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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Zwi Hirsch Kalischer

Geb. 1.4.1795 in Lissa (Leszno, Provinz Posen); gest. 16.10.1874 in Thorn

K. wird zusammen mit Jehudah Alkalaj und Moses Hess zu den sog. Protozionisten gerechnet, die bereits vor dem Auftreten von Theodor Herzl und dem klassischen Zionismus die Idee einer Rückkehr der Juden nach ereẓ jisra’el (»Land Israel«) propagierten. Obwohl K. seine Absichten durchaus in einer Beziehung zu den nationalen Bestrebungen anderer europäischer Völker seiner Zeit sah, schöpfte er seine Anregungen in erster Linie aus der jüdischen Tradition.

K. erwarb eine traditionelle jüdische Ausbildung und studierte zunächst in seiner Heimatstadt bei Jakob Lorbeerbaum und später in Posen bei Akiva Eger. Im Selbststudium machte er sich mit der neuzeitlichen Philosophie vertraut und las auch die Werke jüdischer Aufklärer wie Moses Mendelssohn und Naftali Herz Wessely. Im Jahre 1824 ließ er sich in Thorn nieder, wo er trotz zahlreicher Angebote anderer Gemeinden, ein Rabbinat zu übernehmen, bis zu seinem Tod blieb und unentgeltlich das Rabbineramt ausübte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er durch ein bescheidenes Holzgeschäft. K. schrieb Beiträge für verschiedene Periodika und publizierte zwei Bücher über halachische Fragen, Even Bochan (»Prüfstein«, 1842) und Moznajim la-Mishpat (»Waage des Rechts«, 1855). Sein Buch Emunah Jesharah (»Aufrichtiger Glaube«, 1843) ist eine Verteidigung des traditionellen Judentums gegen die Reformbestrebungen seiner Zeit und versucht zu beweisen, daß dessen Dogmen mit der Vernunft in Übereinstimmung stehen.

K.s Bedeutung beruht jedoch weniger auf seinen halachischen und religionsphilosophischen Schriften, sondern in erster Linie auf seinem publizistischen und politischen Engagement für die Wiedererrichtung einer jüdischen Heimstatt in ereẓ jisra’el. Bereits 1836 wandte er sich mit diesem Anliegen an Baron Anschel Rothschild in einem Sendschreiben, in dem schon die wesentlichen Grundlagen seiner später umfassender dargelegten Gedanken enthalten sind. Sie sind (neben anderen Schriften) vor allem in seiner 1862 erschienenen Derishat Ẓijjon (Titel der dt. Übersetzung: »Zions Herstellung«, 1865) enthalten, die als zweiter Teil seiner Emunah Jesharah konzipiert war.

K. entwickelt seine Thesen auf der Grundlage der jüdischen Tradition und führt daher zahlreiche Belege aus der rabbinischen Literatur, der mittelalterlichen Philosophie, der Kabbala und zahlreicher späterer halachischer Autoritäten an. Unter Bezugnahme auf Jehudah Halewis Kuzari weist er daraufhin, daß das Land Kanaan in einer besonderen Beziehung mit dem Gott Israels steht und die religiösen Handlungen nur dort vollkommen ausgeführt werden können. Die Halacha ohne die an ereẓ jisra’el und den Tempelkult gekoppelten Gebote sei unvollständig. Demzufolge müsse danach gestrebt werden, die Halacha wieder in ihrer Vollständigkeit zur Ausführung zu bringen. Wie auch in der Welt der Natur jede Sache ihre spezifische Funktion habe, ohne die die Natur als ganzes nicht bestehen könne, so habe auch jedes einzelne Gebot der Tora eine Funktion, die für den Gesamtkomplex der 613 Gebote der Tora unentbehrlich ist. In diesem Zusammenhang hob K. besonders die Notwendigkeit der Wiedereinrichtung des Tempelkultes hervor, den er nicht wie viele vor ihm als Ergebnis des messianischen Prozesses auffaßte, sondern als dessen Vorstufe. Aus diesem Grund geschehe die Besiedlung des Landes und die Wiedereinrichtung des Tempelkultes nicht um ihrer selbst willen, sondern um die vollständige Erlösung näher herbei zu bringen, und sie werde in erster Linie von menschlichen Aktivitäten abhängig sein und nicht durch einen plötzlichen, unmittelbaren Eingriff Gottes in die Geschichte vonstatten gehen. Erst wenn das Land wieder besiedelt ist und der Opferkult praktiziert wird, werden die Kriege von Gog und Magog kommen und schließlich der Messias. Die Erlösung ist damit auch kein einmaliges Ereignis, sondern nimmt allmählich Gestalt an. Mit diesen Auffassungen konnte sich K. zwar durchaus auf rabbinische Traditionen berufen (vgl. etwa Shir ha-Shirim Rabbah VI, 10), jedoch wurde seine Deutung der traditionellen Quellen nicht immer von seinen Zeitgenossen, etwa Jacob Ettlinger, ohne Widerspruch akzeptiert. Zur praktischen Realisierung seiner Ziele erachtete K. die Schaffung einer Polizeitruppe zum Schutz vor Überfällen und zur Sicherung von Recht und Ordnung, vor allem aber die Gründung einer landwirtschaftlichen Schule für notwendig, um jüdische Jugendliche für den Ackerbau auszubilden. Dabei befürwortete K. durchaus auch die Integration anderer Wissenschaften und Künste in den Lehrbetrieb, sofern diese den Grundlagen der jüdischen Religion nicht entgegenstanden.

Nach der Veröffentlichung von Derishat Zijjon unternahm K. zahlreiche Reisen, um seine Ideen zu propagieren und Unterstützer zur Umsetzung seines Vorhabens zu gewinnen. Als es tatsächlich zur Gründung einer landwirtschaftlichen Schule in Miqweh Israel kam, wurde K. aufgefordert, die Aufsicht über die religiösen Angelegenheiten zu übernehmen. Es gelang ihm jedoch nicht mehr, sein Vorhaben einer Übersiedlung nach ereẓ jisra’el in die Tat umzusetzen.

Obwohl K. als Vorläufer des Zionismus in Israel große Anerkennung genießt – so wurde etwa der religiöse Kibbuz Tirat Zwi (»Burg Zewis«) in der Umgebung von Bet-Shean nach ihm benannt –, ist sein tatsächlicher Einfluß eher gering geblieben. Dies mag daran liegen, daß seine Schriften in erster Linie nur ein theoretisches Programm darstellen und nicht etwa theologische Deutungen historischer Ereignisse. Ein späterer Denker wie Rav Kook konnte nach der Rückkehr der Juden nach Zion daher überzeugendere und langlebigere Interpretationsmuster entwickeln.

Werke:

  • Derishat Ẓijjon (mit Einleitung und Anmerkungen von I. Klausner), Jerusalem 1964 [enthält auch weitere der »protozionistischen« Schriften K.s, so u.a. das Sendschreiben an Rothschild].
  • dt. Übers.: Drischath Zion oder Zions Herstellung, Thorn 1865 (Berlin 19052). –

Literatur:

  • M. Landmann, Z.K. – Protozionist und Geschichtsphilosoph, in: ders., Jüdische Miniaturen, Bd. 1, Bonn 1982, 117–129.
  • J. Katz, Demuto ha-Historit shel ha-Rab Z.K., in: ders., Le’umijjut Jehudit Mas’ot u-Mechqarim, Jerusalem 1983, 285–307.
  • E. Schweid, Toledot ha-Hagut ha-Jehudit be-‘Et ha-Chadashah, Jerusalem 1977, 379–385.
  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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