Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Lewi ben Gershom
(Akronym: Ralbag; lat. Gersonides, Magister Leo Hebraeus; provenzalisch Maestre Leo de Bagnols)
Geb. 1288 in Bagnols-sur-Cèze (?);
gest. 20.4.1344
L. ist der bedeutendste mittelalterliche jüdische Aristoteliker nach Maimonides. Maimonidischer Rationalismus, griechisch-arabische Philosophie sowie scholastische Formen der Argumentation bestimmen den Rahmen, in dem er originelle Lösungen für traditionelle religionsphilosophische Probleme entwickelte. Neben seinem philosophischen Werk leistete L. auch wichtige Beiträge zur Mathematik, Astronomie und Bibelexegese.
L.s Denken ist fest auf den Prämissen maimonidischer Philosophie gegründet: In der Einleitung zu seiner relgionsphilosophischen Summa, den Milchamot Adonaj (»Kämpfe Gottes«), schreibt er, der Prophet erkenne die »Geheimnisse der Naturordnung« (seder ha-meẓi’ut) nicht dank einer übernatürlichen Offenbarung, sondern weil er »weise« (chakham) sei, das heißt: Philosoph. Die verschiedenen Grade der Prophetie sind bestimmt durch die verschiedenen Grade intellektueller Vollkommenheit der Propheten. Moses ist der größte Prophet, weil er den höchsten Grad intellektueller Vollkommenheit erreichte (MA II, 8). Folglich gibt es für L. keinen Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung. Dieser Grundsatz kommt wohl nirgends besser zum Ausdruck als in der seltsamen Montage aus Bibelversfragmenten, die L. der Einleitung zu den Milchamot Adonaj voranstellt. Die aus dem Kontext gerissenen Versteile sind so aneinandergefügt, daß sie eine Art Zusammenfassung von L.s philosophischem System darstellen, das den Inhalt des Werkes bildet. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn L. auch Maimonides’ exegetisches Prinzip übernimmt: »Wenn der Wortsinn der Tora [peshute divreha] der rationalen Spekulation widerspricht, muß sie auf eine Weise interpretiert werden, die sie mit der rationalen Spekulation in Einklang bringt« (MA, Einleitung). Die Tora stimmt für L. folglich notwendig mit rationaler Erkenntnis überein. Dennoch ist sie natürlich kein wissenschaftliches und philosophisches Lehrbuch. Für das Studium der Wissenschaften und der Philosophie stand ihm das umfangreiche Korpus griechisch-arabischer Texte zur Verfügung, das im Verlauf des 13. Jahrhunderts vom Arabischen ins Hebräische übersetzt worden war. Während somit der Inhalt seiner philosophischen Erörterungen durch den griechisch-arabischen Hintergrund bestimmt ist, verrät die Form den Einfluß scholastischer Argumentationskultur: »Wir haben beschlossen zu jeder hier behandelten Frage [derush, gleich dem lateinischen quaestio] alle Meinungen, die sie betreffen, zu untersuchen ebenso wie die Argumente pro und contra zu jeder Meinung« (MA, Einleitung).
L.s wissenschaftliche, philosophische und jüdische Schriften sind trotz ihrer unterschiedlichen Formen durch eine grundlegende inhaltliche Einheit gekennzeichnet, die sich an folgendem Beispiel veranschaulichen läßt: L.s Superkommentar zu Averroes’ mittlerem De anima-Kommentar zeugt von seinem Studium der philosophischen Psychologie. Im ersten Buch der Milchamot, das die »Unsterblichkeit der Seele« zum Thema hat, diskutiert L. systematisch die psychologischen Theorien seiner Vorgänger und entwickelt seine eigene Position auf diesem Gebiet. Sein Kommentar zum Hohelied schließlich deutet das Liebesgedicht als eine allegorische Darstellung der für die mittelalterliche Psychologie zentralen Beziehung zwischen der menschlichen Seele und dem aktiven Intellekt. Dabei wird die inhaltliche Einheit seines Werkes noch dadurch verstärkt, daß L. in einer Schrift häufig auf andere Schriften verweist, in denen er das gleiche Thema behandelt. Wissenschaft, Philosophie und Exegese stehen somit im Dienst der einen Wahrheit, die sich für L. in Natur und Tora offenbart. Die durch das Studium der Natur und der Schrift gewonnenen wahren Erkenntnisse gehen dabei einher mit der Zurückweisung falscher wissenschaftlicher und exegetischer Auffassungen. Daraus erklärt sich auch der Titel »Kämpfe Gottes«, den er seinem Hauptwerk gab: »Denn wir haben die Kämpfe Gottes gekämpft gegen die falschen Auffassungen unserer Vorgänger« (MA, Einleitung).
Betrachten wir nun L.s umfangreiches Werk etwas genauer. Seine rein wissenschaftlichen und philosophischen Schriften bestehen zum Teil aus eigenständigen Traktaten, zum Teil aus Superkommentaren zu Averroes’ Aristoteles-Kommentaren. Dabei sind auch die Superkommentare nicht nur explikativ, sondern beinhalten vielfach Kritik an Aristoteles und vor allem an Averroes. Gemeinsam mit den wissenschaftlichen und philosophischen Teilen der Milchamot Adonaj zeigen sie, daß L. das verfügbare Wissen seiner Zeit nicht nur beherrschte, sondern häufig durch eigenständige Problemlösungen erweitern konnte. Als Logiker schrieb L. Superkommentare zu Averroes’ mittleren Kommentaren zur Isagoge des Porphyrius und zu den meisten Schriften des aristotelischen Organons. Als Mathematiker setzte er sich mit allen Gebieten der mittelalterlichen Mathematik auseinander: Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Einige von L.s mathematischen Schriften wurden ins Lateinische übersetzt; zum Teil wurden sie ursprünglich für christliche Auftraggeber verfaßt. Als Naturwissenschaftler erklärte er einen Großteil der physikalischen Schriften des Aristoteles, wiederum auf der Grundlage von Averroes’ Kommentaren. Besonderes Interesse zeigte L. dabei an der aristotelischen Psychologie, vor allem an der Frage, ob der intellektuelle Teil der Seele unsterblich sei. Schließlich hat L. auch einen Superkommentar zu Averroes’ mittlerem Metaphysik-Kommentar verfaßt, der indessen nicht erhalten ist.
Was den exegetischen Zugang zur Wahrheit betrifft, schrieb L. Kommentare zu fast allen biblischen Büchern. Sein Ziel ist es, die Texte sowohl dem Wortsinn nach zu erläutern, als auch ihren philosophischen Gehalt herauszuarbeiten. Dem traditionellen rabbinischen Midrasch erkennt er demgegenüber nur pädagogische Bedeutung zu. Ein Großteil seiner Bibelkommentare hat eine dreiteilige Struktur: Der erste Teil erörtert den Text dem Wortsinn nach, der zweite Teil erörtert die Gesamtaussage eines biblischen Abschnittes, der dritte Teil präsentiert die darin erhaltenen »nützlichen Lehren« (to‘alijjot). Letztere sind häufig eine didaktische und popularisierende Darstellung des philosophischen Gehaltes, den L. in der Bibel zu finden glaubte. Daß der herausgearbeitete philosophische Gehalt in Wirklichkeit die hineingearbeiteten Auffassungen L.s sind, ist unschwer zu erkennen. So bestimmten u.a. die Diskussion des Schöpfungsproblems (MA VI) den Kommentar zum ersten Genesis-Kapitel, die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele (MA I) den Kommentar zum Hohelied und die Konzeption göttlicher Providenz (MA IV) den Kommentar zu Hiob. Bedenkt man, daß L. die in den Milchamot Adonaj entwickelten Problemlösungen größtenteils für endgültig hielt, ist im Lichte seiner Hermeneutik ihre Verortung in der Bibel nur folgerichtig.
Die Milchamot Adonaj selbst sind über einen langen Zeitraum entstanden. Bereits 1317 arbeitete L. an einem Traktat über das Problem der Weltschöpfung, welches in der 1329 fertiggestellten Endversion des Werkes Gegenstand des letzten Buches (MA VI) ist. Die Anordnung der Bücher entspricht folglich nicht der Reihenfolge ihrer Entstehung. Die Fragen, welche die sechs Bücher der Milchamot Adonaj behandeln, bezeichnet L. als »sehr wichtig«, da sie die Fundamente betreffen, auf denen die »intellektuelle Glückseligkeit« (haẓlachah mada‘it) des Menschen – und folglich auch die Unsterblichkeit seiner Seele – beruhen. Wer in diesen Fragen irrt, läuft folglich Gefahr, seine Glückseligkeit und Unsterblichkeit zu verspielen. In der Einleitung gibt L. einen Überblick über den Inhalt der Bücher. Das erste Buch behandelt die Frage, »ob die Vervollkommnung der rationalen Seele zur Unsterblichkeit führt, und wenn dies der Fall ist, ob es verschiedene Grade der Unsterblichkeit gibt.« Das zweite Buch erörtert, auf welche Weise die Vorhersage der Zukunft in »Traum, Divination oder Prophetie« verursacht wird. Gegenstand des dritten Buches ist, ob und wie existierende Einzeldinge von Gott gewußt werden können. Eng zusammen mit der Natur des göttlichen Wissens hängt die Frage nach der Natur der göttlichen Vorsehung, die im vierten Buch behandelt wird. Im fünften Buch geht es um kosmologische Fragen, die vor allem die Himmelssphären und ihre Beweger betreffen. Das sechste Buch schließlich ist dem Schöpfungsproblem gewidmet, dem L. besondere Bedeutung beimißt aufgrund seiner Implikationen für die »intellektuelle und politische Glückseligkeit« des Menschen.
L.s Weltbild wird vor allem in Buch V, Teil 2 und 3 ausgeführt. Die durchgängige rationale Ordnung, die den Kosmos beherrscht, ist teleologisch und anthropozentrisch: Sie ist auf das Telos hin ausgerichtet, den Menschen mit dem größtmöglichen Gut zu versehen. Auf dieses Ziel hin ist die Welt unterhalb der Mondsphäre – der letzten Himmelssphäre – eingerichtet. Deren Struktur ist kausal bestimmt durch das Zusammenspiel zwischen den Himmelssphären und ihren Bewegern sowie dem aktiven Intellekt. Die spezifischen Bewegungen der Himmelssphären sind bedingt durch die Natur der ihnen zugeordneten unkörperlichen Intelligenzen und bewirken die Gesamtheit der materiellen Prozesse in der sublunaren Welt. Deren Elemente werden so für die Aufnahme verschiedener Formen (Stein, Pflanze, Tier etc.) vorbereitet, die vom aktiven Intellekt emanieren, welcher die in der sublunaren Welt entfaltete rationale Struktur als Einheit in sich enthält. Himmelssphären, unbewegte Beweger und aktiver Intellekt sind also gleichsam die Werkzeuge, die den Plan Gottes ausführen. Die planvolle Einrichtung des Kosmos ist zugleich L.s Beweis für die Existenz Gottes. Da die unkörperlichen Intelligenzen der Himmelssphären jeweils nur den Ausschnitt der kosmischen Ordnung kennen, der durch die von ihnen bewirkte Sphärenbewegung verursacht wird, ist die Annahme einer ihnen übergeordneten Intelligenz notwendig, welche die Koordination ihrer kausalen Aktivität in einem teleologischen System erklärt. Den traditionellen kosmologischen Gottesbeweis aus Aristoteles, Metaphysik XII weist L. demgegenüber als ungültig zurück. Gott ist folglich die erste unkörperliche Intelligenz und die erste Ursache der Naturordnung. Er ist Denkaktivität, die sich selbst und alles was aus ihr folgt – das heißt: die Naturordnung – erkennt. Da für Aristoteliker in einer unkörperlichen Intelligenz Subjekt und Objekt der Erkenntnis identisch sind, erkennt Gott die Naturordnung nicht nur, sondern sieht die Naturordnung als absolute Einheit: Er »ist das Gesetz [nimus] der existierenden Dinge, ihre Ordnung [seder] und ihr Maß [josher]« (MA V, Teil 2, 12). In der Gleichsetzung Gottes mit der Struktur des Kosmos offenbart sich die Radikalität von L.s Rationalismus. Vor diesem Hintergrund muß auch die Lösung für das Problem göttlicher Allwissenheit verstanden werden, die L. in Milchamot Adonaj III entwickelt. Obwohl Gott die Einzeldinge nicht als Einzeldinge erkennt, ist er dennoch insofern allwissend, als er die Naturordnung als absolute Einheit, mit der er selbst identisch ist, in einem einmaligen Denkakt begreift. In Milchamot Adonaj I zeigt L., daß in der Erkenntnis der ewigen göttlichen Ordnung das höchste Gut für den Menschen besteht. Da er durch diese Erkenntnis am Ewigen teilhat, wird sein Intellekt unsterblich. Mit anderen Worten: Unsterblich ist die Gesamtheit der im Laufe des Lebens erworbenen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die begrenzte Reichweite des menschlichen Intellektes erlaubt es ihm nach L. jedoch nur, ein von Mensch zu Mensch variierendes Fragment der kosmischen Ordnung zu erfassen. In diesem Sinn kann L. von individueller Unsterblichkeit sprechen. Jeder Mensch überlebt gleichsam in Form der Zeilen, die er im Buch der Natur entziffern konnte.
Die Abhängigkeit der Glückseligkeit und Unsterblichkeit des Menschen von wissenschaftlicher Erkenntnis erlaubt es L. in Milchamot Adonaj IV seine Lehre individueller göttlicher Vorsehung zu begründen. Belohnung und Bestrafung sind proportional zur jeweils erreichten Stufe intellektueller Vollkommenheit. Sie sind verdient, da die Handlungen des Menschen frei gewählt sind (MA III). Das Böse in der Welt ist nicht von Gott verursacht; es rührt von dem materiellen Substrat her, dem Urstoff, aus dem Gott die Welt formte. Gott hat die bestmögliche Welt geschaffen, welche die Beschaffenheit des Urstoffes zuließ (MA IV). Für die Behauptung, daß die Welt geschaffen sei und nicht ewig, wie die Aristoteliker behaupten, führt L. in Milchamot Adonaj VI zahlreiche Beweise an. Dabei findet die Schöpfung nicht ex nihilo statt, sondern besteht in der Formung des Urstoffes. Dies ist nach L. auch die These Platons. Obwohl die Welt somit entstanden ist, ist sie nach L. unvergänglich. Um den Menschen vor den Konsequenzen der Unvollkommenheit des materiellen Substrates zu schützen (etwa Naturkatastrophen), existieren verschiedene Modi der Zukunfsvorhersage, deren Mechanismus L. in Milchamot Adonaj II beschreibt. Träume und Divination sind zurückzuführen auf die Einwirkung der Himmelssphären auf die Imagination bestimmter Menschen. Prophetie dagegen beruht auf wissenschaftlicher Einsicht. Sie besteht in der Anwendung allgemeiner Naturgesetze auf konkrete Prozesse mit dem Ziel, ihren Verlauf vorherzusagen.
Obwohl L. von der Richtigkeit seiner Interpretation des Judentums überzeugt war, wurde sein kompromißloser Rationalismus in der Folgezeit häufig angegriffen. Shem Tov ibn Shem Tov ging sogar so weit, L.s philosophisches Hauptwerk als »Kämpfe gegen Gott« zu bezeichnen.
Werke:
- [Es gibt keine Gesamtausgabe der Werke L.s.
- eine weitgehend vollständige Bibliographie bietet M. Kellner in: Studies on Gersonides: A Fourteenth Century Jewish Philosopher-Scientist, G. Freudenthal (Hg.), Leiden 1992, 367–414].
- Milchamot Adonaj, Riva di Trento 1560 (Nd. Israel 20. Jh.), engl. Übers. (außer MA V, 1) S. Feldman, 3 Bde., Philadelphia 1984–99, dt. Übers. B. Kellermann, 2 Bde., Berlin 1914–1916.
- M. Kellner (Hg.), Perush le-Shir ha-Shirim, Ramat Gan 2001.
- C. Manekin (Hg.), Sefer ha-Heqesh ha-Jashar, Dordrecht 1992.
- B. R. Goldstein (Hg.), The Astronomy of Levi ben Gerson (1288–1344), a critical edition of chapters 1–20 with translation and commentary, New York 1985. –
Literatur:
- C. Touati, La pensée philosophique et théologique de Gersonide, Paris 1973.
- G. Dahan (Hg.), Gersonide en son temps, Louvain-Paris 1991.
- G. Freudenthal (Hg.), Studies on Gersonides, a.a.O.
Carlos Fraenkel
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