Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Samuel David Luzzatto
(Akronym: Shedal oder Shadal)
Geb. 22.8.1800 in Triest;
gest. 30.9.1865 in Padua
L. ist eine der zentralen Persönlichkeiten der europäischen Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts. Von einfacher Herkunft und autodidaktischer Bildung, zeigte L. bald ein großes Talent für Sprachen, die er in der Forschung auf den Gebieten der Bibelexegese und der hebräischen Sprachwissenschaft einsetzte. Damit nahm er aktiv teil an der Erneuerung der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums, wie sie vor allem in Deutschland und in Osteuropa entwickelt wurde. Nicht zufällig sind die meisten seiner Korrespondenten aus dieser Region (vgl. seine Hebräischen Briefe, 1882–1891 und das Epistolario italiano francese latino, 1890). Innerhalb dieser Bewegung kann er als Vertreter der italienisch-jüdischen Tradition gelten, wobei nicht zu vergessen ist, daß seine Geburtsstadt Triest damals Teil der österreichischungarischen Monarchie war, was L.s Kontakte zur deutschsprachigen Welt begünstigte.
In fast allen Bereichen seiner wissenschaftlichen Arbeit hat L. wichtige und innovative Beiträge hinterlassen: in der Geschichte der Liturgie (Machazor kol ha-Shanah kefi Minhag Bene Italijanj, »Ritual der Gebete nach dem italienischen Ritus«, 1856 und 1866); in den Studien der mittelalterlichen hebräischen Poesie (Betulat bat Jehudah, »Die jungfräuliche Tochter des Jehudah«, 1840; Diwan Rabbi Jehudah Halewi, »Der Diwan des Rabbi Jehuda Halewi«, 1864); in der Bibelexegese (Ha-Mishtaddel, ein Kommentar zum Pentateuch, 1847; Perush ‘al Chamishah Chumshe Torah, ein weiterer Kommentar zum Pentateuch, 1871; Perush Shadal al Sefer Jeshajah, »Kommentar zum Buch Jesaia«, 1855–1897; schließlich eine Arbeit über die aramäische Bibelübersetzung, den sog. Targum Onkelos, Ohev Ger (Philoxenus, sive de Onkelosi chaldaica Pentateuchi versione, Dissertatio hermeneutico-critica, 1845). Darüber hinaus arbeitete L. auch zur hebräischen Grammatik und schrieb eine Grammatica della lingua ebraica (1853). Seit 1829 war er Professor am rabbinischen Kolleg von Padua und bildete Generationen von italienischen Rabbinern aus. Für seine Studenten entwickelte er ein dogmatisches und moralischtheologisches System in seinen Werken Lezioni de teologia morale israelitica, 1862, und Lezioni de teologia dogmatica israelitica, 1863. Neben seinen wissenschaftlichen, theologischen und linguistischen Arbeiten etablierte sich L. auch als hebräischer Dichter; seit jungen Jahren schrieb er Gedichte, die ihn zu einem der großen italienischjüdischen Dichter machten. Er verfaßte religiöse wie profane Gedichte, versammelt in Kinnor Na‘im (»Angenehme Lyra«, 1825), bei denen er einen in Italien damals üblichen Reim verwendete, der auf der vorletzten Silbe betont wurde (mille‘eli).
Die Zentren seines Interesses bilden Sprache und Moralphilosophie. In der hebräischen Sprache sah er das fundamentale Element der jüdischen Kultur und Religion. Schon im Alter von 18 Jahren schrieb er ein umfangreiches Gedicht (‘Al he-‘Arim ha-Niddahot, »Über die fernen Städte«), das sich gegen den in Deutschland aufgekommenen und auch da umstrittenen Vorschlag wendete, das Deutsche als Sprache der jüdischen Liturgie zu verwenden, was seiner Meinung nach nicht nur das Hebräische vernachlässige, sondern letztlich zum Verlust der jüdischen Religion überhaupt führen werde. Auch in den folgenden Jahren, etwa 1825, beschuldigte er die europäisch-jüdischen Intellektuellen, zwar alte und moderne Sprachen zu beherrschen, aber nicht das Hebräische. Dagegen besteht L. unermüdlich auf der Wichtigkeit des Hebräisch-Studiums, ohne das ein angemessenes Verständnis der biblischen Texte nicht möglich sei. Dies unterstrich er anekdotenhaft auch dadurch, daß sein Vater, ein einfacher Tischler, aber vorzüglicher Kenner des Hebräischen, eine schwierige Passage der Tora besser verstanden hat als Moses Mendelssohn. L. machte seine sprachliche Sensibilität und profunde Kenntnis der semitischen Sprachen – dies vor dem Hintergrund eines historischen Kulturbegriffs, der auch die Kultur der alten Hebräer mit ihrem Hauptwerk, der Bibel, beinhaltet – konsequenterweise auch für die Bibelexegese fruchtbar. In seinen Kommentaren, die ebenfalls ein Ergebnis seiner Vorlesungen am Rabbinischen Kolleg sind, sucht L. vor allem den wörtlichen Sinn des Textes zu verstehen, selbst wenn dieser der rabbinischen Tradition widerspricht. Bei seinen zum großen Teil aus linguistischen Bemerkungen bestehenden exegetischen Arbeiten beruft er sich nicht nur auf Rashi (Shlomo ben Isaak), sondern auch auf die griechischen und lateinischen Bibelübersetzungen (Septuaginta und Vulgata) sowie auf die antiken und modernen christlichen Kommentare.
Das philosophische Denken L.s ist relativ einfach. Für ihn steht der moralische Instinkt des Menschen im Mittelpunkt, der von der Religion (besonders in der jüdischen) geleitet wird: »Menschlichkeit und Gerechtigkeit praktizieren und alle sozialen Tugenden, die sich davon ableiten: hier haben wir die Synthese des Göttlichen Gesetzes« (Lezioni di teologia morale israelitica). Dabei wird auf der einen Seite die intellektuelle Optik von Maimonides, die die theoretische und kontemplative Denkarbeit als höchsten Zweck des Menschen ansieht, von L. konsequent zurückgewiesen; in ihr sieht er einen griechisch-arabischen, also dem Judentum fremden Einfluß. Noch stärker ist seine Ablehnung der Kabbala auf der anderen Seite, wie er philologisch und theoretisch begründet (Wikkuach ‘al Chokhmat ha-Qabbalah, »Streit über die Kabbala«, 1852). Dabei geht L. von dem zentralen Text der Kabbala aus, dem Sohar, der dem Mischna-Lehrer Shimon bar Jochaj (2. Jh.) zugeschrieben wird. Nach eingehender Analyse des Textes stellt L. dagegen fest, daß der Text in Wirklichkeit aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammt, was seine Aura der Heiligkeit zerstören mußte. Seine Kritik richtete sich aber auch gegen die spätere, lurianische Kabbala (16. Jh.), die in seinen Augen eine Ansammlung unverständlicher Ideen, legitimiert durch das Autoritätsprinzip des Meisters, darstellt und ihm, wie zahlreichen Vertretern der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert (etwa Heinrich Graetz), insgesamt als eine obskure Lehre gilt. Damit stellt L. gegen die rationalistisch-maimonidische Tradition und gegen das esoterische Denken eine eigene These. Gemäß L. nämlich hat der Mensch neben der physischen Sensibilität, die ihn Lust suchen und Schmerz meiden läßt, eine zweite, moralische Sensibilität, die ihn angesichts der Leiden anderer und beim Anblick von Ungerechtigkeit mitleiden läßt, und die ihm Freude bereitet, wenn er die Freude beim anderen und Gerechtigkeit erlebt. Diese Gefühle ergeben sich aus einer natürlichen Moral, die die Schwächen des Naturgesetzes durch ein Religionsgesetz aufzufangen vermag, indem es die Ungewißheit darüber, was gut und was schlecht ist, beseitigt. Es bestärkt so die Tendenzen zum Guten, leistet geradezu eine Erziehung zum Guten. Das religiöse Gesetz hat als moralische Grundlage das menschliche Empfinden. Das Naturgesetz wiederum ist jedoch letztlich nichts anderes als der Wille Gottes, ausgedrückt durch die Organe der Natur, mithin durch das, was er selbst geschaffen hat. Die jüdische Religion ist gemäß L. folglich eine wesentlich moralische Religion, deren Ziel Mitleid und Menschlichkeit ist: »Der Glaube, den die Religion von Moses fordert, ist nur das vernünftige Annehmen der Argumente der moralischen Gewißheit, die uns in allen Dingen des Lebens leiten« (Lezioni di teologia dogmatica israelitica). Das Bestehen auf der Moral wird bei L. letztlich auch von einem Mißtrauen gegenüber zeitgenössischen Fortschrittstheorien begleitet, die das natürliche Gefühl des Mitleids durch den Wunsch nach weltlichem Erfolg, das soziale Band durch den Individualismus ersetzen. Als Träger einer moralischen Instanz (»das jüdische Volk hat lange, inmitten einer entgleisten Welt […], die Prinzipien einer gesunden Moral bewahrt«) bildet das Judentum nach L. deshalb geradezu eine Antithese zu den Gefahren der modernen Gesellschaft. Es ist einer der Pole in der Dialektik zwischen der moralischen, nüchternen und statischen Instanz auf der einen und der intellektuellen, technischen und dynamischen Instanz (was er als »griechischen Geist« bezeichnet, so in Derekh Ereẓ o Attizismus oder »Sittlichkeit oder griechischer Geist«) auf der anderen Seite, in der die Menschheit sich bewegt.
Werke:
- Autobiografia di S.D. L. preceduta da alcune notizie storico-letterarie sulla famiglia L., Padova 1882.
- Ketavim (Ausgewählte Schriften, hebr.), 2 Bde., hg. M.E. Artom, Jerusalem 1976. –
Literatur:
- I. Luzzatto, Catalogo ragionato degli scritti sparsi di S.D.L., 1881.
- S.D.L. Ein Gedenkbuch zum hundertsten Geburtstag, hg. Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland, 1900.
- N.H. Rosenbloom, L.s ethico-psychological interpretation of Judaism, New York 1965.
- M.B. Margolies, S.D.L., traditionalist scholar, New York 1979.
Alessandro Guetta (Übersetzung: Monika Brand)
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