Lexikon der Kartographie und Geomatik: Entdeckungsgeschichte der Erde
Entdeckungsgeschichte der Erde, E History of discovery of the earth, die räumliche Erweiterung des Erdbildes vollzog sich von allen höher entwickelten Kulturzentren aus durch Handel über Land- und Seewege, über Nachbarschaftskontakte sowie durch Eroberungszüge. Erst in Hochkulturen wurden Erkenntnisse schriftlich festgehalten und überliefert. Das räumliche Wissen reichte auf früher Entwicklungsstufe nur über einen begrenzten Umkreis des eigenen Lebens-, Staats- und Einflussgebietes hinaus. Zeitgleich bildete sich ein Weltbild- und ein Erdbild heraus.
Relativ gut unterrichtet sind wir über das astronomische und geographische Raumverständnis der griechisch-römischen Antike, das sich über den langen Zeitraum von 8 bis 10 Jahrhunderten entwickelte. Das Erdbild der Antike umfasste (W. Behrmann) im 2. Jh. einen Gesichtskreis von etwa 20 Mio. km2 Festlandsfläche und 15 Mio. km2 Meeresfläche, zusammen etwa 7% der Erdoberfläche, das in Karten seine graphische Beschreibung erfuhr (Griechische Kartographie). Nach der Teilung des Römischen Reiches reduzierte sich mit dem Untergang des Weströmischen Reiches das antike Wissen im Rahmen des christlichen Erd- und Weltbildes ebenso wie das räumliche Gesichtsfeld in Westeuropa zunächst auf ein Minimum. Vom 8. Jh. an erweiterten die Völker des europäischen Nordens ihr Gesichtsfeld über Island 981/82 bis Grönland und 1001 Nordamerika sowie über Westeuropa bis ins Mittelmeer, im Osten durch Russland bis zum Schwarzen Meer aus. Der islamisch-arabisch geprägte Raum erweiterte das übernommene griechische Erdbild nach allen Richtungen. Die Raumkenntnis der Chinesen dehnte sich im Mittelalter aus und berührte sich mit dem islamisch-arabischen Kulturkreis; seit dem 13. Jh. lagen auch Kenntnisse über Westeuropa vor; Erdkarten blieben symbolische Erdbilder (Chinesische Kartographie).
Als Entdeckungsgeschichte der Erde wird eurozentrisch einengend die Entschleierung der Erde mittels See- und Landreisen mit dem Ziel der vollständigen Kenntnis der Verteilung von Land und Meer auf der Erdoberfläche, aber auch der Beschaffenheit und Ausstattung der Länder und Meere von Westeuropa ausgehend verstanden. Erst von einem gegen Ende des Spätmittelalters erreichten Entwicklungsstand an lieferte jede neue Entdeckung auf der Grundlage eines mehr oder weniger gesicherten Kenntnisstandes einen neuen Baustein zum angestrebten Gesamtbild, niedergelegt in Beschreibungen sowie Land- und Seekarten der lateinisch schreibenden Regionale Kartographie, Kartographiegeschichte). Eingeleitet durch das Entdeckungszeitalter, beginnend im 14. Jh., war durch Schiffsreisen die Verteilung von Land und Meer auf der Erde – abgesehen von den Polargebieten – um 1850 bekannt und die Kartierung der Küsten (Seekarte) vom Meer aus weit fortgeschritten. Die Erkundung des Innern der Kontinente wurde mittels Landexpeditionen weitmaschig bis zum Ersten Weltkrieg abgeschlossen. Die dreidimensionale Erforschung der Geosphäre terrestrisch und mittels Fernerkundung ist noch heute in vollem Gange. Der Einsatz von Forschungssatelliten seit den 70er Jahren des 20. Jhs. liefert erstmals flächendeckende Daten für breite Zonen der Erdoberfläche bzw. die gesamte Geosphäre.
Die mit nautischer Sachkenntnis ausgeführten Seereisen, auf denen die erreichten Positionen nach den jeweils gegebenen instrumentellmethodischen Möglichkeiten bestimmt und der gesichtete Küstenverlauf aufgezeichnet wurden, lieferten Material zur Ergänzung und Verbesserung vorhandener Karten. Lange Zeit wurde im nationalen Rahmen gewonnenes Wissen gegenüber konkurrierenden Staaten geheim gehalten. So ist der kontinuierliche Erkenntnisfortschritt, wie ihn moderne Darstellungen als Übersicht bieten, den jeweiligen Zeitgenossen nur bruchstückhaft bekannt gewesen. Hinzu kommt, dass aus den Unvollkommenheiten geographischer Ortsbestimmung resultierende Lagefehler zu groben Kartierungsfehlern führten, die sich teilweise bis zum Ende des 18. Jhs. in Karten hielten.
Die Ausweitung der räumlichen Kenntnisse lässt sich für Westeuropa seit dem Frühmittelalter vom Frankenreich her nachvollziehen. Zur Zeit Karls des Großen reichten sie nur bis in die unmittelbaren Nachbarstaaten, die arabischen Kalifate auf der Iberischen Halbinsel, Byzanz, die Kiewer Rus sowie zu den nordischen Völkern.
Der freie Zugang zum Atlantik regte die Portugiesen zu Seefahrten an, die 1341 zur Wiederentdeckung der Kanarischen Inseln führten. Mit Heinrich dem Seefahrer (Dom Enrique el Navegador, 1394-1460), der in Sagres eine Seefahrerschule einrichtete, begann das "Zeitalter der Entdeckungen". Fortschritte in der Nautik, die Verwendung des Kompass und die Verbesserung der Standortbestimmung zu Lande und auf See (Astrolabium, Jakobstab) ermöglichten mit hochseetüchtigen Kielschiffen auch längere Seereisen im freien Weltmeer. Von der Südspitze Portugals aus wurde ab 1416 die afrikanische Westküste systematisch erkundet und kartiert; 1488 wurde von Bartholomeo Dias (Diaz) die Südspitze Afrikas umfahren und ein Jahrzehnt später durch Vasco da Gama Indien erreicht. Die Mitte des 15. Jhs. nach dem Fall von Konstantinopel in Italien wieder bekannt gewordenen antiken Vorstellungen und Kenntnisse des Erdbildes (Ptolemäus) mit der bedeutenden Überschätzung der Ost-West Erstreckung des Mittelmeeres und des Südens von Asien bewogen Christoph Kolumbus (Cristoforo Colombo, *1451 in Genua, †1506 in Valladolid) den Weg nach Indien auf Westkurs über den Atlantischen Ozean zu erreichen. Etwa im erwarteten Entfernungsbereich von Westeuropa aus trafen seine Schiffe auch auf Land. Bald setzte sich die Erkenntnis durch, dass es sich nicht um Indien vorgelagerte Inseln handeln kann, sondern um einen neuen Kontinent. Bereits 1513 fand Vasco Núñez de Balboa nach Durchquerung der Landenge im heutigen Panama den von ihm Südsee genannten Stillen Ozean. Kunde von dessen Ausdehnung brachte die Vollendung der ersten Erdumseglung 1519 bis 1522. Fortan teilten sich Portugiesen und Spanier in Erkundung und Inbesitznahme der neu entdeckten Gebiete; die Spanier erweiterten das Wissen in Amerika, die Portugiesen die Kenntnisse der Inselwelt Ostasiens und des Ostens von Südamerika (Brasilien). Seit Mitte des 16. Jh. beteiligten sich zunehmend niederländische und britische Schiffe an Entdeckungsfahrten, und entwickelten, gestützt auf die Ostindischen Kompanien (britische "East India Company" 1600-1858, die "Nederlandsch Oost-Indië Kompagnie" 1602-1798 und "Dansk-Ostindiske Koloniers" 1612-173) den Überseehandel; französische Flotten folgten und erkundeten besonders in Nordamerika Ländereien. Diese Aktivitäten führten zur kolonialen Aufteilung der Erde; fortan übernahmen die "Mutterländer" die Vermessung und Kartierung ihrer Kolonien.
Der Kenntniszuwachs in der Verteilung von Land und Meer bis Mitte des 16. Jhs. war bedeutend. Der entschleierte Bereich stieg nach W. Behrmann von 1400 bis 1550 von reichlich einem Zehntel auf ein Drittel der Erdoberfläche, von 11% auf 33% (Abb. 1). Parallel dazu folgte die Darstellung im Kartenbild. Bekannt sind aus dem Zeitraum von 1472 bis 1569, dem Erscheinen der großen Erdkarte von G. Mercator, ca. 120 gedruckte Weltkarten sowie mehrere Serien von Erdteilkarten und zahlreiche Regionalkarten, zunehmend auch von außereuropäischen Gebieten.
In den nächsten eineinhalb Jahrhunderten erweiterten sich die Kenntnisse über das Innere der Kontinente nur langsam, von knapp einem Drittel auf etwa die Hälfte der Landflächen, darunter weiten Strecken Nordasiens, während in der gleichen Zeit Seefahrten die noch lückenhaften Kenntnisse der Ozeane von einem Drittel auf knapp zwei Drittel (von 120 Mio. km2 auf 234 Mio. km2) ausweiteten.
Auch in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten bis Mitte des 19. Jhs. schritt die Entschleierung der Landflächen deutlich langsamer voran als die Durchforschung der Weiten des Ozeans mit Auffinden und Kartieren fast aller hochozeanischen Inseln. So wuchs nach Behrmann die Kenntnis der Landflächen von 75 Mio. km2 1700 auf 104 Mio. km2 1850, so dass nur 30% (ca. 44 Mio. km2) Landflächen unbekannt waren, darunter der gesamte Erdteil Antarktika. Vom Weltmeer waren 1850 hingegen nur noch 2,7% (ca. 10 Mio. km2), das waren im wesentlichen die Polargebiete, noch nicht aufgesucht. Der Charakter der Entdeckungsfahrten und -reisen wandelte sich hinfort zu wissenschaftlichen Forschungsunternehmen. Um 1950 kann die Entschleierung der Erdoberfläche als abgeschlossen gelten (Abb. 2).
Über den gesamten Zeitraum der Neuzeit, von der Entdeckung Amerikas bis in die Gegenwart, haben handgezeichnete Karten und im Druck verbreitete Land- und Seekarten mit dem Aufzeigen von Bekanntem stets auch Erkenntnislücken und unbekannte Regionen sichtbar gemacht, damit die Forschung stimuliert und Anlass zu neuen Land- und Seereisen gegeben.
Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jhs. begann mit der Erkundung der Hochgebirge die Erschließung der dritten Dimension. Die Erforschung der Meerestiefen setzte erst Mitte des 19. Jhs. ein, als die Verlegung transkontinentaler Telegraphenkabel Kenntnis über die Beschaffenheit des Meeresbodens der Tiefsee verlangte (General Bathymetric Chart of the Oceans). Dominant war im 19. Jh. die Erkundung der Polargebiete und die Entschleierung des Inneren der Kontinente, insbesondere Afrikas, zunehmend mir Erfassung des Reliefs und der Land- und Gipfelhöhen. Zwischen erster Kunde einer neu ins Blickfeld getretenen Region bis zu ihrer flächendeckenden Erforschung und Kartierung liegen damit oft Jahrhunderte. Dabei werden i.d.R. folgende Erkenntnisstufen durchlaufen: 1. Kunde über fremde Länder durch Dritte; Kenntnis durch Hörensagen; 2. Auffinden und in Augenschein nehmen durch Reisen zu Land bzw. durch Seefahrten mit darüber angefertigten, lange Zeit handschriftlichen Berichten; 3. Anfertigung meist einfacher grober Skizzen von Küsten, Inseln, Routen und Ländern mit oft mehr oder weniger unsicheren geographischen Ortsbestimmungen; 4. seit dem 18. Jh. genauere Ortsbestimmungen und Festhalten von Richtung und Entfernung bei Routenaufnahmen mit begleitenden wissenschaftlichen Reisebeschreibungen; 5. flächenhafte topographische Aufnahme kleiner und größerer Gebiete in mittleren Maßstäben, ausreichend zur Darstellung in Länder- und Atlaskarten; 6. geographische, geologische Erkundung mit länderkundlicher Beschreibung und Darstellung in thematischen Übersichtskarten; 7. flächenhafte topographische Landesaufnahme der Staaten und ihrer überseeischen Besitzungen; seit etwa 1920 zunehmend mittels photogrammetrischer Befliegung; 8. Bearbeitung thematischer Regionalatlanten und eines Nationalatlas; 9. terrestrische thematische Landesaufnahmen (Geologie, Böden, Vegetation u. a.); 10. geowissenschaftliche Auswertung flächendeckender Satellitenaufnahmen einschließlich Kartenherstellung mit Methoden der Fernerkundung seit etwa 1975.
WSS
Literatur: [1] BEAGLEHOLE, J.C. (1966): The Exploration of the Pacific. 3. Aufl. London. [2] BEHRMANN, W. (1948): Die Entschleierung der Erde, Frankfurter Geograph. Hefte, 6. Jg., Frankfurt a.M., mit 12 Karten. [3] CUMMING, W.P. (1972): The Discovery of North America. New York. [4] DREYER-EIMBCKE, O.: Die Bedeutung der Kartographie für die Entschleierung unserer Erde vom Beginn des Entdeckungszeitalters bis zur Mitte des 16. Jh. [5] EMBACHER, F. (1882): Lexikon der Reisen und Entdeckungen. [6] KRÄMER, W. (1976): Die Entdeckung und Erforschung der Erde. Leipzig. [7] RUGE, S. (1881): Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen. [8] SAMMET, G. (1990): Der vermessene Planet. Hamburg. SKELTON, R.A. (1970): Explorers' Maps, Chapters in the Cartographic Record of Geographical Discovery. London, 1. Ausg. 1958.
Entdeckungsgeschichte der Erde 1:Entdeckungsgeschichte der Erde 1: Entschleierung der Erde von Europa aus – Ausweitung der räumlichen Kenntnis der Geosphäre.
Entdeckungsgeschichte der Erde 2:Entdeckungsgeschichte der Erde 2: Entschleierungskurve für Weltmeer (W), Landflächen (L) und gesamte Erdoberfläche (E) (ergänzt nach W. Behrmann).
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