Lexikon der Kartographie und Geomatik: Geschichtskartographie
Geschichtskartographie, E historical cartography, 1. Wesen und Anliegen: Dem aktuellen Arbeitsfeld der Angewandten Kartographie steht der in sich heterogene, historisch weit zurückreichende Bereich der Herstellung von Geschichtskarten gegenüber. Er umfasst Entwurf und Bearbeitung von kartographischen Darstellungen für zeitlich zurückliegende Epochen der gesamten Menschheitsgeschichte, für den die Historiker den Begriff "historische Karte" und für das Arbeitsfeld dementsprechend dann auch "historische Kartographie" verwenden. Geschichtskarten dienen primär der Rekonstruktion von historischen Zuständen der Kulturlandschaft in ihrer Gesamtheit und in ihren wesentlichen Komponenten, wie politische Verhältnisse, Bevölkerung, Wirtschaft, Verkehr und Kultur sowie militärisches Sujet. Für die frühen Phasen steht die Dokumentation der prähistorischen Funde als zentrale Aufgabe im Vordergrund.
Geschichte auf allen Ebenen, von der Lokal- über die Regional-, Landes- und Reichsgeschichte bis hin zur Weltgeschichte vollzieht sich räumlich differenziert auf der Erdoberfläche in konkreten Landschaftsräumen. Zur verbalen, die Zeitereignisse linear sachdifferenziert wiedergebenden Geschichtsschreibung muss die flächendeckende Erfassung des Ereignisraums in maßgebundener graphischer Form, insbesondere in kartographischer Form treten. Geschichtskarten sind für die Geschichtswissenschaft nicht nur Veranschaulichungsmittel, sondern liefern mit ihrer in bestimmter Weise Vollständigkeit anstrebenden regionalen Erfassung von historischen Objekten und Ereignissen Grundlagen für flächenbezogene quantitative Aussagen. Die Nutzung und Auswertung von Geschichtskarten erweitert und konkretisiert die historische Erkenntnis. Geschichtskarten bilden wie die überlieferten, in vergangener Zeit geschaffenen historischen Karten eine spezifische Kategorie der Geschichtsquellen, deren Nutzung und Ausschöpfung spezielle Kenntnisse vom Wesen und den Eigenschaften kartographischer Darstellungen im Allgemeinen und der historischen Kartographie im Besonderen erfordern. Ebenso verlangt ihre Bearbeitung vom Kartenautor die Beherrschung von Stoff (historisches Wissen) und Form (Kartengestaltung, Objekt-Zeichen-Referenzierung).
2. Entwicklung: Geschichtskarten entstanden parallel zur Herausbildung der modernen Kartographie in der Renaissance.
Einen ersten Atlas der Alten Geschichte lieferte A. Ortelius 1579. Einige Regional- und Länderkarten des 16. Jhs. wurden von Renaissancegelehrten im Rahmen ihrer Bemühungen geschaffen, die Geschichte einzelner Länder nach den Quellen darzustellen und dafür den Schauplatz des Geschehens auf damals moderne Weise in einer Karte zu veranschaulichen.
Während im 17. Jh. an bedeutenderen Geschichtsatlanten nur zwei niederländische und ein französischer nachweisbar sind, entstanden im 18. Jh. in allen europäischen Staaten, in denen moderne Karten und Atlanten hergestellt und verlegt wurden, auch Geschichtskarten und -atlanten. Öfter wurden dabei jetzt auch Themen des Mittelalters in die Darstellung mit einbezogen. Für die frühe Neuzeit bestand aus zeitgenössischer Sicht bis Mitte des 18. Jhs. noch kein Bedarf an historisch ausgerichteter Darstellung; hier genügten zur Information die mindestens im Antiquariatshandel noch ausreichend angebotenen Karten des 16. und 17. Jhs. In Frankreich hob J.B.B. de Anville das Niveau der Geschichtskarten, indem er seine meist großformatigen Karten auf wesentlich verbesserten Basiskarten streng quellenkritisch bearbeitete. In Deutschland leistete J.M. Haase (1684-1742) Gleiches und gestaltete über die Antike hinaus Karten zur Völkerwanderung, dem abendländischen und orientalischen Mittelalter sowie zur frühen Neuzeit.
Im 19. Jh. wurden die jetzt in größerer Anzahl erscheinenden Geschichtsatlanten folgerichtig um einen Abschnitt zur Neuesten Geschichte und dann im 20. Jh. zur Zeitgeschichte erweitert; Ausführung und Umfang profilierten sich im Sinne der Zweckbestimmung. Bedeutung erlangte im Zusammenhang mit dem allgemein wachsenden Interesse an Reisebeschreibungen die Darstellung von See- und Landreisen auf Weltkarten und Globen. Vereinzelt wurden dazu auch selbstständige Kartenserien bearbeitet. In zunehmender Anzahl entstanden militärhistorische Arbeiten mit Schlachtenplänen und Übersichtskarten zu den großen Kriegen (Kriegskarten). Teilweise wurden dazu eigens topographische Grundlagenkarten geschaffen, so in Sachsen von F.H. von Backenberg (1754-1813) zum Siebenjährigen Krieg.
Der hohe Stellenwert der Geschichte (Historiographie) als Universitäts- und Gymnasialfach führte noch in der Spätaufklärung zu ersten Geschichtsschulatlanten (im Titel oft als "Historischer ..." ausgewiesen), denen im 19. Jh. zahlreiche kleinere und größere in sehr unterschiedlicher Qualität folgten. Qualitativ herausragende Geschichtskarten schuf auf detaillierter topographischer Grundlage H. Kiepert insbesondere für die griechische Antike, darunter auch erste Geschichtswandkarten, denen dann der "Historische Wandatlas" von K. von Spruner und C.A. Bretschneider zur Geschichte Europas bei J. Perthes (ab 1856) folgte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzten teilweise Dia- und Folienatlanten die gedruckte Wandkarte.
3. Strukturerweiterung im 20. Jh.
Bei der Neubearbeitung der Geschichtskarten zur politischen Geschichte der europäischen Staaten und insbesondere des Deutschen Reichs für die neuen großen "Historischen Handatlanten" von K. von Spruner (ab 1837), ab 1865 fortgesetzt von T. Menke (1819-1892); ebenso wie von G. Droysen verlangten die dabei benutzten relativ großen Maßstäbe eine topographisch gesicherte Darstellung der Grenzen, die auch für die regionale Geschichtsforschung eine geeignete Kartengrundlage abgab. Abhilfe brachte die von F.W.K. v. Thudichum (1831-1913) angeregte Historisch-Statistische Grundkarte des Deutschen Reiches 1 : 100 000 (historische Grundkarte), die auf der Basis des Gewässernetzes das Siedlungsnetz und erstmals die Grenzen der Gemarkungen vollständig verzeichnet. Es wuchs die Erkenntnis, dass ältere Zustände der Länder nur auf der Grundlage topographisch exakter administrativer Grenzen rückschreitend nach den Quellen erarbeitet werden können. Umfangreiche Untersuchungen zur kartographischen Erfassung von Ämter- und Gerichtsbezirksgrenzen unter Einbeziehung überlieferter Originalkarten der Landesaufnahmen ergaben für das Ende des 18. Jhs. bleibend verwertbare Grundlagen, so etwa beispielhaft die "Landgerichtskarte der österreichischen Alpenländer" 1 : 200 000. Für ganz Deutschland bearbeitete G. Franz die Verwaltungsgrenzen für 1789 in 1 : 1 Mio. (1952).
Gegen Ende des 19. Jhs. begannen Arbeiten an regionalen Geschichtsatlanten, die nach und nach für die meisten deutschen Länder, oft unter dem Titel Historischer Handatlas erschienen (vgl. G. Franz). Hauptmaßstäbe von 1 : 300 000 bis 1 : 1 Mio. gestatteten erstmals, geschichtliche Verhältnisse auf der Grundlage der Gemeinden zu kartieren. Teilweise verbinden solche komplexen Regionalatlanten Geschichte und Geographie, so der von O. Schlüter (1872-1959) herausgegebene "Mitteldeutsche Heimatatlas" (1. Aufl. 1935 ff., 2. 1959-1961) und der in Arbeit befindliche "Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen". Einzelne geschichtliche Länderatlanten erschienen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jhs., so der "Historische Atlas der Schweiz" (Bern 1900) und der "Historische Atlas der österreichischen Alpenländer" (Wien seit 1906). Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten weitere Geschichtsatlanten für Länder, Staaten und Großräume. Herauszuheben sind der Maßstäbe setzende "Atlas československých dějín" (Prag 1965), der Tübinger Atlas des Vorderen Orients, ein wissenschaftlicher Großraumatlas, der geschichtliche und geographische Themen umfasst. Relativ selten blieben komplexe Geschichtsatlanten kleiner Gebiete, wie der methodisch richtungweisende "Atlas zur Geschichte des Kantons Zürich" von E. Imhof und P. Kläui (Zürich 1951; 40 Kartenblätter mit 79 Karten). Erstmals PC-gestützt mittels desktop mapping schuf G. Pápay den aus Karten, Graphik und Text bestehenden "Atlas von Mecklenburg und Pommern. Das Land im Rückblick". Ein dynamischer Geschichtsatlas "Europa und der Mittlere Osten 1000-1994" von F.E. Reed erschien bei Klett (Stuttgart 1995).
Ein anzustrebendes Ziel ist die Rekonstruktion der Kulturlandschaft in ihrer Komplexität von Gelände, Siedlungen, Verkehrswegen und Bodennutzung in mittleren topographischen Maßstäben (Stams 1997). Als ein frühes Beispiel hierzu kann die "Karte der Wojewodschaft Kraków 1788-92" 1 : 200 000 im "Atlas historyczny Polski" gelten. Die in noch größeren Maßstäben gehaltenen geschichtlichen Städtedarstellungen verlangen als Bearbeitungsgrundlage die Grundstücksgrenzen und Bebauung ausweisenden Stadtgrundkarten (Katasterkarten). Auf ihnen lassen sich Struktur und Ausdehnung der Städte seit ihrer Entstehung im Hochmittelalter in meist 4 bis 6 Zeitschritten sichtbar machen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Erscheinungsjahr werden Geschichtskarten zu historischen Geschichtskarten.
4. Stand und Perspektiven
Theorie und Methode der Geschichtskartographie sind noch nicht voll ausgereift. Die Problematik der Darstellung zeitlicher Veränderungen ist jedoch inzwischen von den grundsätzlichen Möglichkeiten her abgeklärt (vgl. Entwicklungsdarstellung, kartographische Animation).
Der Einsatz von Kartengegenüberstellungen in Zeitschnitten mit dem Nachteil des ständigen Springens bei der Nutzung von einem zum anderen Stand und die Mehrphasendarstellung in einer Karte, die dem Nutzer das Ausblenden einzelner Stufen zur Erfassung der Entwicklung abverlangt, verlangt nach methodischen Gestaltungsversuchen und experimentellen Untersuchungen der Les- und Interpretierbarkeit. Komplexe und mehrschichtige Karten erfordern den sachgerechten Einsatz aller kartographischen Ausdrucksformen und die Anwendung aller geeigneten kartographischen Darstellungsmethoden, insbesondere zur Gestaltung von bevölkerungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Karten.
Im Unterschied zu geographischen und geowissenschaftlichen Werken enthalten auch moderne Geschichtswerke bei oft hervorragender Bebilderung für Sachzeugen nur selten zum Verständnis notwendige Textkarten und/oder Kartenbeilagen; die wenigen vorhandenen weisen oft ein niedriges Niveau auf.
Die Bildschirmdarstellung (Bildschirmkarte) erschließt der Geschichtskartographie mit den Möglichkeiten der Animation eine neue Dimension. Ebenso bietet grundsätzlich die digitale Kartographie einschließlich ihrer multimedialen Methoden und in Verbindung mit interaktiver Arbeitsweise für geschichtliche kartographische Darstellungen neue Aussageebenen. Analog zu digitalen Geoinformationssystemen (GIS) werden gegenwärtig zur Geschichtskartographie an verschiedenen Stellen historische Informationssysteme (HIS) entwickelt, z. B. KOGGE (Kartographie-Orientiertes Graphisches Geschichts-Erdkundesystem) in Rostock seit 1994. Es erlaubt interaktive Navigation in Echtzeit in einem dreidimensionalen virtuellen historischen Raum. Das in der Zusammenarbeit von Historikern und Informatikern entwickelte System HIST, fußt auf einem temporalen objektorientierten Datenmodell und zeichnet sich durch seine graphische Benutzerführung aus.
WSS
Literatur: [1] EBELING, D., Hrsg. (1999): Historisch-thematische Kartographie. Konzepte-Methoden-Anwendungen, Bielefeld. [2] PÁPAY, G. (1998): Die Zeitproblematik aus der Sicht raumbezogener historischer Informationssysteme und der Geschichtskartografie. In: Kartogr. Nachr. Jg. 48, 177-86. [3] STAMS, W. (1973): Die Möglichkeiten der Kartographie zur Darstellung von räumlichen und zeitlichen Veränderungen. In: Wiss. Zeitschr. TU Dresden Jg. 22, 153-63. [4] STAMS, W. (1997): Aufgaben und Perspektiven der Geschichtskartographie in der sächsischen Landesgeschichtsforschung. In: Landesgeschichte als Herausforderung und Programm; Sächs. Ak. d. Wiss. zu Leipzig; Stuttgart. [5] WOLF, A. (1972): Das Bild der europäischen Geschichte in Geschichtsatlanten. Braunschweig.
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