Lexikon der Kartographie und Geomatik: Geodäsie
Geodäsie
Ernst Buschmann, Potsdam
Die Geodäsie, E Geodesy, (griech.: Erdteilung) ist eine Disziplin der Naturwissenschaften von der Erde (Geowissenschaften) mit besonders umfangreichen Anwendungen (Angewandte Geodäsie) in der Praxis von Wirtschaft (Ingenieurgeodäsie), Verwaltung und Gesellschaft (Vermessungs-, Karten-, Liegenschaftswesen, Geoinformationssysteme), das bergmännische Vermessungswesen (Markscheidewesen) und das Seevermessungswesen.
1. Definition
Ein großer Teil der praktischen Belange wird am besten wiedergegeben durch die Definition von F.R. Helmert (1880): "Die Geodäsie ist die Wissenschaft von der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche", worin auch die kartographische Darstellung und Geoinformationssyteme eingeschlossen sind. Die physikalischen Aspekte kommen besonders in der Aussage von E.H. Bruns (1878) zum Ausdruck: "Das Problem der wissenschaftlichen Geodäsie ist die Ermittlung der Kräftefunktion der Erde", womit das Vektorfeld der Erdschwerkraft, der Resultierenden aus Anziehungs- und Fliehkraft, gemeint ist. Eine stark verallgemeinernde und zugleich wissenschaftstheoretisch vertiefte Definition gibt E. Buschmann (1992): "Geodäsie ist die Wissenschaftsdisziplin vom Erkennen von Raum und Zeit im Bereich des Planeten Erde an den Strukturen geeigneter Materieverteilungen und deren zeitlichen Änderungen"; solche Strukturen sind insbesondere Erdoberfläche und Erdschwerefeld.
Die Behauptung, dass das Hauptziel der Geodäsie die "Bestimmung der Erdfigur" sei, ist vieldeutig. Es muss erklärt werden, was unter Erdfigur zu verstehen ist.
So können gemeint sein: die topographische Oberfläche in ihrer Gesamtheit und Detailliertheit des Reliefs, das Geoid als eine ausgewählte Äquipotentialfläche (Niveaufläche) des Erdschwerefeldes, Ellipsoide unterschiedlicher Eigenschaften als vorwiegend geometrische Modelle, Sphäroide als vorwiegend physikalische Modelle oder auch Mischformen, die weder mathematisch noch physikalisch, sondern nur punktweise als Körper darstellbar sind, wie z. B. Quasigeoid oder Telluroid.
Wie in jeder Wissenschaftsdisziplin, so gründet sich auch in der Geodäsie die Erkenntnistätigkeit sowohl auf ihre bisherigen eigenen Aussagen, als auch auf die Theorien einer Reihe anderer Disziplinen. Für die Geodäsie sind das vor allem: Mathematik (besonders Geometrie, Differentialgeometrie, mathematische Statistik), Physik (besonders Newton'sche Mechanik, Gravitation, Optik), Relativitätstheorie (besonders Einheit von Geometrie und Physik, Konstanz der Lichtgeschwindigkeit auch bei Bewegung der Strahlungsquelle, relativistische Mechanik bei bewegten Messpunkten), Metrologie (Messkunde, Messtechnik) und Astronomie (Astrometrie, Bezugssystem für Raum und Zeit, repräsentiert durch außerirdische Objekte, insbesondere Fixsterne).
2. Teilgebiete
Einige dieser für die geodätische Erkenntnistätigkeit grundlegenden Wissenschaftsdisziplinen spiegeln sich in den Namen von größeren und bedeutenden Teilgebieten wider: mathematische Geodäsie, physikalische Geodäsie, geodätische Astronomie und ganz allgemein grundlegend theoretische Geodäsie; andere Bezeichnungen betonen die eingesetzten Erkenntnismittel (Satellitengeodäsie, kosmische Geodäsie, geodätische Raumverfahren). Auch bestimmte Auffassungen, methodische Richtungen bzw. Entwicklungsetappen haben sich in Termini niedergeschlagen, doch sind Zweifel erlaubt, ob sie auf Dauer sinnvoll und förderlich sind: mehrdimensionale Geodäsie, integrierte Geodäsie, dynamische Geodäsie und ellipsoidische Geodäsie sowie geodesia intrinseca. Objektbezogene Bezeichnungen sind: Meeresgeodäsie, Selenodäsie und Glazialgeodäsie; in diesen Aufgabenfeldern gibt es signifikante methodische und messtechnische Besonderheiten. Die früher üblichen Bezeichnungen höhere Geodäsie und niedere Geodäsie nach F.R. Helmert waren der Geometrie entlehnt und durchaus sinnvoll, haben durch Bedeutungswandel aber ihre Berechtigung verloren.
Die Existenzform aller Materie sind Raum und Zeit in ihrer Einheit. Im Bereich des Planeten Erde sind Erdoberfläche und Erdschwerefeld geeignete Materiestrukturen, die messtechnisch erfasst und wiedererkennbar abgebildet werden können, so dass ihre Strukturen jeweils die räumliche Komponente und deren Änderungen die zeitliche Komponente widerspiegeln. Wiedererkennbare Zeichen der Erdoberfläche sind die sog. topographischen (d. h. ortsbeschreibenden) Objekte, wie z. B. Berge, Flüsse, Verkehrswege, Bauwerke. Ihrer gemessenen und in Koordinatensystemen beschriebenen Lage können Höhen als Merkmal des Reliefs und gemessene Werte der Schwerkraft als Merkmal des Erdschwerefeldes zugeordnet werden. Die Abbildungen können je nach Problem und Bedarf analog oder digital auf verschiedene Weise erfolgen, z. B. mit Ausdrucksmitteln der Kartographie, in Dateien oder speziell in Geoinformationssystemen.
An Änderungen der genannten Materiestrukturen wird die zeitliche Komponente von Raum und Zeit zwar erkennbar, zur Ableitung eines Zeitmaßes sind sie aber ungeeignet. Das ist z. B. beim Phänomen der Erdrotation anders. Sie lässt sich hochauflösend aus der Relativbewegung zweier Bezugssysteme erkennen, eines mit dem Erdkörper gekoppelten und eines außerhalb von ihm existierenden. Das können z. B. die Fixsterne sein (geodätische Astronomie), das können auch andere außerirdische Objekte sein (geodätische Raumverfahren, Satellitengeodäsie). Lange bestimmte die Geodäsie so auch die gesetzliche Zeit (Zeitskala), heute braucht sie diese Erkenntnisse zur Realisierung der Raumverfahren. – Die Strukturparameter des Erdschwerefeldes sind die Flächen konstanten Schwerepotentials (Äquipotentialfläche, Niveaufläche) und deren Orthogonalen, die Lotlinien mit ihren lokalen Tangenten, den Lotrichtungen (geodätisch für: Richtung des Schwerevektors).
3. Metrologische Aspekte
Das geodätische Messwesen ist Jahrtausende alt. Es entwickelte sich hauptsächlich aus der Geometrie und schuf selbst viele ihrer Grundlagen; eine andere Wurzel liegt in der mathematischen Geographie. Frühere Definitionen und Realisierungen von Maßeinheiten für die Länge (Meter m) und die Zeit (Tag d, Sekunde s) wurden durch geodätische Messungen aus Größen des Erdkörpers und seiner Rotation abgeleitet. Die Einheit der Beschleunigung Gal (nach Galilei, italienischer Naturforscher, 1564 - 1642) bezog sich auf die Fallbeschleunigung der Erde.
Zu unterscheiden sind bei den metrologischen Aspekten der Geodäsie zwei Grundrichtungen: 1. die mehr physikalische bei der Bestimmung der Parameter des Erdschwerefeldes und 2. die mehr geometrische bei der Ausmessung der Erdoberfläche. Die Methoden zur Bestimmung von Schwerefeldparametern sind Methoden der Gravimetrie, die in ihrer Genauigkeit gesteigert und für globale Anwendung weiterentwickelt wurden. Neue Möglichkeiten erschlossen sich mit der Entwicklung von Absolutgravimetern und Gradiometern sowie von Geräten zum Einsatz in Flugzeugen und auf Schiffen. Äquipotentialflächen der Schwerkraft lassen sich als inverses Problem durch die Lösung von Randwertaufgaben aus geeignet reduzierten gemessenen Schwerewerten ableiten, neuerdings auch nach Methoden der Satellitengeodäsie, da die Bahnen der künstlichen Erdsatelliten sowohl Anomalien des Erdschwerefeldes als auch die Lage des Massenmittelpunktes der Erde widerspiegeln und damit dessen Nutzung als Ursprung des globalen geozentrischen Koordinatensystems möglich machen. Die Lotrichtungen (natürliche Koordinaten) lassen sich direkt nach Methoden der geodätischen Astronomie messen. Differenzen des Schwerepotentials sind als physikalische Größe an der Erdoberfläche messbar als Produkt aus vertikaler Strecke (Nivellement) und Schwerewert (Fallbeschleunigung). Diese als geopotentielle Kote bezeichneten Werte sind die Ausgangsgrößen für die Bildung von Höhensystemen.
Die Differenzen zwischen den Parametern des realen Schwerefeldes (Äquipotentialflächen und Lotlinien) und den Parametern eines Modells (Ellipsoid, Sphäroid) werden mittels der Höhenunterschiede vergleichbarer Flächen (Geoidundulationen) bzw. der Winkel zwischen den Flächennormalen (Lotabweichungen) abgebildet.
4. Geodätisches Messwesen
Es ist kennzeichnend für die klassische Methodik der Geodäsie, dass die dreidimensionalen Strukturen der Erdoberfläche mittels zweier grundverschiedener Messanordnungen ermittelt werden: es werden zwei geometrische Lagekoordinaten auf einer Bezugsfläche bestimmt, denen eine physikalisch begründete Koordinate der Höhe zugeordnet wird (physikalische Höhe); dafür wird gelegentlich die Bezeichnung "zwei- + eindimensionale Geodäsie" (mehrdimensionale Geodäsie) gebraucht.
Die schnelle Entwicklung zweier neuer technischer Mittel in der Mitte der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts brachte auch für das geodätische Messwesen eine Revolution. Künstliche Erdsatelliten umkreisten die Erde und konnten mit der Raum-Zeit-Funktion ihrer Bahnparameter (Bahnelemente, Keplerelemente) als erdoberflächenfernes räumliches Bezugssystem dienen; elektromagnetische Wellen außerhalb des sichtbaren Teils des Spektrums und Impulse mit großer Reichweite wurden durch neue Sensoren und hochauflösende Zeitmesseinrichtungen nutzbar für die Messung von großen Längen und Längenunterschieden (Laserentfernungsmessung, Radiointerferometrie). Es entstanden die Methoden der Satellitengeodäsie und der geodätischen Raumverfahren, die heute bestimmend sind für das geodätische Messwesen. An die Stelle der indirekten Längenmessung mittels Winkelmessung (Triangulation) und der Bezugspunkte in netzartiger Anordnung traten freie Gruppierungen von Bezugspunkten in problemabhängiger Dichte. Die Länge einer Strecke als raumaufspannendes Element in der Dreiecksungleichung der Metrik war direkt messbar geworden, selbst in früher geodätisch unvorstellbaren Dimensionen, z. B. Erde-Satellit und Erde-Mond, und mit früher unvorstellbar hoher Genauigkeit. Nur bei der örtlichen Detailaufnahme dominiert noch das lotrichtungsorientierte Messinstrument, wobei auch dabei die frühere Messung von Horizontalwinkeln durch die Messung horizontaler Streckenkomponenten weitgehend ersetzt ist.
Eine sehr wesentliche Rolle im geodätischen Messwesen spielen Modelle unterschiedlicher Art und Zielstellung. Die Modellierung kann der messtechnischen Erfassung der strukturellen bzw. physikalischen Realität dienen, sie kann auch angebracht sein zur Ableitung der gesuchten Informationen aus den Messdaten und auch bei der Interpretation der Informationen; der Begriff "Modell" wird heute auch in der Geodäsie sehr viel weiter gefasst als früher. Geodätische Informationen sind metrische Informationen mit drei räumlichen Dimensionen (Koordinaten), einer Zeitangabe (Epoche, Datum, Zeitpunkt) und einer die Art der erfassten Materie charakterisierenden Angabe (z. B. topographisches Objekt). Dieser Raum und Zeit beschreibenden geodätischen Information können andere Informationen zugeordnet werden, z. B. geologische, geophysikalische, und es entstehen fachspezifische Karten oder neuerdings Geoinformationssysteme.
5. Metrologisches Prinzip
Das allgemeine metrologische Prinzip für die Ausmessung und Abbildung unregelmäßig geformter Körper ist folgendes (Abb.). Das Messobjekt M wird in starre Verbindung mit einem Koordinatensystem K gebracht, dessen Metrik bekannt ist. Dann wird die Oberfläche von M in ihren typischen geometrischen Formen durch Messpunkte PM modelliert, und schließlich werden diese von Punkten PM des Koordinatensystems aus mittels Zeigern Z, d. h. mittels Messfühlern in Richtung oder Strecke oder einer Kombination davon abgetastet.
Prinzipiell nicht anders verfährt die Geodäsie bei der Vermessung der Figur der Erde, ihrer Oberfläche oder Teilen davon. Nur hat sie dabei, trotz der anscheinenden Einfachheit der Aufgabe, ganz beträchtliche Schwierigkeiten zu überwinden: a) Ein Koordinatensystem K existiert nicht. Es muss als Bezugssystem erst geschaffen, d. h. durch geeignete Erscheinungen (z. B. Quasare, Fixsterne, Erdsatelliten, Äquipotentialflächen der Erdschwerkraft, mit der Erdoberfläche verbundene Markierungen) realisiert und hinsichtlich zeitlicher Veränderungen überwacht werden. Dabei sollte stets bewusst sein, dass Begriffe wie "Festpunkt" oder "Fixstern" frühere Auffassungen widerspiegeln und nicht mit unseren heutigen Erkenntnissen vereinbar sind. b) Das Messobjekt ist nicht handhabbar und nicht überschaubar. Es hat unvergleichlich große Dimensionen und Detailliertheit, sodass eine außerordentlich große Anzahl von Messungen nötig ist, die auf einheitlichen Maßeinheiten und Messregeln beruhen müssen. Deshalb hat die Geodäsie seit jeher die Vereinheitlichung von Maßsystemen über Ländergrenzen hinweg aktiv gefordert und gefördert. c) Das Messobjekt ruht nicht. Es rotiert nach den Kreiselgesetzen im Kosmos und unterliegt außerdem wechselnden Krafteinwirkungen, z. B. von Himmelskörpern des Sonnensystems (Gezeiten) oder von erdkörpereigenen Reibungen (Gezeitenreibung, Kern-Mantel-Koppelung). d) Das Messobjekt ist auch nicht starr, sondern deformabel, sodass die Punkte PM infolge der Festerdegezeiten und erdinnerer Einflüsse (Plattentektonik, Erdbeben) ständig bewegt sind. e) Die Messfühler Z sind wegen physikalischer Einflüsse (z. B. atmosphärische Refraktion, relativistische Effekte) meist nicht als einfache geometrische Elemente, z. B. als Geraden, realisierbar bzw. modellierbar.
Die Wahl eines geeigneten Bezugssystems und seine Realisierung durch die Bezugsdaten der Bezugsobjekte (z. B. Örter von Quasaren oder Fixsternen, Bahndaten von Erdsatelliten, Koordinaten terrestrischer Bezugspunkte) ist eine grundlegend wichtige Frage der Geodäsie, weil davon zugleich die Qualität der naturwissen schaftlichen Aussage abhängt, die aus den Messungen abgeleitet wird. Anzustreben sind Inertialsysteme, weil sie höchstens noch eine – prinzipiell nicht erkennbare – lineare Eigenbewegung ausführen. Die auf Eigenschaften des Erdkörpers gegründeten Bezugssysteme beruhen auf der Geometrisierung physikalischer Erscheinungen. So wird z. B. der Massenschwerpunkt der Erde (das Geozentrum) von Erdsatelliten als Brennpunkt ihrer Bahn erfasst und zum Ursprung des geozentrischen Koordinatensystems geometrisiert. Die lokale Lotrichtung (Schwerevektor) kann durch ein Fadenlot zur vertikalen Geraden und durch Libellen (Wasserwaagen) zu einer horizontalen Ebene geometrisiert werden; die Himmelspole als Punkte der verlängert gedachten Rotationsachse der Erde spiegeln sich in den scheinbaren Bahnen der Fixsterne und anderer Himmelkörper wider.
Die Erkenntnisse der Geodäsie werden in verschiedener Form abgebildet: als mathematisch-physikalische Modelle, mit Ausdrucksmitteln der Kartographie, zunehmend auch in Dateien und Geoinformationssystemen, für die sie zugleich die Raumordnung bereitstellen. Damit bieten sie die Grundlage für räumliche Zuordnungen von Erkenntnissen und Daten zahlreicher Zweige von Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung. Geodätische Erkenntnisse sind Eingangsgrößen in weitere Erkenntnisprozesse einerseits der Geodäsie selbst und andererseits der benachbarten Geowissenschaften, z. B. Geologie: globale Plattentektonik, Intraplattentektonik, lokale Erdkrustenbewegungen, Geophysik: Massen- und Dichteverteilungen in Erdmodellen, Festerdegezeiten und deren räumliche Anomalien (Viskosität), Erdkrustenbewegungen, Erdrotationsschwankungen und Schwereänderungen als Vorboten von Erdbeben, Koppelung zwischen Erdkern- und -mantelrotation, Ozeanographie: Struktur von Äquipotentialflächen der Schwerkraft und Relief in Meeresgebieten.
Literatur: [1] BIALAS, V. (1982): Erdgestalt, Kosmologie und Weltanschauung. Konrad Wittwer, Stuttgart. [2] BUSCHMANN, E. (1992): Gedanken über die Geodäsie. Konrad Wittwer, Stuttgart. [3] PERRIER, G. (1960): Wie der Mensch die Erde gemessen und gewogen hat – Kurze Geschichte der Geodäsie. Bamberger Verlagshaus Meisenbach & Co.
Geodäsie:Geodäsie: Metrologisches Prinzip für die Ausmessung unregelmäßig geformter Körper.
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