Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Jean François Lyotard
Geb. 10.8.1924 in Versailles;
gest. 21.4.1998 in Paris
»Das Vorkommnis ist nicht der Herr. Die Heiden wissen darum und lachen über diese erbauliche Verwechslung« (Der Widerstreit, 21989). Trotz dieser deutlichen Grenzziehung zwischen Philosophie und Theologie ist L.s Philosophie in bedeutsamer Art und Weise von jüdischen Traditionen geprägt, auch wenn diese Prägung zu Beginn alles andere als deutlich gewesen ist.
L. hatte in Paris an der Sorbonne Philosophie studiert, arbeitete danach 1950–52 als Dozent in Constantine/Algerien und dann als Lehrer an einem Gymnasium. Philosophisch war er zunächst von der Phänomenologie Husserls geprägt, doch dann wurde der Marxismus für ihn immer bedeutsamer. Als undogmatischer Marxist engagierte sich L. ab 1954 in der Gruppe »Socialisme ou Barbarie«, trat dann aber 1966 aus der Gruppe aus, weil er sich vom Marxismus zu distanzieren begann. Nichtsdestotrotz behielt das Marxsche Denken für L. in der ersten Phase seines philosophischen Schaffens eine große Bedeutung, wobei allerdings die Prägung durch Marx zurücktrat zugunsten einer philosophischen Rezeption der Freudschen Psychoanalyse. Diese Perspektive bestimmte denn auch die Dissertation Discours, figure (1971) sowie das Buch Economie libidinale (1974), in dem sich L. endgültig vom Marxismus lossagte.
Mit der Veröffentlichung von Au Juste 1979 begann eine zweite Schaffensperiode, in der Kant, später dann auch Wittgenstein und Heidegger bedeutsam wurden. In diese Phase – L. war mittlerweile an der Universität Nanterre und dann an der Universität Paris VIII tätig – fiel auch das Bekenntnis zur Postmoderne mit der Publikation von La Condition Postmoderne (1979). Doch erst im Hauptwerk Le Différend (1983) wurde auch die Rezeption von Motiven jüdischer Tradition erkennbar. L. belegt nämlich die von ihm vertretene These der Irreduzibilität widerstreitender, heterogener Diskursgenres mit der sog. »Faurisson-These«, so benannt nach dem Historiker Robert Faurisson. Jener leugnete die Existenz von Auschwitz und stützte sich dabei auf die Behauptung, daß es unmöglich sei, die Existenz der Gaskammern zu bezeugen, denn dazu bräuchte es Augenzeugen, doch die Augenzeugen sind tot, können also kein Zeugnis ablegen. Dieses Argument gilt L. nicht nur als Beleg für den »Widerstreit«, sondern auch als Motivation für die zentrale Frage, wie von einem prinzipiell Undarstellbaren Zeugnis abgelegt werden kann. Damit wird Auschwitz zum Ausgangspunkt der Frage nach der Bedeutung des Undarstellbaren. Sie ist für L. um so dringlicher, als die Unmöglichkeit der Bezeugung eine nochmalige Auslöschung der Juden impliziert, die Auslöschung der Opfer als Opfer.
Diesen Überlegungen ging L. insbesondere in Heidegger et ›les juifs‹ (1988) nach. Auschwitz steht nicht nur für das Unaussprechliche und seine Darstellung, sondern ist auch zum »Eigennamen« für ein Programm geworden, dessen Ziel gerade die Auslöschung individueller Namen wie auch des Kollektivnamens »Jüdin/Jude« war. Denn »Jüdinnen/Juden« bezeugen das Nicht-Darstellbare und Nicht-Identifizierbare; sie repräsentieren die Leerstelle des Denkens. Damit bedeuten sie für das abendländische Denken einen bedrohlichen Mangel, denn dieses ist gleichbedeutend mit einer Metaphysik der Identität, des Ursprungs und der Präsenz. Das Denken der »Juden« repräsentiert das Andere der abendländischen Metaphysik. Es widersetzt sich dem Willen des Abendlandes nach totaler Verfügungsmacht und läßt sich als ein Denken bezeichnen, das auf das Undarstellbare hört, welches nicht begriffen und begründet, sondern nur empfangen, erinnert und bezeugt werden kann. Die Auslöschung »der Juden«, für die der namenlose Name Auschwitz steht, ist demnach für L. als Versuch zu verstehen, das zu nihilieren, was die abendländische Identität bedroht. »Auschwitz« stünde folglich für die fürchterliche Konsequenz eines Denkens totaler Verfügungsmacht, das kein »Anderes« anerkennen will.
Darauf aufbauend, bestimmt L. in Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit (1985) einen neuen Begriff der »Absolutheit«. Er identifiziert das Absolute einem unbedingten Sollen, welches nicht material, sondern rein formal bestimmbar ist. Es ist dem Sein radikal entzogen, ist radikale Absenz und Transzendenz. Damit aber erweist sich das Absolute als undarstellbar und unbegründbar. Dementsprechend ist es weder Ursprung noch letzter Grund, sondern vielmehr »Ereignis«, wie L. etwa in Le Différend argumentiert. Hier gibt es Bezüge zwischen L. und Jacques Derridas Kritik am Ursprungsdenken der Metaphysik und zu Derridas Überlegungen zur »différance« als ›nichtursprünglichem Ursprung‹. Voraussetzung der Identifikation von Absolutem und Ereignis ist eine sprachphilosophisch ausgerichtete Ereignisontologie, die stark von Heidegger und von Wittgenstein beeinflußt ist: »Welt« setzt sich zusammen aus einer Pluralität von Satz-Universen bzw. Diskursgenres. Diese werden von L. mit Ereignissen gleichgesetzt. Satzverkettungen ereignen sich unter bestimmten Verkettungsregeln. Was »es gibt«, ist also nichts anderes als eine Pluralität von Sprachspielen und Diskursgenres, die wiederum in einem heterogenen Verhältnis zueinander stehen, ohne Regeln, die die Diskursgenres zu einer übergeordneten Einheit zusammenfügten. Die Ereignisse sind singulär, heterogen, inkommensurabel. Das Absolute im Sinne des »Geschieht es?« ist demnach nichts anderes als die Tatsache, daß etwas geschieht. Damit ist das Ereignis genauso formal wie das Gesetz. Das Ereignis macht sich selbst zum unbedingten Anspruch.
L. entwickelt eine Ästhetik der Undarstellbarkeit. Das so gedachte Absolute kann sich nur indirekt zeigen. Solch eine indirekte Präsentation kann nur die Präsenz der Absenz sein, d.h. die Darstellung der Nicht-Darstellbarkeit des Absoluten. Das kann als negative Darstellung bezeichnet werden. Sie vollzieht sich als Spur, als Zeichen, Symbol. Dies meint kein Abbild eines Urbildes, denn das Absolute ist keine Wesenheit, sondern Verborgenheit, Absenz. Dabei schließt L. an eine Ästhetik des Erhabenen an, wie sie Burke und Kant im 18. Jahrhundert entwickelt haben. Das erhabene Gefühl ist ein negatives Gefühl; es ist die Lust an der Unlust über die Unmöglichkeit der Darstellung. L.s Interesse an solchen Fragen der Ästhetik dokumentierte sich nicht allein in zahlreichen Publikationen wie etwa Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens (1986), sondern auch in der Organisation der Ausstellung Les Immatériaux in Paris im Jahr 1985.
Unter anderem an dieser ästhetischen Problematik zeigt sich, daß Elemente von L.s Denken mit Elementen der jüdischen Denktraditionen korrespondieren. In seinen letzten Werken reflektiert dies L. auch explizit, so etwa in Ein Bindestrich (1995). Die ästhetische Problematik tritt auf in L.s Überlegungen zum Bilderverbot. Das Absolute ist nicht darstellbar und kann sich allenfalls im Modus der negativen Darstellung, etwa im Gefühl des Erhabenen, zeigen, andernfalls wäre es verfügbar. Diese sieht L. in der Kunst der Avantgarde erfüllt. Das avantgardistische Kunstwerk ist »Epiphanie« des Undarstellbaren. Am Beispiel der Werke Barnett Newmans verdeutlicht L. in Der Augenblick, Newman (1986), daß das Kunstwerk auf das Absolute verweist, indem es auf sich selbst als Einzel-Ereignis referiert. Das avantgardistische Kunstwerk ist ebenso inhaltsleer und formal wie das undarstellbare Absolute, und es löst ein erhabenes Gefühl aus, welches die Möglichkeitsbedingung der negativen Darstellung ist.
Ein weiteres Element jüdischer Tradition in L.s Denken ist die Frage nach den Spuren des Absoluten in der Welt und der Geschichte. Eine Spur des Absoluten ist der Buchstabe der Tora, in dem sich hier das immaterielle Geheimnis des Absoluten negativ »materialisiert«. Eine weitere Spur ist der Name als Darstellung des »Namenlosen«, denn der Name ist bedeutungsleer, rein formal, weshalb er auf etwas hinweisen kann, ohne es definieren zu wollen, aber auch ohne es repräsentieren zu können. Solch ein Name ist insbesondere JHWH, der unaussprechliche Name, der nicht Name eines göttlichen Wesens ist, sondern in seiner Unnennbarkeit Spur des Absoluten. Spur des Absoluten ist schließlich das Pflichtgefühl, verstanden als absolute Verpflichtung, als ein unbedingtes Sollen. Dieses Sollen fordert dazu auf, das Gesetz als Ereignis zu realisieren, und eben darin erkennt L. eine »Rettung« des undarstellbaren Absoluten. Sie wird erreicht durch die Haltung der Empfänglichkeit, des Gehorsams gegenüber dem gebietenden Absoluten. Das Ereignis gilt es zuzulassen, das Absolute zu empfangen und seinem Anspruch zu entsprechen, so L. in expliziter Rezeption entsprechender Überlegungen von Emmanuel Levinas. In dieser Haltung verliert das Ich seine Autonomie, verliert es sich letztlich selbst, um empfänglich sein zu können. Nicht zuletzt auch diese Empfänglichkeit läßt sich in Bezug zu jüdischen Traditionen setzen: zum Hören auf die Stimme Gottes, d.h. zum »Gehorsam« gegenüber Gott – so wie bei den »Berufungen« Abrahams, Moses’ und der Propheten –, zum Hören letztlich auf den Anspruch des Gesetzes, zu dessen Achtung Israel immer wieder ermahnt wird.
Werke:
- Das postmoderne Wissen, Wien 1986.
- Der Widerstreit, München 1987.
- Ein Bindestrich, Düsseldorf 1995. –
Literatur:
- G. Bennington, L., Manchester 1988.
- W. Welsch und C. Pries (Hg.), Ästhetik im Widerstreit, Weinheim 1991.
- S. Wendel, J.-F.L., München 1997.
- dies., Zeugnis für das Undarstellbare, in: J. Valentin und S. Wendel (Hg.), Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2000, 264–278.
Saskia Wendel
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