Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Lewi ben Abraham ben Chajim aus Villefranche
Geb. 1235 in Villefranche-de-Conflent (Roussillon); gest. nach 1305
Die Auseinandersetzung um die Philosophie des Maimonides bzw. um das Verhältnis von Vernunft und Philosophie zu Glaube und Tradition kannte in Europa zwei Höhepunkte: Der erste lag in den Jahren 1230–32 (u.a. mit David Qimchi, hauptsächlich in der Provence). L. war in der zweiten großen Auseinandersetzung (1303–1305) das Hauptangriffsziel der gegen die Philosophen vorgehenden Anti-Rationalisten und Fundamentalisten in Südfrankreich und im christlichen Spanien. Er war ein Anhänger der maimonidischen Schule mit einem beeindruckenden philosophischen, wissenschaftlichen und exegetischen Wissen. L. schrieb zwei Enzyklopädien: Batte ha-Nefesh ve-ha-Lechashim (»Strophen über Broschen und Anhänger«; vgl. Jes. 3,20) und Livjat Chen (»Treffliche Girlande«; vgl. 1. Kö. 7,29).
Die provenzalischen Fundamentalisten unter Leitung des Abba Mari ben Moshe Astruc aus Lunel wandten sich an Rabbi Salomon ben Abraham ibn Adret, genannt Rashba, einen hochangesehenen katalanischen Talmudisten, der keineswegs als Fundamentalist bezeichnet werden kann noch grundsätzlich gegen Maimonides eingestellt war. Sie baten ihn um Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Philosophen und denunzierten L., der in Narbonne im Haus eines Samuel Sullami wohnte. Dieser verteidigte aber seinen Gast gegenüber Rashba und beschrieb ihn als rechtschaffen und gesetzestreu. Als aber seine Tochter plötzlich starb, schloß der Gastgeber daraus, daß er bestraft worden sei, weil er L. geholfen hatte, und schickte ihn fort. L. ging nach Béziers zu einem Verwandten namens Samuel ben Ruben, wo die Agitation der Fundamentalisten zu demselben Resultat führte. So war L., wie auch schon früher, wegen seiner Tätigkeit als Philosoph zu einem unsteten Leben gezwungen. Bekannt ist, daß er 1276 in Montpellier, 1295 in Arles und 1303 in Perpignan gelebt hat. Aus diesem Grund gehörte er keiner sozialen oder politischen Elite an und hatte weder Macht noch Fortüne. Dafür also, daß Abba Mari dennoch L. als Zielscheibe seiner antiphilosophischen Kampagne auswählte, bleibt nur ein Grund: Dem als Philosoph ernst genommenen L. gelang es auf sehr erfolgreiche Weise, die Philosophie zu popularisieren. Wie Sokrates war er ein Philosoph, der zu den Menschen ging, und wie Sokrates wurde er dafür bestraft.
L. war ein Lehrer, und es scheint, daß er bereit und fähig war, wen auch immer in jüdischem und nicht-jüdischem Wissen zu unterrichten. Seinem kraftvollen, farbenreichen und unbeherrschten Stil zufolge muß er ein fesselnder öffentlicher Redner gewesen sein. Vor allem aber war sein Stil nicht esoterisch, wie der des für eine kleine Elite schreibenden Maimonides, sondern ausdrücklich exoterisch. Seine Enzyklopädien Batte ha-Nefesh ve-ha-Lechashim und Livjat Chen hatten den Zweck, die breite Bevölkerung zu unterrichten. In diesem Sinn muß der Enzyklopädist den Fundamentalisten als der gefährlichste unter den Philosophen erschienen sein.
L. selbst, der ein eher konservativer Anhänger des Maimonides war und die aristotelische Doktrin von der Ewigkeit der Welt zugunsten der schriftkonformen Schöpfungsvorstellung verwarf, verhehlte seine öffentlichen Ziele nicht. In Batte ha-Nefesh gibt L. als Motiv für das Verfassen dieser Enzyklopädie an, er habe die »wahre Religion« bekannt machen wollen. Maimonides habe diese zwar in seinem »Führer der Verwirrten« unübertrefflich formuliert, jedoch für einen Leser ohne wissenschaftlichen Hintergrund sei sie unzugänglich. Während Maimonides »sein erhellendes Buch nur für denjenigen schrieb, der alle Bücher der Wissenschaft studiert hat«, seien die Batte ha-Nefesh gerade für den Leser konzipiert, der noch kein wissenschaftliches Wissen besitze. Durch die Lektüre seines Buches solle der einfache Leser »auf schnelle und angenehme Weise« eine grundlegende wissenschaftliche Bildung erwerben können. Jedoch nahm L., der Maimonides für einen von Gott gesandten Propheten hielt, etwas ähnliches auch für sich selbst in Anspruch. In einer an den Stil der biblischen Propheten erinnernden Passage beschreibt L. die Inspiration, die ihn dazu gebracht habe, dieses Buch zu schreiben: »Ich sah und erblickte einen Mann. Er sprach zu mir, wie zu jemandem, der aus seinem Schlaf erwacht, und er sagte zu mir: ›Menschensohn, erwache, erhebe dich! […] Und der Herr legte ein Wort in meinen Mund, bewegte mein Herz und weckte meinen Geist, um dieses kurze Werk über die Grundlagen und Prinzipien der Wissenschaft zu schreiben.«
Batte ha-Nefesh wurde im Jahre 1276 in Montpellier in gereimter Prosa geschrieben. Ihre 1846 (auf -rim endenden) Distichen sind in zehn Bücher unterteilt. Diese Bücher handeln von der Ethik (tiqqun middot ha-nefesh, »Besserung der Eigenschaften der Seele«), Logik (mine ha-heqesh, »Die verschiedenen Arten der Syllogismen«), Schöpfungsspekulation (ma‘aseh bereshit), Psychologie (ha-nefesh we-kochoteha, »Die Seele und ihre Vermögen«), Prophetie (nevu’ah), Thronwagenspekulation (ma‘aseh merkavah), Arithmetik und Geometrie (mispar u-middot), Astronomie und Astrologie (tekhunah u-mishpat), Naturwissenschaften oder Physik (chokhmat ha-teva‘) und die göttliche Wissenschaft oder Metaphysik (chokhmat ha-elohut). Jedoch schon nach der Abfassung dieses Werkes wußte L., daß es unzureichend sein würde. Eine kurze gereimte Enzyklopädie könne nur den Appetit anregen und eine ungefähre Vorstellung geben, jedoch sei sie nicht in der Lage, eine angemessene wissenschaftliche Bildung zu vermitteln. Schon in der Einleitung zu seinen Batte ha-Nefesh kündigte L. sein nächstes Projekt an, nämlich eine detailliertere und wissenschaftlichere Enzyklopädie: »Sobald wir dieses Werk beendet haben werden, werden wir ein sefer kolel (»allumfassendes Buch« oder Enzyklopädie) verfassen, das all die Themen [des vorliegenden Buches] erläutern und vieles aus ihm auf neue Weise entwickeln wird. Wir werden es, so Gott will, Livjat Chen nennen.«
Das Livjat Chen, das L. unmittelbar nach Vollendung der Batte ha-Nefesh im Jahre 1276 anging, wurde über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten immer wieder überarbeitet und kam in zahlreichen Versionen in Umlauf. L. sollte sein Manuskript wieder und wieder revidieren, machte signifikante Änderungen in Form und Inhalt und fügte oft gänzlich neues Material hinzu. Soweit man weiß, gibt es keinen kompletten Text des Livjat Chen. Die einzelnen Teile des Werkes sind in einer Vielzahl von unterschiedlichen Manuskripten erhalten geblieben, die jeweils verschiedene Rezensionen des Werkes darstellen. In dem Kolophon der Handschrift Vatican (MS Ebr. 192) äußert sich L. zu diesem Sachverhalt: »Jeder Gelehrte soll wissen, daß ich vor kurzem bei der Kopie dieses Buches bestimmte Passagen neu konzipiert, den Aufbau vieler Diskussionen geändert und Korrekturen und viele Hinzufügungen gemacht habe, wie ich es schon bei früheren Gelegenheiten getan habe. Diese Kopie wurde in Arles Ende des Jahres 5055 [= 1295] vollendet. […] Ich bitte jeden, der in den Besitz einer der früheren Versionen gelangt ist, sie nach dieser letzten Version zu korrigieren oder sie durch diese zu ersetzen […].«
Die Enzyklopädie Livjat Chen ist in zwei »Säulen« (‘ammudim) eingeteilt, die nach den Zwillingssäulen im Tempel Salomons benannt sind: Jachin und Boaz. Jachin behandelt das, was durch die Vernunft (ha-muskal) gewußt wird, während Boaz das behandelt, was durch die Tradition (hamequbbal) bekannt ist. Jachin ist in fünf Bücher (ma’amarim) unterteilt und Boaz in zwei. Die Bücher sind jeweils noch einmal in Teile (chalaqim) und Kapitel (perakim) unterteilt (außer dem 3. Buch, das in Tore, she‘arim, und Paragraphen eingeteilt ist). Von Buch 1 ist nichts erhalten, auch sein Thema ist nicht bekannt; von Buch 2 (Mathematik) sind nur ein paar Seiten erhalten; Buch 3 (Astronomie und Astrologie) ist vollständig erhalten; vom Buch 4 ist nichts erhalten, aber es ist bekannt, daß sein Thema die Physik war; von Buch 5 (Metaphysik) sind einige Seiten einer frühen und einige Seiten einer späteren Rezension erhalten; das Buch 6 (oder das erste Buch Boaz) über Prophetie und die Geheimnisse des Gesetzes, den Glauben und die Schöpfung liegt vollständig vor, ebenso Buch 7 (oder das zweite Buch Boaz) über den Thronwagen und die Aggada.
Der Bann, der 1305 schließlich von Rashba gegen die Philosophen verhängt wurde, forderte nicht ein grundsätzliches Verbot aller philosophischen Bücher. Hierzu war der Einfluß der Philosophie auf die jüdische Tradition schon zu weit fortgeschritten. Man beschränkte sich darauf, daß »die Bücher der Griechen […] über Naturwissenschaft und Metaphysik […] bis zum Alter von 25 Jahren« nicht studiert werden dürften. Dieser Teil des Banns bedrohte nicht unmittelbar die Verbreitung von L.s Livjat Chen. Jedoch wurde gleichzeitig auch die Verdammung all derjenigen Philosophen und Bücher ausgesprochen, die die Schrift allegorisch auslegten oder die wörtliche Auslegung der rabbinischen Tradition leugneten. Dies betraf in der Tat unmittelbar die Schriftauslegungen des 2. Teils (oder Boaz) von Livjat Chen, wo viele oder gar die meisten der als häretische Allegorien im Bann zitierten Beispiele vorkommen (manche jedoch auch schon bei früheren Autoren). Zu diesen Beispielen gehören die Auslegungen von Abraham und Sarah als Form und Materie, daß Jakobs Söhne die Tierkreiszeichen seien und daß der Krieg zwischen den vier Königen und den fünf Königen in Gen. 14 der Kampf zwischen den körperlichen Fakultäten und den Vermögen der Seele sei.
In seiner Behandlung der Astrologie ging L. über Maimonides hinaus, der diese als götzendienerischen Aberglauben gebrandmarkt hatte. L. glaubte in der Nachfolge von Abraham ibn Ezra und Abraham bar Chijja, daß die Sterne die Lebensumstände der individuellen Menschen beeinflussen, daß Astrologie uns über die Vergangenheit und die Zukunft informieren kann und daß es möglich ist, durch Magie astrale Kräfte zum Vorteil des Menschen einzusetzen.
L. ist über große Strecken kein origineller Denker, jedoch sind sein Schicksal und sein Denken Dokumente des sich wandelnden Verhältnisses zwischen der Philosophie und der jüdischen Tradition. Der enzyklopädische Charakter von L.s Werken ist der deutlichste Ausdruck dieses Wandels vom Esoterischen zum Exoterischen. Wie Sokrates wurde er aber dafür, dies ausgesprochen zu haben, im Namen der Religion verfolgt, wobei sich L. – ebenfalls wie Sokrates – in seiner öffentlichen philosophischen Berufung als göttlich inspiriert ansah.
Werke:
- I. Davidson (Hg.), L’introduction de L.A. à son encyclopédie poétique (Einleitung, Buch 1 und 7 der Batte ha-Nefesh ve-ha-Lechashim), in: Revue des études juives 105 (1940), 80–94.
- L.A., A Mathematician of the XIIIth century, in: Scripta Mathematica Vol. 4 (1936), 57–66. –
Literatur:
- L. Baeck, Zur Charakteristik des L. A., MGWJ (1900), 160–161.
- A. S. Halkin, Why was L. A. hounded?, PAARJ (1966), 65–76.
- G. Freudenthal, Sur la partie astronomique du Liwyat Hen de L. A., Revue des études juives 148 (1989), 103–112.
- W. Z. Harvey, L. A.s controversial encyclopedia, in: The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, Amsterdam 2000, 171–188. Warren Zev Harvey (Übersetzung: Otfried Fraisse)
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