Lexikon der Kartographie und Geomatik: graphische Semiologie
graphische Semiologie, E graphical semiology, eigenständiger wissenschaftlicher Theorieansatz und allgemeine Graphiklehre des französischen Kartographen, Wirtschaftswissenschaftlers und Statistikers J. Bertin. Sie basiert auf erkenntnistheoretischen und sprachwissenschaftlichen Ansätzen des französischen Strukturalismus.
Die graphische Semiologie wurde an dem 1954 gegründeten kartographischen Labor der "École Pratique des Hautes Études" in Paris entwickelt und führte zur Etablierung des ursprünglich auf kartographische Dienstleistungen ausgerichteten Labors als Forschungslabor der "École des Hautes Études en Sciences Sociales" (EHESS) in Paris, einer der "grandes écoles" in Frankreich. Der aktuelle Stellenwert der graphischen Semiologie für die Kartographie, aber auch für andere graphische Disziplinen, wie die wissenschaftliche Visualisierung, wird durch zahlreiche internationale Zitate sowie durch die 1998 erschienene dritte Auflage des gleichnamigen Lehrbuchs dokumentiert.
Als Hauptformen des graphischen Ausdrucks unterscheidet Bertin zwischen Diagrammen, Netzen und Karten. Diese Einbeziehung kartographischer Zeichen in ein übergeordnetes graphisches System führte erstmals zu einem weltweit akzeptierten Graphikansatz in der Kartographie.
Der Theorieansatz der graphischen Semiologie geht davon aus, dass in Karten nur Gleichheiten, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Zeichen eindeutig wahrgenommen werden können und dass diese Zeichenbeziehungen aufgrund von entsprechenden Denkkategorien des Menschen verständlich sind und damit auch den logischen Kategorien der Unterscheidung von Zeichenbedeutungen entsprechen. Die generelle Gültigkeit dieses Theorieansatzes ist bislang allerdings noch nicht empirisch nachgewiesen worden.
Realisiert wird der Theorieansatz u. a. durch die graphischen Variablen als graphische Mittel zur Variation eines gestaltlosen Fleckens und zur Einordnung des Fleckens nach den beiden Richtungen der Zeichenebene. Ein Flecken kann danach graphisch in der Größe, der Form, der Helligkeit (Tonwert), dem Muster (Struktur der Flächenfüllung), der Richtung und der Farbe variiert werden. Beide Richtungen der Zeichenebene können im graphischen System für Sach-, Wert-, Zeit- und auch für raumbezogene Abbildungen eingesetzt werden.
Auf der Grundlage der jeweiligen Gliederungsstufe bzw. des jeweiligen statistischen Skalierungsniveaus von abzubildenden Daten werden dabei Variablentypen unterschieden. Sie gliedern die graphischen Variablen zur Variation kartographischer Zeichen erstens in Variablen zur Repräsentation von nominalskalierten Objektbeziehungen, zweitens in Variablen zur Repräsentation von ordinalskalierten Objektbeziehungen und drittens in Variablen zur Repräsentation von ratio- und intervallskalierten Objektbeziehungen (Zeichenreferenzierung).
Die hier implizierte Differenzierung der Gliederungsstufen für Daten sowie der graphischen Variablen selbst hat sich mit der Einführung der DV-Technologie und den damit verbundenen Erfordernissen der Datenstrukturierung etabliert.
Die graphische Semiologie stellt hiermit in der Kartographie den ersten umfassenden Regelansatz zur logischen Zuordnung von einheitlich strukturierten Zeichen zu einheitlich strukturierten Daten dar. Der formale Aufbau des strukturalistischen Regelansatzes der graphischen Semiologie berücksichtigt allerdings noch keine Ausrichtung von Karten auf spezifische Funktionen und spezielle Nutzer von Karten und vernachlässigt die mit dem einzelnen Zeichen erzeugbare Übereinstimmung mit der unmittelbaren Zeichenbedeutung, beispielsweise durch Assoziationen.
PTZ
Literatur: [1] BERTIN, J. (1974): Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten. Berlin, New York. [2] BERTIN, J. (1998): Sémiologie graphique. Les diagrammes, les réseaux, les cartes. 3. Aufl., Paris. [3] SAUSSURE, DE F. (1967): Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft. – Berlin. [4] SPIESS, E. (1970): Eigenschaften von Kombinationen graphischer Variablen. – In: Grundsatzfragen der Kartographie, Wien, S. 280-293.
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