Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Jochanan Alemanno
Geb. ca. 1435 in Italien;
gest. nach 1504 in Mantua (?)
A.s Familie stammte aus Frankreich, sein Vater, Isaak ben Elijah, lebte in Paris, bevor er nach Italien kam, wo sein Sohn Jochanan um das Jahr 1435 geboren wurde. Dabei weist der Name A. ebenso auf die aschkenasische Herkunft, wie auch seine fast ausnahmslos als Autographen erhaltenen Schriften den aschkenasischen Hintergrund deutlich erkennen lassen. Als 21jähriger begab sich A. nach Florenz und lebte dort unter dem Patronat des Bankiers Vitale (Jechiel) da Pisa, dessen Söhne er unterrichtete. Mit 28 Jahren verließ er Florenz, begab sich zu Studienzwecken zunächst nach Padua und später nach Verona. Am 27. Februar 1470 erhielt er in Mantua von seinem Lehrer Jehudah ben Jechiel, besser bekannt als Jehudah Messer Leon, die zweifache Doktorwürde als »Doctor artium liberalium et medicinae«. Während A. bei Messer Leon lernte, arbeitete dieser an seinem magnum opus, dem Sefer Nofet Ẓufim (»Buch vom Honigseim«; nach Ps. 19,10), das bereits 1475/76 als einer der ersten hebräischen Drucke überhaupt in Mantua erschien. Auf der Basis von sechs klassischen rhetorischen Werken ist Messer Leon darum bemüht zu zeigen, daß »alles, was die antiken Rhetoriker wie Aristoteles und Quintilian gesagt haben, in der hebräischen Bibel bereits enthalten ist« – ein Konzept, das für A.s eigene Arbeiten grundlegende Bedeutung gewonnen hat. So stellt die Rhetorik einen zentralen Punkt in seinem Hauptwerk, Chaj ha-‘Olamim (»Der Ewiglebende«), dar, in dem es letztlich um die zentrale Frage geht, wie der Mensch zum ewigen Leben und zur Gemeinschaft mit Gott gelangen könne. Ganz der dialogischen Form verpflichtet, verkörpern die in diesem Werk auftretenden Personen zwei verschiedene Typen des Verstehens: »der schlichte Interpret« auf der einen und »der die Wahrheit im Herzen spricht« auf der anderen Seite. Ziel dieser Unterredung, die A. in dem langen Zeitraum von 1470 bis 1503 ausgestaltet hat und die geradezu als Enzyklopädie des Gesamtwissens seiner Zeit gelten kann, ist das Erreichen der vollkommenen Liebe zu Gott und die Vereinigung mit ihm. Daß Rhetorik und Sprache für A. eine wesentliche politische Funktion haben, zeigt die in dieser Schrift (und später in überarbeiteter Form in die Vorrede zu seinem Hoheliedkommentar) integrierte Laudatio auf die Florentiner Bürger, die sich durch »sieben Tugenden« auszeichneten, zu denen neben Demokratie (A. hält an der Fiktion der Republik Florenz fest, in der jeder zur Regierung befähigt ist, sofern das Los auf ihn fällt), Freiheitsliebe, Sinn fürs Geschäft, Solidarität (alle mit einer Stimme) eben an fünfter und sechster Stelle rhetorische Fähigkeiten gehören, bevor er die Weisheitsliebe als das siebente und höchste Gut nennt. Die Form des zweifachen Schriftsinns findet sich auch in seiner Auslegung zur Tora, ‘Ene ha-‘Edah (»Die Augen der Gemeinde«; die Arbeit an diesem Kommentar begann wohl etwa zeitgleich mit Picos Heptaplus um das Jahr 1489), die zunächst den Text in seinem Literalsinn (nigleh, »Offenbartes«) und dann allegorisch (nistar, »Verborgenes«) ausdeutet.
Als A. im Jahre 1488 zum zweitenmal nach Florenz kam, traf er dort auf den christlichen Universalgelehrten Pico della Mirandola, der als Begründer der christlichen Kabbala gelten kann. Bei der Suche nach jüdischen Kommentaren zum Hohelied gab ihm A. seine eigenen Entwürfe zur Lektüre, von denen Pico so begeistert war, daß er ihn zur raschen Ausarbeitung des Manuskripts drängte. A.s Hoheliedkommentar besteht aus zwei Büchern. Dem eigentlichen, am Text der Bibel orientierten Kommentarteil geht ein mit Ein Stufenlied Salomos (nach Psalm 127,1) überschriebener Teil voran, der als eine Salomo-Biographie verstanden werden kann. Dieses literarische Genre an sich ist in der jüdischen Tradition völlig neu und erinnert unmittelbar an entsprechende zeitgenössische Darstellungen über namhafte antike Größen, die in Petrarcas De Viris Illustribus (1338–1358) und in Boccaccios Lebensbeschreibung von Dante Alighieri ihr Vorbild haben. Natürlich darf hier auch nicht die Widmung an Lorenzo il Magnifico fehlen, die A. im Stil der humanistisch-politischen Laudatio gehalten hat. Salomo, nach der jüdischen Tradition der Verfasser des Hohenliedes, fungiert hier als biblischer Renaissancemensch. Aufgrund des biblischen Berichts und der sehr umfangreichen aggadischen Traditionen über Salomo fällt es A. nicht schwer, die florentinische Renaissance in die biblische Zeit zurückzuprojizieren. Die intensive Bautätigkeit der Renaissance läßt sich besonders gut mit Salomos Tempel- und Palastbau in Verbindung bringen. Während der Tempel vor allem auch ein theologisch-philosophisches Konzept symbolisiert und den von Gott in sieben Tagen geschaffenen Makrokosmos als Mikrokosmos darstellen soll, zeigt Salomos Thron die gesamte Macht- und Prachtentfaltung eines Renaissancefürsten. A. konnte sich hier auf die fantastische Beschreibung von Salomos Thron im sog. Targum Sheni (wörtl.: »Zweite Übersetzung«) zum Estherbuch stützen. Salomos Kulturpolitik ging nach A. noch einen Schritt weiter, wobei er Berichte über den König, die in der jüdischen Tradition eher als die Schattenseiten seiner Regierungszeit angesehen werden, nunmehr positiv im Sinne einer liberalen Politik umdeutet. So heißt es bei ihm, daß Salomo auch für die Götzen der Ammoniter und Moabiter, denen seine Frauen huldigten, Geld ausgegeben habe – nicht etwa weil er an sie geglaubt hätte, sondern weil er als ein Herrscher fungierte, der sich den Wünschen seiner Untergebenen verpflichtet wußte. In der gegenwärtigen Forschung zu A. ist die Bedeutung der neuplatonischen, magischen und hermetischen Traditionen, die aufs engste mit der platonischen Akademie in Florenz, ihrem Leiter Marsilio Ficino und dem Universalgelehrten Pico della Mirandola verbunden sind, verstärkt ins Blickfeld des Interesses gerückt. Wenn A. Salomo auch als Magus auftreten läßt, so ist dies gewiß vor allem auf den Einfluß der platonischen Akademie zurückzuführen. Auch hier konnte sich A. unschwer auf die jüdische Tradition beziehen, nach der Salomo als der Verfasser verschiedener magischer Werke gilt.
Die Bedeutung der beiden Bereiche Rhetorik und Magie läßt sich zudem an A.s Studienprogramm ablesen, das sich in seinem Sefer ha-Liqqutim (»Notizbücher«), einer über viele Jahre angelegten Sammlung von Lesefrüchten, erhalten hat. Das Curriculum beginnt mit dem Studium der Bibel, Mischna zusammen mit dem Kommentar des Maimonides, Talmud, Rashi, Tosafot und zwar am Vormittag, wohingegen der Abend für säkulare Werke, die zum sog. trivium (Grammatik, Rhetorik, Logik) und quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie – Musik wird nicht ausdrücklich genannt) gehören, reserviert ist. Das Grammatikstudium umfaßt: David Qimchis Sefer ha-Mikhlol (»Vollendung/Enzyklopädie«), Profiat Durans Ma‘aseh Efod (»Werk des Priesterkleides«) sowie Immanuel von Roms Sefer Even Bochan (»Geprüfter/kostbarer Stein«). Zum Studium der Rhetorik gehören Aristoteles’ Rhetorik, Jehudah Messer Leons bereits erwähntes Sefer Nofet Ẓufim sowie ein zweites Werk dieses Autors, das von der Poetik bei den Propheten handelt. Das weitere Studium, das in Lernzyklen von jeweils 7 Jahren bis zum 35. Lebensjahr gegliedert ist, verlangt die Lektüre von Aristoteles’ Physik und Metaphysik, zahlreiche philosophische, ethische, politische und auch medizinische Schriften von Averroes, al-Ghazālī, Ibn Gabirol, Moshe Narboni, Isaak Albalag, Jehudah Halewi, Maimonides, Joseph ibn Kaspi, Shem Tov Falaquera, Profiat Duran, Chasdaj Crescas, Jehudah von Rom, Lewi ben Gershom, Isaak ibn Latif und vielen anderen. Die letzte Studienphase ist vor allem auch der Kabbala und Magie gewidmet und enthält Menachem Recanatis Kommentar zur Tora, den anonymen Traktat Ma‘arekhet ha-Elohut (»Die göttliche Ordnung«), Werke von Abraham Abulafia, magische Schriften wie das Sefer Razi’el, das A. auch in der hebräischen Rückübersetzung aus dem Lateinischen bekannt war und Salomo zugeschrieben wurde, die hebräische Version von Ghajat al-Ḥakim oder Picatrix, das Sefer ha-Tamar (»Buch von der Palme«), Ha-Almandel, ebenfalls ein Salomo zugeschriebenes Werk, und das Sefer ha-‘Azamim (»Buch der Substanzen«), als dessen Verfasser Abraham ibn Ezra galt. Der Höhepunkt des ganzen Studiums ist ein christliches Buch über Landwirtschaft, das von Petrus de Crescentiis stammt und eine wichtige Rolle in der magischen Tradition der Renaissance spielt. Dieses Studienprogramm beschreibt gewiß A.s eigene intellektuelle Entwicklung. Während in seinen frühen Werken Magie und Kabbala keine zentrale Rolle spielen (sein Lehrer Messer Leon war ein ausgesprochener Gegner der Esoterik), steht sie später im Mittelpunkt seines Denkens. Damit steht das Studienprogramm deutlich unter dem Einfluß der platonischen Akademie und weist letztlich in Richtung der bekannten These von Picos Conclusiones (1482): »Nulla est scientia, quae nos magis certificet de divinitate Christi quam magia et Cabbala« (»Es gibt keine Wissenschaft, die uns mehr von von der Gottheit Christi überzeugen könnte, als Magie und Kabbala«). Umgekehrt wird in jüngster Zeit verstärkt erkannt, daß A. Picos Denken in verschiedener Hinsicht beeinflußt hat.
Die für A. und die platonische Akademie wichtigen Gebiete der Rhetorik und Magie zeigen sich vor allem in seiner magischen Textsammlung, die im Jahre 1927/28 von dem Kabbalaforscher Gershom Scholem in der Pariser Handschrift 849 identifiziert werden konnte. Gemäß den Angaben in dem Pariser Manuskript entstand diese Sammlung zwischen 1499 und 1505. Ob A. bereits im Jahre 1494, dem Todesjahr Picos, Florenz verließ, ist nicht sicher; spätestens 1497 jedoch mußte er die Stadt verlassen, als die Juden zusammen mit den Medicis im Zuge der Revolte Savonarolas vertrieben wurden. Da in dem Pariser Manuskript der Mantuaner Gelehrte Paride da Ceresara erwähnt wird, ist anzunehmen, daß sich A. in Mantua aufhielt, als er diese Schrift verfaßt hat. In gewissem Sinne hat A. mit dieser Sammlung magischer, kabbalistischer und philosophischer Schriften ein hebräisches Gegenstück zu Ficinos Corpus Hermeticum geschaffen. Zu den wichtigsten von ihm benutzten Quellen gehören Werke der Hekhalot-Literatur wie 3 Enoch, Ma‘aseh Merkavah (»Thronwagenwerk«), Seder Rabbah de-Bereshit (»Die große Schöpfungsordnung«), Sar ha-Torah (»Der Fürst der Tora«) und Shi‘ur Qomah (»Maß der Gestalt«), rein magische Schriften wie das Sefer ha-Razim (»Buch der Geheimnisse«), astromagische, kabbalistische und auch philosophische Schriften wie das Sefer ha-Tamar (»Buch von der Palme«), das Sefer ha-Levanah (»Buch des Mondes«), das Sefer ha-Jeẓirah (»Buch der Schöpfung«), Zitate aus dem Sohar und eine Version des Pseudo-Empedokles. Mit Recht hat daher der Kabbalaforscher Moshe Idel A. als eine »renaissance personality in every respect« bezeichnet. Bei aller Tendenz zur Harmonie und Zusammenschau läßt A. jedoch auch eine deutliche Kritik an der überkommenen jüdischen Tradition erkennen. So schreibt er am Ende der Einleitung zu seinem Hoheliedkommentar, in der er Salomo zum perfekten Renaissancemenschen stilisiert hat: »Es klingt unglaublich, aber König Salomo könnte in der Tora weiser gewesen sein als Mose selbst.« Insgesamt verkörpert A. mit seinem neuplatonischen Denken im Judentum des Quattrocento, was Paul Otto Kristeller im Blick auf seinen christlichen Zeitgenossen Marsilio Ficino als ein Paradigma »philosophisch gewordener Renaissance« bezeichnet hat.
Werke:
- Chaj ha-‘Olamim, Mantua.
- ‘ Ene ha-‘Edah, Bibliothèque Nationale, Paris (no. 270).
- Sefer ha-Liqqutim, Bodleiana, Oxford (Reggio 23).
- Chesheq Shlomoh (Der Hoheliedkommentar), Berlin, Preußische Staatsbibliothek, Qu. 832, no. 143, gedruckt in: A. Lessley, The ›Song of Solomon’s Ascents‹ by Y.A., Diss. Univ. California, Los Angeles 1976. –
Literatur:
- U. Cassuto, Gli Ebrei a Firenze nell’età del Rinascimento, Florence 1965.
- M. Idel, The Magical and Neoplatonic Interpretations of the Kabbalah in the Renaissance, in: B. D. Cooperman (Hg.), Jewish Thought in the Sixteenth Century, Cambridge (Mass.) 1983, 186–242.
- F. Lelli, Y.A. Ḥay ha-‘olamim (L’Immortale), Florenz 1991.
- K. Herrmann, The Reception of Hekhalot-Literature in Y.A.s Autograph MS Paris 849, in: J. Dan/K. Herrmann, Studies in Jewish Manuscripts, Tübingen 1998, 19–88.
Klaus Herrmann
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