Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Salomon ben Jehudah ibn Gabirol
(lat. Avencebrol, Avicebron, Avicembron)
Geb. 1021/22 in Malaga; gest. ca. 1058 in Valencia
Aus den verschiedenen literarischen Zeugnissen über G. entsteht der Eindruck einer schillernden Persönlichkeit: Der Dichter, Lehrer und Philosoph G. führte ein unstetes Leben und bereiste verschiedene Gebiete des islamischen al-Andalus und des christlichen Spanien. Sein kurzer – er starb mit 35 Jahren – und von Krisen und Krankheiten geprägter Lebensweg spiegelt sich in Gedichten wider, die einen Höhepunkt der mittelalterlichen hebräischen Lyrik markieren. Seine Poesie gehört zu jener jüdisch-arabischen Lyrik, die durch die Übernahme der arabischen Metrik in die Hebräische Dichtung gekennzeichnet ist. Ihre stilistische Feinheit wurde wegweisend. So beschreibt ihn der Dichter Moshe ibn Ezra (ca. 1055 – nach 1135) in seiner Geschichte der jüdischen Dichtung als einen »seinem Alter nach unter seinen Zeitgenossen, jedoch seinen Werken nach über ihnen« stehenden Poeten. Er vergleicht ihn mit den größten arabischen Dichtern; seine anhaltende Wirkung habe ihn zu einer bedeutenden Figur auch der späteren hebräischen Lyrik gemacht. Ibn Ezra ist es auch, der von G. sagt, daß er »seiner Natur und seinem Wissen nach zu den Philosophen gehörte, doch seine wütende Seele herrschte über seine Vernunft«. Aus einem solchen Zeugnis wird G.s Unbeherrschtheit erkennbar, die zu Konfrontationen mit der Gemeinde wie auch mit seinem berühmten Patron Shmuel Hanagid führte.
Die Poesie G.s ist von philosophischen und religiösen Themen geprägt, enthält aber auch Wein-, Trink- und Liebeslieder. Die philosophischen oder weltanschaulichen Betrachtungen, die er in Verse zu bringen versuchte, sind durch eine gattungsgemäße Rätselhaftigkeit und inhaltliche Hermetik geprägt, denen erst die Strenge der poetischen Form ein einheitliches Gepräge gibt. Das spekulativste und zugleich systematischste seiner Gedichte heißt Keter Malkhut (»Die Krone des Königtums«), das – wie manche seiner Gedichte – in die jüdische Liturgie aufgenommen wurde.
Von seinem philosophischen Werk wurden vor allem mehrere kleine ethisch-psychologische Traktate bekannt, die meist nicht als authentisch angesehen werden. Authentisch ist jedoch sein Traktat Tiqqun Middot ha-Nefesh (»Verbesserung der Seeleneigenschaften«). In diesem Werk schlägt G. eine typologische Einteilung aller ethischen Eigenschaften vor: Er ordnet sie nach den fünf Sinnen an mit dem Ziel, alle Aspekte der Seele (Psychologie) und des Intellektes (Epistemologie) zu umfassen, welche gleichzeitig als Mikrokosmos ein Abbild der Struktur des himmlichen Kosmos sein sollen. In G.s philosophischer Lehre sind Spuren verschiedener neuplatonischer und arabischer Quellen erkennbar, wie beispielsweise das Werk Isaak Israelis und der Traktat des Pseudo-Empedokles »Über die fünf Substanzen«. Da G. seine Zitate sowohl aus den philosophisch-wissenschaftlichen als auch aus den religiösen Schriften als ein Stilmittel handhabte, also ohne präzise Quellenangaben, sind seine direkten Quellen nicht auszumachen.
Das philosophische Hauptwerk G.s, Fons Vitae (»Lebensquelle«, hebr. Meqor Chajjim), ist in der Form eines scholastisch-katechetischen Dialogs zwischen Lehrer und Schüler abgefaßt. Das Werk hat fünf Teile: Der erste Teil beweist die Existenz der konkreten Größen Materie und Form als allgemeine Grundprinzipien; der zweite handelt von den zwei Arten der Substanz, nämlich der körperlichen und der geistigen Substanz; der dritte von der nichtzusammengesetzten einfachen Substanz; der vierte von Form und Materie als Komponenten der einfachen Substanz; der fünfte von der einfachsten Form, der universellen Form, losgelöst von der einfachsten Materie, der universellen Materie. Bei G. ist schon die Wurzel alles Seins als ein Kompositum dargestellt, nämlich als eine Zusammensetzung aus Form und Materie. So zeichnen sich alle folgenden Schichten der geschaffenen Realität durch diese grundsätzliche Dichotomie aus, mit Ausnahme von Gott als der ersten Substanz überhaupt. Zwischen dem transzendenten Einen und der geschaffenen Pluralität des Weltalls befindet sich nach G. der Wille (voluntas). Seine Rolle ist sowohl die eines vermittelnden Prinzips nach Art des Logos, als auch, als eine lebensspendende Kraft, die eines Mediators von dem unzusammengesetzten Einen zur Pluralität aller anderen Schichten der Realität. Der Wille, den G. sowohl mit dem Begriff der Weisheit als auch mit dem der Fülle synonym gebraucht, wurde von ihm jedoch nicht ausreichend systematisch entwickelt, um entscheiden zu können, ob es sich dabei um eine semi-automatische göttliche Emanationskraft handelt oder um einen freien und willentlich handelnden Willen.
Die Philosophie G.s beginnt ihres Inhalts und ihrer Struktur nach nicht mit Gott bzw. dem neuplatonischen Einen, sondern mit der Substanz der geschaffenen Welt. G. erklärt jedoch in seinem ersten Traktat, daß es sich bei dem vorliegenden Werk nur um den ersten Teil eines aus drei Teilen bestehenden Werkes handle. Entsprechend der Struktur seiner Philosophie sollten die beiden anderen Bücher von der Wissenschaft des göttlichen Willens und von der Wissenschaft der ersten Substanz handeln. G. spricht selber von mindestens einem weiteren Werk, das von ihm verfaßt worden sei, einem »Buch, welches vom Wissen über den Willen handelt; und dieses Buch heißt ›Der Ursprung der Freigebigkeit und die Ursache des Seins‹, und man muß es nach diesem lesen […]«. Da aber keinerlei Hinweise auf dieses Buch gefunden wurden, nimmt man an, daß es lediglich geplant, aber nicht verwirklicht worden ist.
Im Mittelpunkt der Darstellung seiner Philosophie, sowohl in seiner Fons Vitae wie auch im Keter Malkhut, steht das neuplatonische Schema des Weltalls als systematische, wenn auch begrifflich sparsam umschriebene Einheit. Durch einen konsequenten Einsatz der Begriffe Form und Materie und des Begriffs der Einheit kann G. alle Seinsstufen in ihren gegenseitigen Beziehungen innerhalb einer allumfassenden Emanationstheorie erklären. Während Aristoteles davon ausgeht, daß die konkrete Substanz das einzige ist, was als existierend definiert werden darf, wobei jede ihrer zwei notwendigen Komponenten, nämlich Materie und Form, an sich keine Existenz hat, hat G. demgegenüber die Größen Form und Materie als die grundsätzlichen Bausteine seiner Ontologie gebraucht und ihnen hinsichtlich ihrer Bedeutung die konkreten Substanzen untergeordnet. Ein einzelnes konkretes Ding könne nämlich gleichzeitig mehrere Formen haben. Es kann als Form einer Materie (das Holz ist eine der möglichen Formen unter den organischen Stoffen) und als Materie verschiedener Formen (die Materie des Holzes liegt den Formen verschiedener Baumarten wie auch verschiedener künstlicher Produkte zugrunde) verstanden werden. Die Dynamik einer solchen Ontologie kennt als die eigentlichen Komponenten der Natur nur zwei Elemente, und zwar die allumfassenden Prinzipien von der Allgemeinheit (Materie) und der konkreten Einheit (Form).
G. versucht, all dies mit einer Theologie der Schöpfung, des göttlichen Willens und der radikalen Transzendenz Gottes in Einklang zu bringen. Um die Transzendenz Gottes zu begründen und gegen die Konsequenzen der Emanationslehre zu schützen, die mit dem göttlichen Willen nicht vereinbar ist, betont G. mit äußerstem Nachdruck die Einheit Gottes. Gegenüber dieser absoluten und reinen Einheit, undefinierbar und unerkennbar, stellt G. den abhängigen und zusammengesetzten Charakter aller anderen Seinsstufen heraus. Gleichzeitig werden aber Schöpfer und Schöpfung durch den Begriff des Intellekts wieder zu einer kosmologischen und epistemologischen Einheit zusammengefaßt. G. identifiziert in seiner Fons Vitae den göttlichen Intellekt mit der kosmischen Kraft des Willens, wobei dieser sich im Rahmen des Emanationsprozesses in alle Stufen der Realität ergießt. Da es sich aber in der Tat um einen Prozeß der Emanation handelt, in dem sich in G.s ontologischer Hierarchie, an deren Spitze die Einheit Gottes steht, diese Einheit ergießt, muß ihr Träger ein Intellekt sein. Im Laufe der Emanation schattet sich diese Einheit auf ihrem Weg nach unten immer mehr ab. G. kleidet diesen Vorgang in die Metapher des »kopfüber herunterfließenden Wassers, ein Teil stets über den nächsten kommend, so daß es, während es am Anfang leicht und hell war, sich allmählich verdichtet zu einem stehenden Gewässer und dunkel wird […]«. In diesen niedrigeren intellektuellen Einheiten wurzeln die Formen aller existierenden Dinge. Das verbindende Substrat in dieser dynamischen Betrachtungsweise ist dabei stets durch den Begriff der allgemeinen Materie und durch Gott als der obersten Form gegeben.
G. betrachtet die Ewigkeit (sempiternitas), die in seiner Hierarchie der neuplatonischen Hypostasen durch den Willen und die Seele repräsentiert ist, als ein Mittleres zwischen dem, was über der Ewigkeit (Schöpfer bzw. prima essentia), und dem, was unter der Ewigkeit (die neun Kategorien der Substanzen) steht. Dies gilt sowohl für den Makrokosmos (Theosophie) als auch für den Mikrokosmos (Anthropologie), wobei beim Menschen die Seele und der Geist (spiritus) die Beziehung nach oben zum Intellekt und nach unten zum Körper (materia) ermöglichen. Zu Beginn des ersten Traktats bezeichnete G. den Menschen als ›kleine Welt‹ (Mikrokosmos), die als körperliche Substanz im Laufe einer Art neuplatonischen Odyssee in ihren übernatürlichen Ursprung zurückkehren muß.
Gemäß einem spätneuplatonischen Begriff von intelligibler Materie behauptet G., daß nicht jedes intelligible Wesen aus einer einfachen Substanz bestehen müsse, sondern daß auch zusammengesetzte intelligible Wesen möglich seien. Es ist daher auch das Aufeinander-Bezogen-Sein der intelligiblen und der empirischen Welt, was G. betonen möchte. Wird die empirische Welt bloß als eine Erscheinungsweise der höheren intelligiblen Welt betrachtet, so enthält die niedrige Welt alle Komponenten, die in der höheren Welt vorhanden sind. Noch mehr: In der höheren wie in der niedrigen Welt kann die Pluralität der Formen nur in dem Maße existieren, in dem sie ein gemeinsames materielles Substrat haben. Im lateinischen Mittelalter wurde diese Lehre des sog. universellen Hylemorphismus, obwohl sie schon seit Plotin eine längere neuplatonische Tradition hatte, vor allem mit dem Namen G.s identifiziert.
Wie die meisten mittelalterlichen Denker behauptet auch G., daß Gott in seinem Wesen undenkbar ist und nur durch seine Werke erkannt werden kann. Der menschliche Intellekt vermag nur schwer die Ebene der Dichotomie von Form und Materie zu übersteigen. Für das menschliche Denken sind Form und Materie wie »zwei verschlossene Türen, die zu öffnen und durch die einzutreten dem Intellekt schwer fällt, weil die Substanz der Intelligenz unter ihnen steht«. Gleichzeitig sieht der Mensch aber, daß, wenn er zu seiner höchstmöglichen Erkenntnis hinaufsteigt, die unteren Stufen der Hierarchie jeweils die oberen Stufen reflektieren und daß der Mensch als Mikrokosmos selber eine Zusammensetzung aller kosmischen Elemente ist. Sieht man aber Gott in der Erkenntnis der Welt, so erkennt man gleichzeitig Gott in der Welt und die Welt als Gott.
G.s philosophisches Hauptwerk wurde im Gegensatz zu seinem poetischen und ethischen Werk in der jüdischen Welt – sowohl in seinem arabischen Original, als auch in seiner hebräischen Übersetzung – nur wenig bekannt; sein Name hatte dort fast jede philosophische Konnotation verloren. Erst im 12. Jahrhundert hat durch Ibn Da’ud eine gründlichere Auseinandersetzung mit den Lehren G.s bei jüdischen wie bei christlichen Philosophen eingesetzt. Im 13. Jahrhundert ist eine Auswahl aus G.s philosophischen Werken von Shem Tov ibn Falaquera ins Hebräische übersetzt worden. In dieser Zeit wurde G.s Denken, wahrscheinlich vor allem durch seine auf Hebräisch verfaßten sakralen Gedichte, auch in kabbalistischen Kreisen rezipiert. Jedoch fand sein Denken unter jüdischen Philosophen keine Beachtung. Dennoch gibt es Hinweise dafür, daß seine Identität als Verfasser der »Lebensquelle« bei den jüdischen Gelehrten bis zum Ende des Mittelalters bekannt war.
Das philosophische Hauptwerk G.s wurde in der lateinischen Scholastik seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erst gewürdigt, nachdem es von Dominicus Gundissalinus und Johannes Hispanus vollständig aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt und unter dem Titel Liber Fontis Vitae bzw. Fons vitae veröffentlicht worden war. Die jüdische Herkunft des Verfassers Avicembrol wie auch seiner anderen Werke blieben jedoch in der Scholastik unbekannt. Erst im Jahre 1845 hat Salomon Munk ein Fragment der oben erwähnten hebräischen Übersetzung Falaqueras gefunden und konnte damit G. als den Autor der Fons Vitae identifizieren.
Die Wirkungsgeschichte G.s im lateinischen Mittelalter ist eng mit dem Streit zwischen zwei Hauptströmungen der Hochscholastik verbunden. Die mit den Namen der Dominikaner Albertus Magnus und Thomas von Aquin verbundene aristotelische Strömung setzte sich, ähnlich wie der Aristoteliker Ibn Da’ud, mit G.s Auffassung von der intelligiblen Materie und dem universellen Hylemorphismus auseinander. Sie lehnten seine Lehre von der Möglichkeit der Koexistenz mehrerer Formen in ein und derselben Substanz und die ontologische Relativierung der Begriffe von Form und Materie in ihrem hierarchischen Rollenwechsel ab. Im Gegensatz zu den Dominikanern nahm aber eine Strömung franziskanischer Gelehrter wie Bonaventura und Johannes Duns Scotus diese Lehre G.s ebenso auf wie seinen Willensbegriff.
Werke:
- Avencebrolis Fons Vitae, hg. C. Baeumker (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. 1, Heft 2–4) Münster 1895 (Nd. 1995).
- J. Maier, Die Königskrone des S.G., Judaica 18 (1962), 1–55.
- Krone des Königstums (Keter Malkhut), eingel., übers. und komment. C. Corell, Berlin 1994.
- Die Lebensquelle, übers. aus dem Lat. O. Lahann, Cuxhaven 1989. –
Literatur:
- L. Dukes, S.G. aus Malaga und die ethischen Werke desselben, Hannover 1860.
- Jac. Guttmann, Die Philosophie des S.G., Göttingen 1889 (Nd. Hildesheim 1979).
- D. Kaufmann, Studien über S.G., Budapest 1899 (Nd. New York 1980).
- M. Wittmann, Die Stellung des Hl. Thomas von Aquin zu Avencebrol (S.G.), Münster 1900.
- K. Dreyer, Die religiöse Gedankenwelt des S.G., Leipzig 1930.
- M. Bieler, Der göttliche Wille (Logosbegriff) bei G., Würzburg 1933.
- J. Schlanger, La Philosophie de S.G., Leiden 1968.
- vgl. die Aufsätze von John M. Dilon, C. K. Mathis und B. McGinn in: L. E. Goodman (Hg.), Neoplatonism and Jewish Thought, Albany 1992, 43–59, 61–76, 77–109.
Yossef Schwartz
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