Lexikon der Kartographie und Geomatik: Nationalatlas
Nationalatlas, Landesatlas, E national atlas, ein komplexer thematischer Atlas, der einen Staat nach seinen natürlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen und Sachverhalten in einer Folge von Karten, meist Übersichtskarten, darstellt. Tendenziell sind diese Atlanten auf eine größtmögliche Vollständigkeit ausgerichtet. Die Fülle der Fakten, von der Geologie bis zum Tourismus, wird oft nach dem "länderkundlichen Schema" geordnet. Den Übersichten zu Naturkomponenten folgen hiernach Darstellungen zu Bevölkerung, Siedlung, Wirtschaft, Handel und Kultur. Das länderkundliche Schema bedeutet nicht schon automatisch Schematismus. Ein Vorteil liegt darin, die Manipulierbarkeit durch bewusste oder unbewusste Fakten- und Problemauswahl zu reduzieren.
Nationalatlanten haben einen Doppelcharakter. Zum einen sind sie Forschungsergebnis und Grundlage für weitere Forschungen; sie repräsentieren den Entwicklungsstand auf den Gebieten der Geographie, der Geowissenschaften, der Kartographie und der Informationstechnologie. Zum anderen sind Nationalatlanten Informations- und Nachschlagewerke, die in Wissenschaft und Lehre, für raumplanerische Zwecke, aber auch in der Öffentlichkeit über einen längeren Zeitraum als verlässliche Quelle genutzt werden. Nationalatlanten sind von hohem Wert, indem sie Prozesse und Probleme visualisieren, die in Raum und Geschichte eines Landes ihre tieferen Wurzeln haben.
Die Bearbeitung wird zumeist von raum- und geowissenschaftlichen sowie behördlichen Einrichtungen eines Landes durchgeführt und erstreckt sich häufig über einen Zeitraum von mehreren Jahren bis zu einem Jahrzehnt. Die Herausgabe obliegt zentralen wissenschaftlichen Institutionen oder Gesellschaften.
Die Geschichte der Nationalatlanten beginnt früh im 19. Jh. mit dem "Administrativ-statistischen Atlas vom Preußischen Staate" (1828), dann folgte der "Atlas von Sachsen" (1860, weiterhin etwa zeitgleich "Physikalisch-statistischer Atlas von Deutschland" (1878)und "Physikalisch-statistischer Handatlas von Österreich-Ungarn" (1882-87). Neue Maßstäbe setzte der 1899 veröffentlichte "Atlas de Finlande/Atlas öfver Finland"; 1906 erschien der "Atlas of Canada". Diese Atlanten wie auch die folgenden fünf bis zum Zweiten Weltkrieg publizierten dienten vornehmlich der Repräsentation nach außen bzw. zur politischen Selbstdarstellung.
Die nach 1945 erschienen Nationalatlanten orientieren sich mehr und mehr an der Nutzbarkeit des Dargestellten. Durch eine möglichst vollständige Darstellung der komplexen Raumstruktur betonen sie ihre Planungs- und Entscheidungsfunktion. Die 1956 innerhalb der Internationalen Geographischen Union (IGU) gegründete, später in die Internationale Kartographische Vereinigung integrierte Kommission für Nationalatlanten, erarbeitete Empfehlungen, die sich im Bereich der thematischen Gliederung an die länderkundliche Betrachtungsweise anlehnen. Stärker enzyklopädische Sammlungen mit Themen zu Natur, Bevölkerung, Wirtschaft, Kultur und Politik sind: "Atlas of Hungary" (1967), "Atlas Nacional do Brasil" (1966, 1972), "Atlas Nacional de España" (1965-1969).
Neuere Nationalatlanten orientieren sich stärker am Zustand der Gesellschaft und der Umwelt, an Lebensverhältnissen der Bevölkerung, an deren Problemen und Problemlösungen und verzichten bewusst auf Vollständigkeit des Themenspektrums. Zunehmend enthalten die neueren Atlanten mehr synthetische als analytische Karten. Mit Blick auf eine Erweiterung des Nutzerkreises sind bei einigen jüngeren Atlanten die Karten oft einfacher gestaltet, mit Photos, Diagrammen, Graphiken, Luft- und Satellitenbildern und nicht zuletzt mit umfassenden Textdarstellungen ausgestattet. In den letzten Jahren ergänzen elektronische Atlanten auf Diskette, CD-ROM und z. T. im Internet die Papieratlanten und unterstützen diese in ihrer Nachschlage- und Analysefunktion. Beispiele dafür sind der "PC-National Atlas of Sweden" (seit 1990) und der elektronische "Atlas of Canada" (seit 1994 übers Internet zugänglich) und der "Atlas der Schweiz", interaktiv auf CD-ROM seit 1999. Der gleichzeitige Aufbau von Atlasinformationssystemen eröffnet zudem neue Möglichkeiten einer multifunktionalen Nutzung der raumbezogenen Daten.
Die in Nationalatlanten verwendeten Maßstäbe und Kartenformate ergeben sich aus der Größe des Darstellungsgebietes, hängen aber auch ab von der Atlaspräsentationsform. So werden Nationalatlanten als großer, gebundener Atlas (z. B. "Atlas Nacional de España" 1994), als mehrbändiger Atlas (z. B. "National Atlas of Sweden", seit 1990 mit 16 Bänden) oder als Loseblattatlas (z. B. "Atlante Tematico d'Italia" 1989-1992) herausgegeben. Auf die früher üblichen Großformate wird zumeist zugunsten handlicherer Formate verzichtet. Aber nach wie vor erscheinen großformatige Papieratlanten mit hohem wissenschaftlichen Anspruch, z. B. "Atlas of the Republic of Poland / Atlas Rzeczpospolitej Polski", seit 1993, "National Atlas of Japan" 1990, 2. Auflage.
Deutschland verfügt derzeit über keinen abgeschlossenen Nationalatlas. Ein Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland ist in Bearbeitung und wird seit 1999 in Atlasbänden als Papieratlas und als elektronische Ausgabe auf CD-ROM herausgegeben ( Abb.). Als dessen Vorläufer gelten: Die Bundesrepublik Deutschland in Karten (1965-1970), der Atlas zur Raumentwicklung (1976-1987) und der Atlas Deutsche Demokratische Republik (1976-1981).
WDK, CLT
Literatur: [1] ORMELING, F. (1994): Neue Formen, Konzepte und Strukturen von Nationalatlanten. In: Kartographische Nachrichten, Jg. 44, H. 6, S. 219-226. [2] STAMS, W. (1980): National and Regional Atlases, a bibliographic survey. ICA/ACI, Enschede. [3] WITSCHEL, C. (1998): Nationalatlanten. Entwicklung, Konzeption, Gestaltung, Funktion. Köln.
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