h. Überlegenheit) des Islam im Streitgespräch mit Anhängern heterodoxer islamischer Sekten und anderer Religionen zu beweisen. Die Argumente der mutakallimān (d.h. der Anhänger des Kalām) folgten rationalen Überlegungen. Somit war ein Rekurs auf die Autorität der Heiligen Schriften grundsätzlich ausgeschlossen. Die Form der Rede war der Dialog, wobei man versuchte, den Gegner unter Anwendung von rhetorischen Strategien in die Enge zu treiben, bis er schließlich gezwungen war, seine intellektuelle Niederlage einzugestehen. Die in der Frühzeit des Kalām zweifellos vorhandenen polemischen Züge traten allmählich in den Hintergrund, zugunsten eines mehr akademisch geprägten Dialoges mit dem Ziel, theologisch strittige Fragen in rhetorisch geleiteter Rede und Gegenrede zu erörtern und die jeweils gegnerische Auffassung zu widerlegen. Es war diese reifere Form des Kalām, die B. kennenlernte und sich aneignete, und zwar diejenige, wie sie in der Schule der Mu‘tazila (die bekannteste unter den frühen Gruppierungen des Kalām) in Baṣra gelehrt wurde. B. erwarb sich vermutlich in seiner frühen Zeit im Irak exzellente Kenntnisse der islamischen Theologie. Die theologischen Disputationen (mağālis) dort waren für den offenen Austausch von Argumenten bekannt, der nicht an den Grenzen einer bestimmten Religion oder Weltanschauung haltmachte. Ebenfalls war B. als ein im Herrschaftsbereich des Islam lebender Jude mit der arabischen Sprache und Kultur eng vertraut. Seine Werke hat er durchweg auf Arabisch verfaßt. Aufgrund seiner Blindheit (deshalb der euphemistische Name arab. al-baṣir bzw. hebr. haro’eh, d.h. »der Sehende«) hat er sie einem Schreiber diktiert.
Als B. zu Beginn des 11. Jahrhunderts nach Jerusalem kam – die Stadt besaß bei den Karäern eine hohe religiöse Bedeutung – traf er dort bereits auf ein blühendes Zentrum der Karäer. An ihrer Akademie wirkten die besten karäischen Köpfe. B. traf dort auf seinen Lehrer (und Gründer der Akademie) Jūsuf b. Nūḥ, dem er später in der Leitung der Akademie nachfolgte. Weitere bekannte Namen dieser von Z. Ankori so genannten »späteren Goldenen Epoche der Karäer« (Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts) sind Jefet ben ‘Elī, Sahl ben Maṣliah, Abū ’l-Farağ Harun. Die karäische Gelehrsamkeit umfaßte weit mehr als nur die rationale Theologie des Kalām. Wegen ihrer Ablehnung der mündlichen Tradition, d.h. der rabbinischen Literatur, konzentrierten sich die karäischen Gelehrten besonders auf die Bibelexegese und die Grammatik der hebräischen Sprache. Ein weiteres zentrales Thema war die Entwicklung einer karäischen Halacha, die von der rabbinischen Halacha in vielen Punkten abwich und oftmals strenger als diese gefaßt war. B.s umfangreiches Gesamtwerk erstreckt sich auf Theologie (Kitāb al-Muḥtawi; Kitāb al-Tamjīz, sowie weitere kleinere Schriften, die jedoch nicht erhalten sind), polemische Schriften (gegen Rabbaniten, Samaritaner, Islam) und Halacha (Hauptwerk: Kitāb al-Istibṣār fi l-Farā’id). Seine Responsen behandeln sowohl halachische wie auch theologische Themen.
B.s Schüler Abū ’l-Farağ Furqān b. Asad (= Joshua ben Jehudah) setzte das theologische Werk seines Lehrers fort. Tobias ben Moshe, ebenfalls ein Schüler B.s, hat dessen Werke aus dem Arabischen ins Hebräische übertragen. Dies wurde notwendig, weil die Karäer im 11. Jahrhundert von Jerusalem nach Byzanz übersiedelten, wo das Arabische rasch in Vergessenheit geriet. Der Grund für die Übersiedlung war, daß bald nach B.s Tod (1040) die Epoche der Karäer in Jerusalem durch äußere Einwirkungen zu einem jähen Ende kam: zum einen durch die Eroberung der Stadt durch die Seljuken (1071), zum andern durch die Invasion der Kreuzfahrer um 1099.
Die Theologie B.s ist in zwei große Abteilungen (uṣūl) gegliedert, nämlich das Thema der Beschaffenheit Gottes (aṣl al-tawḥīd) und die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit (aṣl al-‘adl). Der Anspruch, Gotteserkenntnis aus eigener Verstandestätigkeit heraus zu erlangen, ist für B.s Theologie von zentraler Bedeutung. Unverzichtbar für die menschliche Erkenntnis (d.h. Wissen, arab. ‘ilm) ist die sinnliche Wahrnehmung. Diese aber ist nur wirksam in bezug auf körperliche Gegenstände. Wenn B. sagt: »Das Existierende unterteilt sich in zwei Teile: Es sind dies das Urewige (al-qadīm) und das Neuentstandene (al-muḥdath)« (K. al-Tamjīz, Kap. 1), so drückt sich darin eine absolute Trennung von (urewigem) Schöpfer und (neuentstandener) Schöpfung, Unkörperlichem und Körperlichem, Gott und Mensch, Verborgenem (al-ghā’ib) und Sichtbarem (al-shāhid) aus. Ein ganzes Kapitel widmet B. der Erörterung der These: »Gott hat keine Ähnlichkeit mit der Schöpfung« (K. al-Tamjīz, Kap. 18). Weil es nicht möglich ist, Gott sinnlich wahrzunehmen, muß ein indirekter Weg mit Hilfe des Schlusses vom Sichtbaren auf das Unsichtbare (al-istidlāl bi l-shāhid ‘alā l-ghā’ib) beschritten werden. Das Sichtbare wird als Indikator (al-dalīl) verstanden, welcher auf das Unsichtbare hinweist. Dabei gibt es, was mitunter nicht ausreichend beachtet wird, zwei Ebenen, auf denen Schlußfolgerungen gezogen werden: Die erste ist die Schöpfung als solche; sie weist zwingend auf ihren Schöpfer hin: seine Allmacht, Wissen, Urewigkeit, Existenz und Leben. Die zweite, subtilere, ist der Mensch, als ein innerhalb der Schöpfung herausgehobenes Lebewesen. Hier wird nicht alleine die bloße Tatsache der Existenz eines so komplexen Geschöpfes wie des Menschen als Indikator für die Existenz eines Schöpfers herangezogen. Es werden darüber hinaus auch bestimmte Seinsstrukturen des Menschen, wie etwa einzelne Attribute (z.B. handlungsfähig, wissend, lebendig) im Detail behandelt und entsprechenden Attributen der Gottheit gegenübergestellt. Bei aller Betonung der Unvergleichbarkeit von Schöpfer und Geschöpfen (wie z.B. seine urewige im Unterschied zu ihrer neuentstandenen Existenz) soll dieser Zugang doch das rationale Erkennen der Gottheit ermöglichen. Daß dies jedoch nur innerhalb gewisser Grenzen möglich ist, die insbesondere das Erkennen des innersten Wesens der Gottheit ausschließen, war unter den mutakallimūn unstrittig.
In der zweiten Abteilung von B.s Theologie, die sich mit Fragen der Beziehung zwischen Gottheit und Menschheit auseinandersetzt (aṣl al-‘adl), entwickelt B. seine Lehre vom Menschen. Er wird dort als ein autonom und eigenverantwortlich Handelnder (al-fā‘il) dargestellt. Der mu‘tazilitische Handlungsbegriff ist weit gefaßt, er impliziert auch innere Handlungen wie Denken und Wissen. Die Objektivität des Denkens schließt dabei die Objektivität der Ethik mit ein. Dies ist für B.s Auffassung von der Gerechtigkeit Gottes wichtig, weil er Gut und Böse nicht als von Gott festgelegte Größen annahm, sondern diese seiner Meinung nach objektiven, vom Menschen einsehbaren Kriterien unterlagen. Dies schloß für B. nicht aus, daß die allmächtige Gottheit die freien Taten des Menschen vorherweiß. Die Aufrechterhaltung dieses Prinzips, das die Willensfreiheit des Menschen innerhalb der Allmacht Gottes betont und somit jedem Fatalismus abgeneigt ist, ist ein zentrales Charakteristikum für B.s Denken. Er hatte es insbesondere von dem islamischen Theologen und Rechtsgelehrten ‘Abd al-Ğabbār (gest. 1025) und anderen Vertretern der basrischen Schule der Mu‘tazila (z.B. Ibn Khallād, gest. Mitte des 10. Jahrhunderts) übernommen.
Als Leiter der Akademie der Karäer in Jerusalem erwarb sich B. auch Respekt unter den rabbinischen Gelehrten. Die Theologie B.s erfreute sich unter den Karäern einer großen Wertschätzung. Sie galt ihnen zusammen mit derjenigen seines Schülers Joshua ben Jehudah über lange Zeit als verbindlich.
Werke:
- Al-Kitāb al-Muhtawī de J. B. (Hg., übers., komment. G. Vajda), hg. D. Blumenthal, Leiden 1985. –
Literatur:
- H. Ben-Shammai, Das Kitāb al-Muhtawī des J. B. (hebr.), in: Kiryat Sefer 62 (1988–89), 407–426.
- ders., Kalām in medieval Jewish philosophy, in: D. H. Frank, O. Leaman (Hg.), History of Jewish Philosophy, London 1997, 115–148.
- D. E. Sklare, J. B.: Theological Aspects of his Halakhic Works, in: D. H. Frank (Hg.). The Jews of Medieval Islam, Leiden 1995, 249–270.
- ders., Responses to Islamic Polemics by Jewish Mutakallimun in the Tenth Century, in: H. Lazarus-Yafeh e.a. (Hg.), The Majlis. Interreligious Encounters in Medieval Islam, Wiesbaden 1999, 137–161.
Wolfgang v. Abel
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