Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Jacob Guttmann
Geb. 22.4.1845 in Beuthen (Oberschlesien);
gest. 29.9.1919 in Breslau
Das Judentum im Kontext der beiden anderen Weltreligionen Islam und Christentum zu reflektieren, war G.s Hauptanliegen. Damit stand er in der Tradition des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau, zu dessen Schülern er gehörte und dem er durch sein Wirken als Autor der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (MGWJ) und als Rabbiner – zunächst 1872–74 als Religionslehrer und Hilfsprediger bzw. Assistent Manuel Joels, ab 1891 als dessen Nachfolger in der Breslauer Synagogengemeinde – eng verbunden blieb.
Als Sohn des Talmudgelehrten Moses Guttmann geboren, war G. ab 1861 Schüler am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau sowie – als Externer – am St.-Elisabeth-Gymnasium, an dem er 1865 sein Abitur ablegte. Sein Philosophiestudium an der Breslauer Universität beendete er 1868 mit einer auf Lateinisch abgefaßten Dissertation über die unterschiedliche Grundlegung der Philosophie bei Descartes und Spinoza. In dieser von der philosophischen Fakultät preisgekrönten Arbeit ging es G. darum, Spinozas Werk nicht allein in seiner Abhängigkeit von Descartes, sondern zugleich auch von der jüdischen Tradition darzustellen (insbesondere von Maimonides, Chasdaj Crescas und der Kabbala).
In seinem weiteren wissenschaftlichen Werk hat sich G. vor allem der mittelalterlichen jüdischen Philosophie und ihrer Aufnahme bei den christlichen Denkern zugewandt. Am Anfang stand eine Arbeit über die Religionsphilosophie des Abraham ibn Da’ud (zuerst in der MGWJ 1877/78, dann 1879 separat im evangelischen Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, seinem Stammverlag von 1879–91). Es folgten u.a. Untersuchungen zu Saʽadja Gaon (1882), Ibn Gabirol (1889) und Isaak Israeli (1911 in der katholischen Reihe »Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters«), sowie mehrere Arbeiten zu Maimonides (darunter die Festschrift zum 700. Todestag). Als der letzte einer Reihe von aus Ägypten stammenden bzw. dort wirkenden Juden, die das Denken bereicherten und prägten, war Maimonides der »grösste und hervorragendste Denker«, welchen die jüdische Religionsphilosophie des Mittelalters aufzuweisen habe, weil er mit voller Erkenntnis der Differenzpunkte sich mit der arabisch-aristotelischen Philosophie auseinandergesetzt habe. Die maimonidische Philosophie sei in der Behandlung aller sublunaren Fragen als aristotelisch anzusehen. Hinsichtlich der transzendentalen Spekulationen habe jedoch Maimonides die peripathetischen Lehren mit den entsprechenden biblischen Aussagen ins Verhältnis gesetzt und beide in jeweils eigentümlicher Weise uminterpretiert – eine Methode, die ihn in seinem Gesetzesverständnis zu einem ebenso originellen wie umstrittenen Denker des mittelalterlichen Judentums gemacht habe. Seine geistige Unabhängigkeit habe ihn aber nicht zu einem Bruch mit der jüdischen Mutterreligion geführt. Eine solche Toleranz sei im Mittelalter nur innerhalb des Judentums möglich gewesen, »weil der jüdische Denker nicht unter dem Bann einer starren Dogmatik stand, wie sie sich in der Kirche und auch im Islam, aber nicht im Judenthum herausgebildet hatte.« Ein Urteil wie dieses basierte auf Arbeiten G.s zur mittelalterlichen jüdischen wie christlichen Philosophie.
Eine frühe und bedeutende Monographie war die über Das Verhältniss des Thomas von Aquino zum Judenthum und zur jüdischen Litteratur (1891). In dieser bis heute aktuellen Arbeit versuchte G. zu zeigen, »dass dem Culturleben der Völker im Mittelalter eine gewisse geistige Gebundenheit anhaftete, die auch an seinen hervorragendsten Vertretern zur Erscheinung kommt und es zur Entfaltung eines wahrhaft freien Geisteslebens in ihm nicht kommen liess.« Um so überraschender ist, daß G. am Beispiel von Thomas den Einfluß des Maimonides auf ihn insbesondere in großen Teilen der Gottes- und der Schöpfungslehre nachweisen konnte – allen christlich-religiösen Vorurteilen gegenüber den Juden zum Trotz: »Der Einfluss, den der ›Führer der Verirrten‹, das religionsphilosophische Hauptwerk des Maimonides, auf Thomas von Aquino ausgeübt hat, kann in der That nicht hoch genug angeschlagen werden.« In neun in der Folge in der Revue des Études Juives und der MGWJ publizierten Artikeln, die teilweise auch in seine Monographie Die Scholastik des 13. Jahrhunderts (1902) sowie in die erwähnte Maimonides-Festschrift Eingang gefunden haben, hat G. seinen religionskomparatistischen Ansatz weiter entfaltet und den Einfluß des Maimonides auf mehr als ein Dutzend weitere christliche Denker aufgezeigt. Außer in der mittelalterlichen Philosophie publizierte G. auch in anderen Bereichen. Er hat für die dritte und vierte Auflage von Heinrich Graetz’ Geschichte der Juden den siebten Band (»Von Maimunis Tode (1205) bis zur Verbannung der Juden aus Spanien und Portugal. Erste Hälfte«) betreut.
Im deutsch-französischen Krieg von 1870–71 wirkte G. als Feldrabbiner. Nach der Rückkehr aus dem Krieg und einer Zeit als Assistenzrabbiner und Lehrer in Breslau wurde er als Landrabbiner nach Hildesheim berufen (1874). Nach dem Tod Manuel Joels wurde er Rabbiner der (konservativen) Gemeinde in Breslau. Als solcher entfaltete er seine Aktivitäten in mehrerlei Richtungen. Auf Gemeindeebene gehörte dazu sein Engagement im Verband der deutschen Juden, im Deutsch-Israelitischen Gemeindebund, im Hilfsverein deutscher Juden, im Centralverein deutscher Staatsbürger und in der B’nai B’rith-Loge. Als Rabbiner gehörte er auch zu den Sprechern in der Generalversammlung des Verbands deutscher Rabbiner, bei der er am 7. Juli 1902 über »Die Bedeutung des Judentums im Leben der Gegenwart« sprach. In diesem Vortrag, der eine indirekte Antwort auf das Buch Das Wesen des Christentums des Berliner Kirchenhistorikers Adolf Harnack war, gab G. eine Definition von Judentum, die einerseits in deutlicher Abgrenzung vom Christentum und christlichen Angriffen auf das Judentum als einer »überwunden« geltenden Religion formuliert war und andererseits die Bedeutung des Judentums für die Kultur seiner Tochterreligion hervorhob. Eine der Fragen, die sich G. in dem Vortrag stellte, lautete: »Hat die Welt des Heidentums in sittlicher Beziehung denselben Standpunkt eingenommen wie die modernen Kulturvölker, die sich mehr oder minder der monotheistischen Gottesidee des Judentums angeschlossen haben?« In der vielgestaltigen Antwort auf diese Frage betonte G. insbesondere, daß das Judentum »der Träger der monotheistischen Gottesidee und der sittlichen Ideale [ist], die aus dieser Gottesidee entsprungen sind und nur aus ihr entspringen konnten. Darauf beruht die weltgeschichtliche Mission des Judentums, die ihm auch heute noch und für alle Zeit seine Daseinsberechtigung verleiht.« Das lasse sich u.a. an der komplexen Gestalt der talmudischen Literatur zeigen, die wie die mittelalterliche Religionsphilosophie mehr als alle christliche Literatur die Überlegenheit des Judentums hinsichtlich aller Neuerungen im religiösen Denken aufweise und darin »bis auf den heutigen Tag ein Culturfaktor geblieben« sei.
Schon früher hatte G. in einem Vortrag »Ueber Dogmenbildung im Judenthum« (1894) darzustellen versucht, daß das Judentum zwar den Versuch einer »Dogmenfixirung« seit talmudischen Zeiten kenne, dieser aber auch immer Streit hervorgerufen habe. Der bekannteste Streit sei der um die dreizehn ʽiqqarim (»Grundlehren« bzw. »Dogmen«) des Maimonides gewesen: »Auf der einen Seite waren es die Anhänger der strengen Orthodoxie, die sich mit ihr [der Dogmenfixierung] nicht befreunden konnten[,] auf der anderen Seite wieder wurde sie vom Standpunkt der rationellen Theologie aus bekämpft.« Dies geschah in der Reduktion der maimonidischen ʽiqqarim auf drei Hauptsätze bei Joseph Albo, wenngleich G. heraushob, daß Albo hierin wiederum seinerseits von Chasdaj Crescas und Simon ben Zemach Duran abhängig war. Einen erneuten Einschnitt im Streit um die Dogmen im Judentum sah G. in Moses Mendelssohns Jerusalem, aus dessen Darstellung er ableitete, »daß der Dogmenstreit im Judenthum niemals eine solche Ausdehnung gewonnen hat und so von verhängnisvollen Wirkungen begleitet war, wie in anderen Religionsgemeinschaften«. Möglich sei das nur dadurch gewesen, daß das Judentum dem einzelnen in Gewissensdingen immer die Freiheit gelassen und keinen religiösen Zwang ausgeübt habe. Zum Schluß heißt es: »Uns die unbeschränkte Freiheit fortschreitender Entwickelung auch auf dem Gebiete des religiösen Lebens, im Bereiche des Glaubens zu bewahren, das muß auch in Zukunft unsere angelegentliche Sorge bleiben.«
Als Fortsetzung derartiger programmatischer Aussagen kann G.s Tätigkeit für die Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums gesehen werden, an deren Entwicklung er u.a. in Gemeinschaft mit Hermann Cohen entscheidenden Anteil hatte. Bei der Gründung der Gesellschaft wurde er 1902 zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, nach Martin Philippsons Tod (1846–1916) wurde er ihr Vorsitzender. Zu seinem Zuständigkeitsbereich innerhalb der Gesellschaft gehörte neben der Berliner Konferenz anläßlich des 700. Todestages von Maimonides (1904) – einschließlich der Festschrift (1908/14) – auch die Konzeption und Etablierung des »Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums«. Die Anlage dieses Grundrisses zeugt von G.s Verständnis vom Judentum, das er als Bestandteil der »allgemeinen Cultur« betrachtete: Die Darstellung des jüdischen Wissens sollte sowohl systematische (Theologie, Ethik und Religionsphilosophie, Apologetik) als auch philologische (Sprachwissenschaft, Bibelexegese, Talmud), historische (Geschichte des Judentums von den Anfängen bis zur Gegenwart, Literatur- und Religionsgeschichte) und praktische Fächer (Pädagogik, Homiletik) umfassen. Innerhalb des Grundrisses war vorgesehen, daß G. den Band »Geschichte der Religionsphilosophie« übernehmen sollte. Allerdings ist dieser Band nie erschienen.
Wie Moritz Steinschneider wurde G. spät im Leben mit einer Honorarprofessur (1912 in Breslau) geehrt. Als er am 19. September 1919 hoch geehrt starb, verlor das zeitgenössische Judentum mit ihm einen der letzten großen Vertreter der Blütezeit der Wissenschaft des Judentums.
Werke:
- De Cartesii Spinozaeque philosophiis et, quae inter eas intercedat, ratione, Vratislavia (d.h. Breslau) 1868.
- Das Verhältniss des Thomas von Aquino zum Judenthum und zur jüdischen Literatur, Göttingen 1891 (Nd. in: Collected Papers of J.G., hg. St.T. Katz, New York 1980).
- Ueber Dogmenbildung im Judenthum. Vortrag hrsg. vom Verein für jüdische Geschichte und Literatur zu Breslau, Breslau 1894.
- Die Bedeutung des Judentums im Leben der Gegenwart: Referat in der am 7. Juli 1902 in Frankfurt a.M. abgehaltenen Generalversammlung des Verbandes deutscher Rabbiner, Frankfurt a.M. 1902.
- Die Scholastik des 13. Jahrhunderts in ihren Beziehungen zum Judenthum und zur jüdischen Literatur, Breslau 1902 (Nd. Hildesheim 1970). –
Literatur:
- N.M. Nathan, Verzeichnis der Schriften und der gedruckten Reden J.G.s, in: Festschrift zum 70. Geburtstag J.G.s, hg. v. Vorstand der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, Leipzig 1915, VII-XV.
- G.K. Hasselhoff, »… sondern Thomas von Aquin arbeitete im Geiste Maimoni’s«. Manuel Joel (1826–1890) über Maimonides und dessen Einfluss auf die christliche Scholastik, in: M. Konkel u.a. (Hg.), Zur Konstruktion des Jüdischen in Vergangenheit und Gegenwart, Paderborn 2003, 49–67 (mit weiterführender Literatur 59–61).
- ders., The Wissenschaft des Judentums of 19th Century Germany and its Rediscovery of the Maimonidean Influence on Christianity, in: Y. Jakobson and M. Mach (Hg.), Myth, History, Historiography, and the Science of Judaism: Studies in Jewish Philosophy, Tel Aviv 2004.
- I. Heinemann, J.G., in: MGWJ 64 (1920), 250-272.
Görge K. Hasselhoff
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