Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Salomon Formstecher
Geb. 26.7.1808 in Offenbach a.M.;
gest. 24.4.1889 ebenda
Aus kinderreicher Handwerkerfamilie stammend, war es für F. keineswegs selbstverständlich, daß er einmal Akademiker werden und den Titel Großherzoglicher Landesrabbiner tragen sollte. Der Vater Moses Formstecher bzw. Formschneider – die Schreibweise des nach seiner beruflichen Tätigkeit des Stechens und Schneidens von Druckformen gewählten Familiennamens variiert in den Akten – scheint jedoch neben dem handwerklichen Broterwerb in seiner Freizeit ausgedehnte naturwissenschaftlich-technische Interessen gepflegt und seine zahlreichen Kinder in Physik, Astronomie, Zeichnen, Modellieren, Schnitzen u.ä. unterwiesen zu haben. Erst als sich abzeichnete, daß F. als Jude Schwierigkeiten haben würde, eine Lehrstelle zu finden, wurde beschlossen, daß er kein Handwerk erlernen, sondern weiterführende Schulen besuchen sollte. Nach der lateinischen Freischule und dem externen Abitur besuchte F. die damalige Großherzoglich Hessische Landesuniversität in Gießen, wo er 1828–31 Philosophie, Philologie und evangelische Theologie studierte. Zu seiner Zeit gab es noch nicht die später für die akademische Rabbinerausbildung konzipierten Seminare und Hochschulen (in Breslau 1854 und in Berlin 1872), die später den Rabbiner neueren Typs hervorbrachten, der sowohl in weltlich-akademischen wie in rabbinischen Belangen kompetent war. F. und seine Kommilitonen versuchten sich dieses Profil selbst zu erwerben, indem sie sich an philosophischen und theologischen – meist protestantischen – Fakultäten mit den modernen Methoden historisch-kritischer Textexegese vertraut machten und nebenher bei einem (älteren) Rabbiner Talmudunterricht nahmen. Die Erfahrungen dieser ›Zwischengeneration‹, die sich einerseits für das geistige Niveau einer Reformgemeinde zu qualifizieren hatte, ohne daß hierfür ausgewiesene jüdische Lehrer zur Verfügung gestanden hätten, andererseits in konservativen Gemeindekreisen um Akzeptanz kämpfen mußte, hat F. anschaulich in seinem streckenweise – in der Person des Rabbinatsanwärters Joseph Buchenstein – stark autobiographisch geprägten Roman Buchenstein und Cohnberg (1863) beschrieben.
Als Dr. phil. kehrte F. 1831 in seine Heimatstadt Offenbach zurück, wo nach halbherzigen auswärtigen Bewerbungen F.s von der Israelitischen Gemeinde eine Predigerstelle eigens für ihn eingerichtet wurde, von der aus er 1842 nach dem Tod des (›vormodernen‹) Vorgängers die Stelle des Gemeinderabbiners übernehmen konnte. Im Hintergrund dieser allzu glatt und konfliktfrei anmutenden Entwicklung scheinen gewisse Persönlichkeiten gestanden zu haben, die in der damals aufblühenden Industriestadt Offenbach (vor den Toren Frankfurts gelegen, jedoch politisch liberaler und wirtschaftlich progressiver) als Unternehmer reüssierten und sich gezielt in den 1821 neu konstituierten Gemeindevorstand wählen ließen, um in der Israelitischen Gemeinde die Ergebnisse der damals hochaktuellen Liturgiereform Stück für Stück einzuführen. Der Impuls zum Anschluß an die Reformbewegung kam hier also zunächst aus emanzipatorischen Kreisen innerhalb der Gemeinde.
Diese biographischen Abläufe, im o.g. Roman minutiös nachvollziehbar geschildert, sind insofern nennenswert, als sie verdeutlichen, welche Thematik für F.s wissenschaftliches Denken wie praktisches Wirken lebenslang zentral war und blieb: der Gedanke der »Entwickelung«, des Übergangs von der alten, voraufklärerischen zur neuen, modernen Epoche. F. ist ein äußerst bewußter und reflektierter Zeitgenosse gewesen, der seine eigene Lebensepoche – mit dem typischen Enthusiasmus jener Generation deutsch-jüdischer Staatsbürger – als historisch hochbedeutsam erlebt und dokumentiert hat. So verstand er seinen Roman als »getreues Bild« der Gegenwart, die sich in »beständigen Umwälzungen« und »Hin- und Herzügen« als »Uebergangsperiode zwischen zwei sich gegenüberstehenden Zeitabschnitten« manifestiert, als »Brücke zwischen zwei mächtigen Gebieten der Culturgeschichte der Menschheit« (Buchenstein und Cohnberg, Vorwort).
Seine wissenschaftlichen Arbeiten, sämtliche zwischen Studienabschluß und Amtsantritt als Rabbiner verfaßt (1833–1841), kreisen ebenfalls um den zentralen Begriff der »Entwickelungsgeschichte«: In Abraham Geigers Wissenschaftlicher Zeitschrift für jüdische Theologie publiziert er 1838 einen »Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des Begriffs von der Unsterblichkeit der Seele im Judenthume«, und in den Israelitischen Annalen 1839 »Beiträge zur Entwickelungsgeschichte der Angelo- und Dämonologie im Judenthume«. In beiden Beiträgen versuchte F. aufzuzeigen, daß »die Geschichte des Menschengeschlechtes in ihrer Totalität« wie »die Geschichte des israelitischen Religionslebens als ein Theil desselben« den Bedingungen historischer Entwicklung unterworfen und daß Veränderungsprozesse demnach nicht – wie von orthodoxen Reformgegnern vielfach geschehen – als dekadente Aufweichung der jüdischen Tradition, sondern vielmehr als Zeichen für deren Lebendigkeit zu werten seien. F. trug die in der universitären Ausbildung erlernte Methodik der Textkritik an die überlieferten Quellen und Urkunden des biblisch-rabbinischen Judentums heran, um den Kern der Offenbarung hinter der jeweils historischen Form jüdischer Religionsausübung freizulegen. Von diesem methodischen Zugriff erhoffte er sich Klarheit gerade in einer von heftigen innerjüdischen Flügelkämpfen geprägten Zeit, und er forderte seine Fachkollegen zur Mitarbeit auf: »Im Ganzen liegt das Gebiet, auf welchem Israels religiöse Ideen sich nach und nach ausbildeten, noch ziemlich brach und fordert für seine geschichtliche Bearbeitung noch vielen Fleiß und freie philosophische Forschung.«
1841 legte F. als krönenden Abschluß seiner Forschungen den sämtliche Vorarbeiten abrundenden religionsphilosophischen Gesamtentwurf vor: Die Religion des Geistes. Eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwickelungsgange und Berufe in der Menschheit (1841). In selbständiger Auseinandersetzung mit der Philosophie F.W.J. Schellings wird hier dargelegt, daß das Judentum als Universalreligion das Ideal des ethischen Monotheismus verkörpert und dieses der Menschheit nahezubringen hat. Der eigentliche Prozeß der Menschheitsbekehrung in Form der Abkehr vom Heidentum wird aber nicht vom Judentum selbst durchgeführt, sondern von dessen Tochterreligionen Christentum und Islam, die innerhalb des weltgeschichtlichen Plans die zeitlich und regional klar definierte Funktion haben, Mission des Judentums zu sein, wobei das Christentum »die Mission für den Norden«, der Islam »die Mission für den Süden« (Religion des Geistes, 368) verkörpert. Das Judentum jedoch, Hüterin der einen Wahrheit, hat sich von seinem Gegenpol Heidentum bzw. Naturreligion strikt getrennt zu halten, »weßhalb es auch einen religiösen Separatismus so lange als ein Bedürfniß der Selbsterhaltung behaupten muß, bis das Heidenthum durch seine Weltanschauung zur freien Aufnahme der Wahrheit des Judenthums herangereift ist« (Religion des Geistes, 364). »Vom Genius der Weltgeschichte getrieben«, verfolgen die Tochterreligionen diesen ihren »Beruf« konsequent bis zu dem Tag, an dem sie »die Menschheit dem Judenthume gewonnen« haben werden: »Dann ist ihre Aufgabe für die Erde gelöst«, »und das ganze Menschengeschlecht bildet nur eine einzige Familie, umschlungen vom himmlischen Bande der Eintracht und der Liebe« (Religion des Geistes, 413).
Obwohl F. einräumte, daß »diese goldene Zeit […] noch in blauer Ferne liegt« (Religion des Geistes, 414), sah er im Rahmen der weltgeschichtlichen Entwicklung in seiner eigenen Lebensepoche und -umgebung eher günstige Bedingungen zur freien Entfaltung der wahren jüdischen Religion nach Überwindung verkrusteter äußerer Hüllen: »Deutschland ist für die Gegenwart derjenige Punkt, wo das Judenthum für seine Selbstbehauptung die geringsten Beweise seines isolirenden Separatismus zeigt und […] dessen als eines Schutzes gegen heidnischen Fanatismus am wenigsten bedarf« (Religion des Geistes, 423). In Übereinstimmung mit den Zielen von Aufklärung, Wissenschaft des Judentums und Reformbewegung forderte F. die deutsch-jüdische Gemeinschaft nachdrücklich auf, »auf dem seit Mendelssohn eingeschlagenen Wege fortzuwandeln und im Erkennen und im Handeln das Ideal des Judenthums immer mehr zu realisiren« (Religion des Geistes, 424). F. sah – und hier ist er ganz Kind seiner optimistischen Zeit – positive Anzeichen für eine endgültige Bekehrung der Menschheit zur wahren Religion und damit für eine allmähliche Lockerung, ja Aufgabe isolierter jüdischer Lebensweise.
Dem 453 Seiten starken Werk scheint zu Lebzeiten F.s keine allzu große Rezeption oder gar Wirkung zuteil geworden zu sein. Aus der Retrospektive des 20. Jahrhunderts heraus wurde es, meist im Zusammenhang mit den ähnlich konzipierten Entwürfen der systematischen jüdischen Denker Salomon Ludwig Steinheim (Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge, 1835) sowie Samuel Hirsch (Die Religionsphilosophie der Juden, 1842), als sprechendes Zeugnis einer besonderen historischen Epoche gelesen und als interessanter Versuch einer apologetischen Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts gewürdigt. So weist M.A. Meyer darauf hin, daß F. wie Hirsch und Steinheim ganz in die Denk- und Sprachwelt der zeitgenössischen deutschen Philosophie eingetaucht waren, ja ohne diese fast unverständlich sind. Allen dreien ging es darum, innerhalb wie außerhalb des Judentums zu zeigen, daß dieses nicht so war, wie deutsche Philosophie und christliche Theologie es – oft polemisch – definiert hatten.
Das Erscheinen seines Hauptwerks markierte den Abschluß von F.s wissenschaftlicher Forschungs- und Publikationstätigkeit. Mit dem Amtsantritt als Großherzoglicher Landesrabbiner begann 1842 eine lange Phase praktisch-theologischen Wirkens, stets und ungebrochen im Sinne des aufgeklärten, liberalen Judentums. F.s praktisches, z.T. auch politisches Wirken (etwa zur Verbesserung der beruflichen Situation jüdischer Religionslehrer), galt regional wie überregional der konkreten Umsetzung des einmal als richtig erkannten Reformanliegens. Konsequent führte er in seiner Gemeinde die entsprechenden Neuerungen – Konfirmation von Jungen und Mädchen mit geregeltem Religionsunterricht, deutsche Predigt und deutsche Liturgie im Synagogengottesdienst – ein und untermauerte dies in seinen jetzt eher praktologisch ausgerichteten Publikationen (Predigten; Katechismus; belletristische, feuilletonistische und erwachsenenbildnerische Projekte).
An den innovativen Rabbinerversammlungen der 1840er Jahre nahm er – mit Unterstützung seines Gemeindevorstandes – aktiv teil, jedoch weniger als reformtheologischer Vordenker als im Interesse der praktischen Umsetzbarkeit der Reformen in der eigenen Gemeinde. Und in der Tat hat die israelitische Gemeinde zu Offenbach unter F.s Rabbinat – unter Vermeidung der andernorts häufigen Spaltung – die entscheidende Hinwendung zum Liberalismus vollzogen, der sie auszeichnete bis zu ihrem gewaltsamen Ende 1939 unter Rabbiner Max Dienemann, einem führenden Kopf des liberalen Judentums.
Werke:
- Die Religion des Geistes. Eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwickelungsgange und Berufe in der Menschheit, Frankfurt 1841.
- Zwölf Predigten, Würzburg 1833.
- Mosaische Religionslehre, für die israelitische Religionsschule dargestellt, Gießen 1860.
- Buchenstein und Cohnberg, Frankfurt 1863. –
Literatur:
- B.J. Bamberger, F.’s History of Judaism, in: HUCA 23/2 (1950/51), 1–35.
- H.J. Schoeps, Jüdisch-christliches Religionsgespräch in neunzehn Jahrhunderten, München/Frankfurt 1961.
- B. Kratz-Ritter, S.F., ein deutscher Reformrabbiner. Wissenschaftliche Abhandlungen des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte, Bd.1, Hildesheim 1991.
- M.A. Meyer, Judentum und Christentum, in: ders. und M. Brenner (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. 2, München 1996, 177–207.
Bettina Kratz-Ritter
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