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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Salomon Jehudah Löb Kohen Rapoport

(Akronym: Shir)

Geb. 1790 in Lemberg; gest. 1867 in Prag

R., der Pionier der osteuropäischen Haskala und hebräischsprachigen Wissenschaft des Judentums, stellte unter dem Einfluß von Nachman Krochmal dem von ihm vehement bekämpften galizischen Chassidismus ein rationalistisches Konzept gegenüber. Darin erhob er die Verbindung von Vernunft und Frömmigkeit, von traditioneller talmudischer und biblischer Bildung mit säkularen Fächern wie klassischen und modernen Sprachen, Geschichte, Mathematik, Medizin und Naturwissenschaft zum Paradigma der jüdischen Kulturentwicklung. Dessen tragende Säulen sah er in Maimonides und Abraham ibn Ezra.

R.s besondere wissenschaftliche Leistung bestand in seinen inhaltlich wie methodisch innovativen Monographien zu Gelehrten der gaonäischen Zeit (Sa‘adja Gaon, Hai Gaon, Chananel b. Chushiel, Nissim b. Jakob, Eleazar ha-Kallir, Nathan b. Jechiel). Sie wurden zwischen 1820 und 1840 in osteuropäischen hebräisch- und deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht und übten einen nachhaltigen Einfluß auf die Wissenschaft des Judentums aus, zu deren Gründungsvätern R. neben Leopold Zunz und Shmuel David Luzzatto zählt.

R. begründete die historisch-kritische Methode bei der Erforschung der rabbinischen Literatur, kombinierte in seinen bibliographischen Studien Quellenanalyse und Philologie mit den Ergebnissen der Historiographie und entwickelte erste Ansätze für eine Synthese bisher isoliert behandelter Phänomene in der jüdischen Literatur. Seinen Schwerpunkt setzte er auf die Erforschung der Wege der Migration des rabbinischen Gelehrtentums, der Transmission ihrer Institutionen, des Brauchtums und der intellektuellen und ethischen Traditionen von Palästina über Italien nach Zentral- und Westeuropa und von Babylonien über Nordafrika nach Spanien. Dabei verfolgte er die Dynamik der Entwicklungslinien der Gelehrten- und Wissenschaftsgeschichte und eröffnete in zahlreichen Nebendiskussionen eine Fülle neuer Forschungsthemen und -gebiete. Seit 1836 gab er den Kerem Chemed (»Lieblicher Weinberg«) heraus, ein hebräischsprachiges Forum des wissenschaftlichen Austausches zwischen west- und osteuropäischen jüdischen Gelehrten.

Anders als die zentralen Figuren der Wissenschaft des Judentums in Deutschland war R.s wissenschaftliches Interesse nicht durch den Emanzipationsgedanken motiviert, sondern durch die Idee einer nationalen Renaissance. Am traditionellen Konzept der religiös-nationalen Einheit des Judentums festhaltend, bestätigte er einerseits seit dem Mittelalter tradierte Grundüberzeugungen und -haltungen wie: Hebräisch als Nationalsprache, Auserwähltheit, Permanenz des besonderen intellektuellen, spirituellen und ethischen Charakters des Judentums und die Liebe zu ereẓ jisra’el (»Land Israel«); andererseits aber sollte seine wissenschaftliche Arbeit auch einen Beitrag zur Geschichte des Rationalismus, des Säkularismus und der Wissenschaft im Judentum liefern. Dem Mittelalter wollte er dabei eine Schlüsselstellung sichern, ohne aber vergangene und gegenwärtige mystische Strömungen in sein kulturelles Paradigma einzubeziehen.

R. stellte dem Chassid Baal Shem Tov und seinen Anhängern den Rationalismus des Maimonides und Mendelssohns Jerusalem entgegen, wie er auch gegenüber der Kabbala und dem Mystizismus den Vernunftgehalt des Judentums und die Freiheit der Gedanken betonte. Dennoch lehnte er, der ab 1837 das Rabbinat in Ternopol und seit 1840 das Rabbinat in Prag inne hatte, den Reformgedanken strikt ab. Er bejahte die Interaktion mit der Kultur der Umwelt als Stimulation und Bereicherung des Judentums und konzipierte jüdische Kultur als historisch eng verbunden und beeinflußt von der jeweiligen Umgebung, jedoch die Reformbeschlüsse der Rabbinerversammlungen in den vierziger Jahren lehnte er ab, »denn sie halten unseren Fortschritt auf der Bahn der historischen Entwicklung auf« (Sendschreiben, 1845). Diese sah er von einem sich im »Volksleben« äußernden göttlichen Entwicklungsgesetz garantiert, aus dem heraus innere Umgestaltungen geschehen und sich der modus vivendi für den Umgang mit der umgebenden Kultur von selbst ergeben sollte. Da es seit der gaonäischen Zeit keine Institution mehr gab, die die Halacha hätte verändern können, beharrte R. auf allen »exclusiven und separatistischen Satzungen« auf religiösem Gebiet. Politische Gleichstellung schließe nationale Identität und religionsgesetzliche Exklusivität nicht aus. Nur aufgrund seiner Treue zum mündlichen und schriftlichen Gesetz führe das Judentum »nicht nur ein individuelles, sondern auch ein nationales Leben, als ein heiliges Volk und Träger einer ewigen Wahrheit«. »Hütet Euch […] die Verhältnisse, welche die Gesammtheit betreffen […] anzutasten, hier müßt ihr Euch den bestehenden Gesetzen fügen, wenn Ihr dem Israelitenthum ferner angehören wollt […].« Vollständige politische Gleichstellung, so war er überzeugt, sei nur durch die Taufe zu erlangen. Wozu dann Reformen? Und »wisset ihr was in der Zeiten Hintergrund noch verborgen ist? Seyd ihr denn gesichert, daß die Zeit der Verlockung und Verleitung, die Zeiten der Genußsucht und der glatten Sprachzüngigkeit nicht wiederkehren, oder daß die Zeit blutiger Verfolgung nicht abermals eintreten könnte, ohne daß wir alsdann unsere alten schützenden Waffen hätten, der Gefahr Widerstand zu leisten?« (Sendschreiben). Das jüdische Volk stöhne nicht unter dem »Joch des Gesetzes«, sondern finde im Gegenteil in den Religionsvorschriften und Ritualen und der mit ihnen verbundenen Erlösungshoffnung neuen Geist, spirituelle Belebung und Inspiration.

R. argumentierte weder philosophisch noch halachisch, sondern pragmatisch aus der aktuellen Situation des jüdischen Volkes, vom Standpunkt der gesamtnationalen jüdischen Verantwortung, der Einheit und Kontinuität der jüdischen Existenz. Isaak Markus Jost, Abraham Geiger und Julius Fürst warfen ihm nach anfänglicher Bewunderung für sein wissenschaftliches Werk vor, mit seiner nationalen und reformskeptischen Haltung im Widerspruch zur eigenen wissenschaftlichen Methode zu stehen, und grenzten ihn schließlich als anachronistisch und »polnisch« aus. Auf der anderen Seite aber hatte R. für Zacharias Frankels Darke ha-Mishnah Partei ergriffen und sich gegen die orthodoxe Position ausgesprochen, die die Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die rabbinische Literatur ablehnte. Ebenso verteidigte er vorsichtige Kultusreformen wie die von Michael Sachs in Berlin gegen orthodoxe Kontrahenten.

Als eine streitbare Persönlichkeit war R. zeitlebens in Kontroversen über ideologische, historische und philologische Fragen verwickelt. In Ternopol hatte er sich als Aufklärer gegen die Angriffe der Chassidim zur Wehr zu setzen, mit S.D. Luzzatto trug er Differenzen über Maimonides und Abraham ibn Ezra, religionsphilosophische und liturgische Fragen aus; er bestritt A. Geigers Ansichten zu Maimonides’ Iggeret ha-Shemad (»Brief über die erzwungene Konversion«) und lehnte dessen Forderung, die kritische Methode der Wissenschaft auch auf die praktische Gestaltung der jüdischen Gegenwart anzuwenden, ab. Obwohl er in praktischen Fragen aus Gründen der nationalen Einheit nur zu vorsichtigen Eingriffen in den Kultus bereit war, verfocht R. vehement die liberalen Positionen des Säkularismus und der Gedankenfreiheit. Auch in Einführungen und haskamot (»Empfehlung«) von Büchern, in Sendschreiben zu mehreren historischen Werken sowie in Briefen wissenschaftlichen Inhalts entwickelte R. seine Thesen und führte seine Kontroversen fort. Das große Projekt einer talmudischen Enzyklopädie (‘Erekh Millin), die sich hauptsächlich historischen und archäologischen Aspekten widmen sollte, blieb ein Torso.

Werke:

  • R.s Aufsätze in Bikkure ha-Ittim (1828–31), Kerem Chemed (1833–1843), WZjTh 2 (1836), 4 (1839), Literaturblatt des Orient 1 (1840) und ZrIJ 1 (1844).
  • Sendschreiben eines Rabbiners an die Rabbiner-Versammlung in Frankfurt am Main, Frankfurt 1845.
  • ‘Erekh Millin, Bd. 1, Prag 1852.
  • Nachalat Jehudah, Kraków 1868.
  • Iggerot Shir, hg. S.E. Graeber, Przemysl 1885. –

Literatur:

  • S. Bernfeld, Toledot Shir, Berlin 1899.
  • I.E. Barzilay, S.R. (Shir) (1790–1867) and His Contemporaries: some aspects of Jewish scholarship of the nineteenth century, Israel 1969.

Margit Schad

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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