Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Schalom Ben-Chorin
(bis 1931: Fritz Rosenthal)
Geb. 20.7.1913 in München;
gest. 7.5.1999 in Jerusalem
Aus einer assimilierten bayerisch-jüdischen Familie stammend, wandte sich S. 1928 einer streng orthodoxen Lebensweise zu und schloß sich der zionistischen Bewegung an. In seiner Jugend wählte er einen hebräischen Namen, der sein Lebensprogramm wurde: »Friede, Sohn der Freiheit«. Infolge des »Arierparagraphen« mußte er 1934 das Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Religionswissenschaft an der Münchner Universität abbrechen. Als »eine Art Wiedergutmachung« empfand er die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München (1988), der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn (1993) und eine baden-württembergische Professur (1986) nach Gastvorlesungen in Tübingen.
Die Erfahrung von Mißhandlung und Verhaftung auf offener Straße 1933 in München wurde für ihn zu einem einschneidenden Moment seiner Lebensgeschichte. Das Visum und die Schiffskarte nach Argentinien, die ihm seine Schwester schickte, wies er zurück und folgte dem »Kompaß seines Herzens«, der nach Jerusalem zeigte. 1935 verließ er die Heimat seiner Vorfahren, um in die Heimat seiner biblischen Ahnen einzuwandern. Im Brotberuf arbeitete er als Jerusalemer Korrespondent und Journalist für eine deutschsprachige Tageszeitung in Tel Aviv. Feuilletons aus über einem halben Jahrhundert, die seine Wegbereiter und Wegbegleiter beschreiben (Max Brod, Else Lasker-Schüler, Arnold Zweig, Thomas Mann u.a.), sind in dem Band Begegnungen. Porträts bekannter und verkannter Zeitgenossen (1991) gesammelt. Seinem verehrten Lehrer widmete S. 1966 seine Zwiesprache mit Martin Buber.
S.s Werk, der sich als »Grenzgänger zwischen Literatur, Journalistik und Theologie« verstand, wurde in viele Sprachen übersetzt und umfaßt mehr als dreißig Titel: theologische Studien, Erzählungen, Gedichte, Feuilletons und seine Autobiographie (Jugend an der Isar, 1974; Ich lebe in Jerusalem, 1972). Neben seinen künstlerischen Talenten als Zeichner und Schriftsteller verfolgte S. schon früh sein theologisches Interesse. Bereits 1939 befaßte sich S. mit der jüdischen Glaubenslage der Gegenwart in seinem Buch Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus. Auf der einen Seite eine starre Orthodoxie, auf der anderen Seite ein Zion ohne Gott, wollte er eine dritte religiöse Position schaffen und schloß sich der jüdischamerikanischen Reformbewegung an, was 1958 zur Gründung einer jüdischen Reformgemeinde in Jerusalem führte, der Har-El-Synagoge. In sechs Bänden bot er später eine umfassende systematische Einführung in die jüdische Theologie, Anthropologie und Ethik: So vermittelt er in seinem Buch Jüdischer Glaube (1975/79) den Glaubensinhalt des Judentums, das keine Dogmatik, aber dogmatische Lehrinhalte kennt, anhand der Dreizehn Glaubensartikel des Maimonides. Im Band Die Tafeln des Bundes (1979/87) wird der Dekalog als »Grundgesetz der hebräischen Bibel«, als »Kern und Stern der Tora« herausgestellt. Noch in der Anthologie Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert (1988) erörtert er die Problematik jüdischer Theologie. Er hebt hier den Unterschied zur christlichen Theologie hervor, für die auf Grund der Inkarnation eine Identität von Gott und Wort gilt, die es so im Judentum nicht gibt: »Theologie ist die Rede von Gott. Jüdische Theologie ist die Rede vom redenden Gott.«
Dies weist auch darauf hin, daß S. sein Schaffen insgesamt nicht nur einer »jüdischen Theologie« an sich widmete, sondern mehr noch an der Nahtstelle von Judentum und Christentum ansiedelte; seit 1940 brachte er zudem auch das interreligiöse Gespräch im palästinischen Raum in Gang. Bereits um 1940 verfaßte er Schriften zur jüdisch-christlichen Verständigung (z.B. Die Christusfrage an den Juden, 1941; Das christliche Verständnis des Alten Testaments und der jüdische Einwand, 1941), für die er sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erneut einsetzte. 1956 reiste er zum ersten Mal wieder nach Deutschland und suchte den Dialog mit deutschen Christen beider Konfessionen. Brücke aller Begegnungen, aber auch über die Abgründe der Geschichte hinweg, blieb für ihn die deutsche Sprache, aus der er nie auswanderte. Über ein halbes Jahrhundert wirkte S. so als Wortführer des jüdisch-christlichen Gesprächs und als Brückenbauer der deutsch-israelischen Versöhnung. Dem jüdisch-christlichen Dialog sind mehrere Aufsatzsammlungen gewidmet (Theologia Judaica I/II, 1982, 1992; Weil wir Brüder sind, 1988). Grundsätzliche Ansprüche an das jüdisch-christliche Gespräch wurden hier formuliert: Sein wahres Wesen ist »Unterredung, nicht Überredung«; es darf sich nicht zu einer »Einbahnstraße« verengen und muß das Trennende wie Einende herausstellen. Die Christenheit muß sich ihrer jüdischen Wurzeln wieder bewußt werden, denn: »Der Christ auf der Suche nach seiner eigenen Identität muß dem Judentum begegnen.« Den Schwerpunkt seines Schaffens bildet – als Aspekt dieses jüdisch-christlichen Dialogs – die Trilogie Die Heimkehr, welche die zentralen Gestalten des Neuen Testaments aus jüdischer Sicht darstellt: Bruder Jesus (1967), Apostel Paulus (1970) und Mutter Mirjam (1971). Dem Rabbi von Nazareth hatte er schon 1934 in München einen Gedicht-Zyklus gewidmet. In seiner Studie über den Bruder Jesus, den er als »Ur- und Nur-Juden« wahrnimmt, zog S. die Grenze und schlug zugleich die Brücke zwischen Judentum und Christentum. Der programmatische Auftakt seines Jesus-Porträts wurde zum viel zitierten Wort: »Der Glaube Jesu einigt uns, aber der Glaube an Jesus trennt uns.«
Nach dem Krieg wurde S. auch ein theologischer Deuter des Holocaust. Bereits 1956 unternahm er einen ersten Versuch in seinem Buch Die Antwort des Jona, in dem er die Unvergleichbarkeit des Holocaust, den Glauben und die Gottesfrage nach Auschwitz behandelte. S. versucht hier, die jüngste jüdische Tragödie an den biblischen Leidensparadigmen zu messen (insbesondere an der Hiob-Gestalt) und den Gestaltwandel Israels nach dem Holocaust und nach der Staatsgründung (1948) zu verdeutlichen. Die Antwort des Jona fand 1986 eine Fortsetzung in der Schrift Als Gott schwieg. Ein jüdisches Credo, welche Ansätze der früheren Publikation in einzelnen Essays und damit jene »Blut- und Tränenspur« wieder aufnahm, die sich von der »Bindung Isaaks, über Golgatha, bis nach Auschwitz« zieht. Hier skizzierte S. die unterschiedlichen Arten und Deutungen des Leidens in der Tora, doch betonte er den Unterschied zwischen der göttlichen und der menschlichen Perspektive auf das Leiden. Während jeder Versuch, in den Leiden einen Weg Gottes in die Welt zu sehen, spekulativ bleibt, öffnet sich die menschliche Sicht, die Leiden als Weg zu Gott zu erkennen. 1992 stellte S. erneut die Theodizeefrage in einer Meditation zu Johannes Brahms’ Ein Deutsches Requiem und Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau und fand seine Antwort im Buch Hiob: »Ich lege meine Hand auf meinen Mund.«
Werke:
- Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus. Versuch über die jüdische Glaubenslage, Tübingen 1991 (1939).
- Jüdischer Glaube. Strukturen einer Theologie des Judentums anhand des Maimonidianischen Credo, Tübingen 1979 (1975).
- Die Heimkehr: Jesus, Paulus, Maria in jüdischer Sicht, München 1983.
- Weil wir Brüder sind. Zum christlich-jüdischen Dialog heute, Gerlingen 1988.
- Begegnungen. Porträts bekannter und verkannter Zeitgenossen, hg. V. Lenzen, Gerlingen 1991 –
Literatur:
- G. Müller (Hg.), Israel hat dennoch Gott zum Trost, Festschrift, Trier 1978.
- H. Bleicher (Hg.), Der Mann, der Friede heißt, Festschrift, Gerlingen 1983.
Verena Lenzen
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