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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Uriel da Costa

(bis 1614: Gabriel da Costa; Uriel Acosta, zeitweise Adam Romes)

Geb. 1584 in Porto (Portugal);

gest. im April 1640 in Amsterdam

D.C. war das zweite von neun Kindern des aus einer vornehmen Marranenfamilie stammenden christlichen Kaufmanns Bento da Costa und seiner Ehefrau Branca Dinis in Porto (Portugal). Am 19. Oktober 1600 beendete D.C. in Porto die Lateinschule, von 1601–1608 studierte er an der Fakultät für Kanonisches Recht der Jesuitenhochschule in Coimbra. 1603 erhielt er die niederen Weihen und wurde Sekretär des Erzbischofs von Coimbra. Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1608 kehrte D.C. nach Porto zurück und war von 1609 bis 1611 Schatzmeister an der dortigen Stiftskirche Martinho de Cedofeita. Er heiratete 1612 Francisca (ab 1614 Rachel) de Crasto. Im Jahre 1614 übersiedelte D.C. nach Amsterdam (mit Gattin, Mutter und Brüdern). In dieses Jahr fällt auch seine Rückkehr zum Judentum, seine Beschneidung und Annahme des Vornamens Uriel. Von 1615 bis 1616 reiste er nach Venedig und Hamburg, um in den dortigen jüdischen Gemeinden mehr über das Judentum und die mündliche Tradition zu erfahren. Im Jahre 1616 verfaßte D.C. seine Propostas contra a tradiçao (»Thesen gegen die Tradition«), die von Leon da Modena verworfen wurden. Am 14. August 1618 sprachen die Gemeinden Hamburgs und Venedigs den Bann über D.C. aus. Er pendelte als Kaufmann unter dem Pseudonym Adam Romes (oder Romez) zwischen Amsterdam und Hamburg. Im Jahre 1622 verfaßte er gegen Leon da Modena den »Traktat von der Sterblichkeit der Seele des Menschen« (Sobra a moralidade da alma do homem). Nach einer Gegenschrift von Samuel da Silva unter dem Titel »Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele« (Tratado de immortalidade da alma, 1623) wurde am 15. Mai 1623 auch der Bann der Amsterdamer Gemeinde über D.C. verhängt. 1624 veröffentlichte er gegen Samuel da Silva seine Schrift: Exame das tradições phariseas (»Prüfung der pharisäischen Tradition«). Das Buch wurde öffentlich verbrannt, und D.C. floh nach Utrecht. Nach Aufhebung des Amsterdamer Bannes kehrte D.C. im Geburtsjahr Baruch de Spinozas 1630 nach Amsterdam zurück. Weil er aber zwei Christen (einen Spanier und einen Italiener) überredet hatte, nicht zum Judentum zu konvertieren, wurde D.C. 1633 in Amsterdam erneut gebannt. Im Jahre 1636 verfaßte Manasse ben Israel gegen D.C. seine drei Bücher Resurrecion de los muertos […] contra los Zaduceos (»Über die Auferstehung der Toten […] gegen die Sadduzäer«). Im April 1640 widerrief D.C. vor der Gemeinde in Amsterdam seine Thesen von der Sterblichkeit der Seele. Nach dem Züchtigungsritual in der Synagoge schrieb er seine Autobiographie Exemplar humanae vitae (»Beispiel eines menschlichen Lebens«) und erschoß sich.

Von den genannten Schriften ist besonders das Exemplar beachtet worden, das der Arminianer Philipp van Limborch 1687 erstmals als Anhang zu seiner Schrift De veritate religionis Christianae amica collatio cum erudito Iudaeo (»Freundliche Unterredung mit einem gelehrten Juden über die Wahrheit der christlichen Religion«) in Gouda veröffentlichte. D.C. beschreibt im Exemplar seinen Weg von einem frommen Katholiken über einen kritischen Juden zu einem jüdischen Deisten. Obwohl diese Schrift keine wissenschaftliche Abhandlung ist – D.C. konnte weder Hebräisch noch Holländisch und war weder mit der philosophischen noch mit der speziell jüdischen Literatur vertraut – kann sie dennoch als die radikalste jüdische Religionskritik der frühen Neuzeit bezeichnet werden. Sie ist radikale Religionskritik, weil sie Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen hinterfragt; sie ist jüdisch, weil diese Kritik mit innerjüdischen Argumenten von einem Juden vorgetragen wird. Die Argumentation D.C.s läuft wie folgt: Ein Vergleich zwischen dem, was in der Tora steht und dem, was die Rabbiner (für D.C. schlicht »die Pharisäer«, weshalb D.C. selbst als Sadduzäer bezeichnet wurde) lehren, führt, laut D.C., notwendig zu der Einsicht, daß die Lehren der Rabbiner nicht vollständig mit denen der Tora übereinstimmen. Da sich die jüdische Tradition neben der Tora auch auf die mündliche Tora beruft, folgert D.C.: »Es ist aus der Tora nicht ersichtlich, daß eine andere Tora sich vorfindet […]; es hätte doch in der Tora erwähnt werden müssen, denn wenn einer ohne dies irgend etwas bekräftigen wollte, läge darin kein Beweis.« Diese puristische Einstellung führt zu D.C.s Thesen gegen die Tradition und zu seiner Prüfung der pharisäischen Tradition. Maßgebliches Instrument eines Vergleiches zwischen der pharisäischen Tradition und der Tora könne nur etwas sein, was weder von der (schriftlichen) Tora noch von der (mündlichen) Tradition abhängig ist. Dies ist für D.C. die »rechte Vernunft« (recta ratio). Mit dieser Vernunft prüft D.C. nun auch die Tora selbst (lex Mosis) und kommt zu dem Ergebnis: »Das Gesetz stammt nicht von Moses, sondern es ist lediglich eine menschliche Erfindung (inventum humanum). Vieles widerstreitet nämlich dem Naturgesetz, und Gott, der Schöpfer der Natur, kann sich nicht selbst widersprechen.« Dieses Naturgesetz (lex naturae) ist für D.C. identisch mit der »wahren Religion« (vera religio) Noahs, welche sich ausgehend von den sieben noachidischen Vorschriften entwickelt hat. Diese (nur in der mündlichen Tradition überlieferte) Religion Noahs ist für D.C. »das ursprüngliche Gesetz, das von Anbeginn war und immer sein wird« (lex, quae primaria est et a principio fuit et erit semper). Da das Naturgesetz »allen Menschen gemeinsam und angeboren« ist, führt jede Abweichung von ihm zum Irrtum und Streit.

Auf der Basis dieser naturrechtlichen Minimalreligion greift D.C. nun die drei Offenbarungsreligionen scharf an. Sein Prinzip lautet, daß allein die »rechte Vernunft die wahre Norm jenes Naturgesetzes« sei (recta ratio, quae vera norma est illius naturalis legis). D.C.s Schriften sind nicht allein eine Apologie dieses Naturgesetzes, sondern auch eine aufgeklärte Kritik an den Verfallsformen der Religionen. Jede Abweichung von der »ursprünglichen«, reinen Form der Religion bedeute ihre »Verfälschung« (adulterium). Je weiter man sich von dem Ursprung entferne, desto mehr »Übel und Ungeheuerlichkeiten« (mala et horrenda) würden die Religionen enthalten. In diesem Sinn ist D.C. später auch von Johannes Müller (1672), Pierre Bayle (1720), Hermann Samuel Reimarus/Gotthold Ephraim Lessing (1774), Johann Gottfried Herder (1795), Karl Gutzkow (1834: »Der Sadduzäer von Amsterdam«; 1846: »Uriel Acosta«) und Alfred Klaar (1909) interpretiert worden. Die maßgebliche Edition (mit Übersetzung) des »Exemplar« ist die von Hans-Wolfgang Krautz (2001).

Werke:

  • Die Schriften des U.D.C. Mit Einl., Übertragung und Regesten hg. Carl Gebhardt, Amsterdam/Heidelberg/London 1922.
  • Examination of Pharisaic Traditions. Exame das tradições phariseas. Facsimile of the unique copy in the Royal Library of Copenhagen, supplemented by Semuel da Silva’s Treatise on the Immortality of the Soul. Tratado da immoralidade da alma, übers., eingel. mit Anm. H. P. Salomon and I.S.D. Sassoon, Leiden/New York/Köln 1993.
  • Exemplar humanae vitae – Beispiel eines menschlichen Lebens, hg., übers. u. erläutert H.-W. Krautz, Tübingen 2001 (mit Bibliographie zur Wirkungsgeschichte von U.D.C.). –

Literatur:

  • H. H. Houben, Gutzkow-Funde, Berlin 1901.
  • J. Kastein, U.D.C. oder Die Tragödie der Gesinnung, Berlin 1932.
  • K. Müller, Das »Exemplar humanae vitae« des U.D.C., Aarau 1952.
  • J.-P. Osier, d’U.D.C. à Spinoza, Paris 1983.
  • F. Niewöhner, U.D.C.s »Exemplar humanae vitae«, in: F. Niewöhner und F. Rädle (Hg.), Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit, Hildesheim/Zürich/New York 1999, 171–180.

Friedrich Niewöhner

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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