Lexikon der Kartographie und Geomatik: Geowissenschaften
Geowissenschaften
Werner Stams, Radebeul
1. Struktur und Inhalt der Geowissenschaften
Die Gesamtheit des Wissenschaftsfeldes der Erdwissenschaften, bestehend aus Wissenschaftsdisziplinen, Teildisziplinen und Forschungszweigen, die die Erde als Ganzes, ihre Oberfläche und ihre einzelnen Sphären sowie die terrestrischen Planeten aus naturwissenschaftlicher Sicht zum Forschungsgegenstand haben. Es schließt die graphisch-visuelle sowie digitale Verarbeitung und Darstellung diesbezüglicher Informationen und Forschungsergebnisse (Geodaten) im Rahmen der Kartographie, Fernerkundung und Geoinformatik mit ein. Grundlagenwissenschaften für dieses integrierende und problemorientierte System der Geowissenschaften sind insbesondere Physik, Biologie, Chemie und Mathematik. Stellung, Strukturierung und Gliederung der Geowissenschaften im Wissenschaftssystem werden aus der Sicht der Wissenschaftstheorie und der Einzelwissenschaften sowie national teilweise unterschiedlich gesehen (Übersicht Tab.).
Als klassische geowissenschaftliche Disziplinen gelten insbesondere Geologie, Paläontologie, Mineralogie, Kristallographie, Geochemie, Petrologie, Lagerstättenkunde, Geophysik, Bodenkunde oder Pedologie, Geomorphologie, Glaziologie und Meteorologie in immer engerer Verknüpfung mit Geodäsie, Fernerkundung, Kartographie und Geographie, aber auch mit Klimatologie, Hydrologie, Hydrogeologie, Ozeanographie, Landschaftskunde bzw. Geoökologie, Bergbau sowie Ingenieurgeologie.
Im deutschen Sprachbereich hat der Begriff "Geowissenschaften" erst nach 1950 Eingang gefunden, wobei auch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. an Universitäten geowissenschaftliche Abteilungen und Fakultäten mit unterschiedlichem Profil gegründet wurden. Im anglo-amerikanischen Sprachbereich sind die Earth Sciences schon länger fest eingeführt, wobei verschiedentlich auch "Geologie" als synonymer Begriff verwendet wird. Ausgehend von der wissenschaftlichen Erforschung der drei grundlegenden Komponenten Gestein, Gewässer und Atmosphäre entstand ein breites Wissenschaftsspektrum.
Der französische Sprachbereich benutzt umschreibend sciences de la terre. Im Russischen werden die Geowissenschaften ohne eigenen Oberbegriff den Natur- und Technikwissenschaften zugeordnet; teilweise, so an Universitäten, gilt "Geographische Wissenschaften" als Oberbegriff.
Aus dem Forschungsgegenstand Erde und unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen Dimension seit Entstehung der Erde sowie der aktuellen aktiven Prozesse ergeben sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten aller Geowissenschaften: 1. Eine zeitliche Dynamik, die sich als Entwicklung, als Prozess, als zyklischer Vorgang, als rhythmisches Phänomen oder einfach als Bewegung und Veränderung vollzieht, verleiht den Geowissenschaften eine historische Komponente, 2. Die regionale und zeitliche Differenzierung des Erkenntnisfeldes führt in der Detailforschung zu einem gewaltigen Datenumfang, der spezifische Verarbeitungs-, Dokumentations- und Präsentationsformen erfordert (Geostatistik). Thematische Karten und geowissenschaftlichen Karten werden heute mehr und mehr durch Geoinformationssysteme abgelöst. Diese ermöglichen umfassende Datenanalysen, gleichzeitig aber auch die Herstellung einer Vielzahl von Karten/kartographischen Darstellungen, wobei Bildschirmkarten erheblich an Bedeutung gewinnen. 3. Fachspezifisch ist die enge netzwerkartige Verflechtung aller Bereiche, Zweige (Subdisziplinen) und Teile aufgrund der Ganzheitlichkeit des Forschungsgegenstandes Erde und ihrer stofflichen Hüllen, die zusammen die Geosphäre bilden. Multi- und interdisziplinäre Studien treiben in jüngerer Zeit die Bildung sog. Erdsystemwissenschaften voran. 4. die angestrebte flächendeckende Erfassung geowissenschaftlicher Phänomene über die gesamte Erde und die Einbeziehung planetarer Objekte führt zwangsläufig zur internationalen Zusammenarbeit und zur Durchführung abgestimmter großräumiger bis globaler, teilweise auch extraterrestrischer Programme. 5. Die fortschreitende Verwendung von bodenunabhängigen Beobachtungsplattformen, insbesondere von Flugzeugen und Satelliten, hat zur Ausbildung entsprechender Forschungszweige in vielen Geowissenschaften und zu einem permanenten Geomontoring geführt. Ergänzend hierzu werden die tieferen Strukturen der Erde mit hocheffizienten geophysikalischen Verfahren bzw. Bohrungen erkundet.
2. Geschichtliche Entwicklung
In der Antike befassten sich griechische Mathematiker und Philosophen mit der Gestalt der Erde (griechische Kartographie); Aristoteles führte für die Kugelgestalt Beweise an. Von den naturwissenschaftlichen Studien des Aristotelesschülers Theophrastes (372-287 v. Chr.) ist neben einer Pflanzenkunde die Schrift "De lapidus" (Von den Steinen) überliefert, in der 70 Minerale und Gesteine beschrieben werden. Das damals bereits geläufige Wort "Geographie" bezeichnet ursprünglich die kartographische Erd- und Länderdarstellung, die lange Hauptziel blieb.
Durch die portugiesischen und spanischen Entdeckungen erfährt das Erdbild in kurzer Zeit eine in ihrer Art einmalige Ausweitung der georäumlichen Kenntnisse (Entschleierung der Erde). Alle Bereiche der Natur rücken ins Blickfeld wissenschaftlichen Interesses. Floren und Faunen werden erfasst, Veränderungen der Küsten erkannt, das Entstehen von Versteinerungen (Fossilien) geklärt.
Der bergmännische Produktionsprozess liefert geologisches Wissen. Die Schriften von G. Agricola (1495-1555) überführen bergmännisches Wissen in eine ausbaufähige Grundlage einer allgemeinen Erdwissenschaft. Im Verlauf weniger Generationen entstehen mit den exakten Naturwissenschaften seit der Mitte des 17. Jhs. die auf ihnen und der Mathematik fußenden ersten Geowissenschaften.
Mit Beginn der Frühaufklärung Anfang des 18. Jhs. nimmt das auf breiter Basis gesammelte Faktenmaterial rasch zu. 1778 führte de Luc die Bezeichnung "Geologie" ein, ohne damit das eingeführte Wort "Geognosie" sofort zu verdrängen. Bestimmendes Zentrum geologischer Forschung und Lehre wird die 1765 gegründete Bergakademie Freiberg (Sachsen). Unter A. Werner (1749-1817) nimmt hier ein disziplinär geordnetes Lehrgebäude der geologischen Wissenschaften Gestalt an. Starke Anregungen für die Herausbildung neuer Forschungsrichtungen, aus denen eigene geowissenschaftliche Disziplinen hervorgehen, lieferte A. v. Humboldt (1769-1859). Die reichhaltigen regionalen geowissenschaftlichen Fakten fanden eine erste Synthese durch H. Berghaus in 90 thematischen Karten des "Physikalischen Atlas" (Erstausgabe 1838-1848). Bereits in der Herausbildungsphase der drei sich relativ unabhängig entwickelnden Hauptteile Meteorologie, Hydrologie und Physik des Erdkörpers wird im Deutschen neben "Physik der Erde" im Laufe des 19. Jhs. auch Geophysik ein gebrauchter Oberbegriff.
Von Beginn des 20. Jhs. an entwickelten sich in den folgenden 50 Jahren Geomorphologie, Bodenkunde (Pedologie), Geochemie und andere Geowissenschaften, so auch verschiedene Subdisziplinen klassischer erdwissenschaftlicher Fächer. Die physikalischen Vorgänge im Meer werden etwa seit Mitte des 19. Jhs. systematisch erfasst und erforscht. Damit befasst sich die Ozeanographie, die sich in Deutschland historisch aus der physischen Geographie heraus entwickelt hat und heute ein Teil der Meereskunde ist. Erst in jüngster Vergangenheit ist die gesamte Geosphäre vom Weltraum über die Erdoberfläche bis zur Erdkruste und dem Erdinneren zum Forschungsfeld der modernen Geowissenschaften geworden.
3. Heutiger Charakter und zukünftige Aufgaben der Geowissenschaften
Es wird deutlich, dass sich die Geowissenschaften bei zunehmender Spezialisierung von beschreibenden zu erklärenden und quantifizierenden Disziplinen fortentwickelt haben. Künftig steht im Mittelpunkt die Erforschung von Prozessen und Zusammenhängen. Da die zu untersuchenden langen Zeiträume experimentell nicht nachzuvollziehen sind, spielen mehr und mehr im Forschungsprozess Computermodelle eine zentrale Rolle, in der Geologie beispielsweise bezüglich der Plattentektonik. In der Ozeanographie bzw. Klimatologie kann die Rolle der Weltmeere im Klimasystem der Erde nur durch umfassende numerische Rechnungen, mit denen das gekoppelte Verhalten von Ozean, Atmosphäre und Kryosphäre simuliert wird, erfolgversprechend untersucht werden. Nach F.W. Negendank (2000) können als gegenwärtige und zukünftige Hauptaufgaben der Geowissenschaften formuliert werden: a) die Auffindung natürlicher Ressourcen und die Einschätzung ihres Verbrauchs, b) die Steuerung von umweltverträglichen Prozessen zur Garantie nachhaltiger Entwicklungen, c) die Früherkennung von Naturgefahren und ihres Managements (Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Massenbewegungen, Tsunamis usw.), d) das Studium des globalen Wandels in der Geosphäre und daraus resultierender Maßnahmen, e) der Klimawandel und Klimaschutz, f) das Studium der Biodiversität und des damit verbundenen Faunen- und Florensterbens. Daraus ergibt sich deutlich die enge Verzahnung zwischen den Geowissenschaften und den Bezugs- bzw. angewandten Wissenschaften. Institutionell sind die Geowissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland durch das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, GEOMAR (Forschungszentrum für marine Geowissenschaften, Kiel) und das Geo-Forschungszentrum Potsdam vertreten. Hinzu kommen entsprechende Fachbereiche und Fakultäten der Universitäten, beispielsweise in Dresden, Freiberg (Sachsen) und Trier.
Literatur: [1] LAUTERBACH, R. (Hrsg., 1985): Physik des Planeten Erde, Berlin. [2] SAMMET, G. (1990): Der vermessene Planet, Hamburg. [3] WUSSING, H. (Hrsg.) (1983): Geschichte der Naturwissenschaften, Leipzig. [4] STROHBACH, K. (1991): Unser Planet Erde, Stuttgart. [5] BERCKHEMER, H. (1990): Grundlagen der Geophysik, Darmstadt.
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