Lexikon der Mathematik: Carathéodory-Koebe-Theorie
R. Brück
Die Carathéodory-Koebe-Theorie ist die Theorie der sog. Dehnungsabbildungen, die zu einem konstruktiven Beweis des Riemannschen Abbildungssatzes führt.
Es sei \(G\subset {\mathbb{E}}=\{z\in {\rm{{\mathbb{C}}}}:|z|\quad\lt 1\}\) ein Gebiet mit 0 ∈ G. Eine schlichte Funktion \(\kappa :G\to {\mathbb{E}}\) heißt Dehnung von G, falls κ(0) = 0 und |κ(z)| > |z| für alle z ∈ G \ {0}. Es gilt dann |κ′(0)| > 1 und r(κ(G)) ≥ r(G), wobei r(G) der innere Radius des GebietesG bezüglich 0 ist. Im allgemeinen gilt aber nicht κ(G) ⊃ G.
Eine wichtige Eigenschaft von Dehnungen ist die folgende: Sind \(\kappa :G\to {\mathbb{E}}\) und \(\hat{\kappa }:\hat{G}\to {\mathbb{E}}\) Dehnungen mit \(\hat{G}\supset \kappa (G)\), so ist auch die Komposition \(\hat{\kappa }\circ \kappa :G\to {\mathbb{E}}\) eine Dehnung.
Ein einfach zusammenhängendes Gebiet \(G\subset {\mathbb{E}}\) mit 0 ∈ G und \(G\ne {\mathbb{E}}\) heißt Koebe-Gebiet. Für solche Gebiete gilt offensichtlich 0 < r(G) < 1.
Eine Dehnung \(\kappa :G\to {\mathbb{E}}\) eines Koebe-Gebietes G heißt zulässig, falls κ(G) wieder ein Koebe-Gebiet ist. Es folgt, daß jede Dehnung κ mit \(\kappa (G)\ne {\mathbb{E}}\) zulässig ist. Zulässige Dehnungen erhält man z. B. mit dem
Quadratwurzel-Verfahren. Es sei G ein Koebe-Gebiet, \(c\in {\mathbb{E}}\), \({c}^{2}\notin G\) und \({g}_{c}:{\mathbb{E}}\to {\mathbb{E}}\)definiert durch
\begin{eqnarray}{g}_{c}(z):=\frac{z-c}{\bar{c}z-1}.\end{eqnarray}
Weiter sei \(v\in {\mathscr{O}}(G)\) die Quadratwurzel von gc2 |Gmitv(0) = c, d. h. es gilt v2(z) = gc2(z) für z ∈ G. Schließlich sei \(\vartheta :{\mathbb{E}}\to {\mathbb{E}}\)eine Drehung von \({\mathbb{E}}\)um 0. Dann ist κ ≔ ϑ ∘ gc ∘ ϑ eine zulässige Dehnung von G, und es gilt
\begin{eqnarray}|{k}^{^{\prime} }(0)|=\frac{1+|c{|}^{2}}{2|c|}.\end{eqnarray}
Weiter ist r(G) < r(κ (G)), und \({\mathbb{E}}\) \ κ(G) enthält innere Punkte in \({\mathbb{E}}\).
Als Beispiel wird die Mondsichel-Dehnung betrachtet. Für 0 < t< 1 ist das Schlitzgebiet \({G}_{t}:={\mathbb{E}}\backslash [{t}^{2},1)\) ein Koebe-Gebiet. Betrachtet man die zulässige Dehnung κ : = gt ∘ v von Gt, so ist das Bildgebiet κ(Gt) gegeben durch die „Mondsichel“ \({\mathbb{E}}\) \ K, wobei K die abgeschlossene Kreisscheibe um den Mittelpunkt ϱ ≔ (1 + t2)/2t mit t ∈ ∂K ist. Insbesondere gilt κ(Gt) ⊅ Gt.
Es sei jedem Koebe-Gebiet G eine nichtleere Menge \({\mathscr{D}}(G)\) von zulässigen Dehnungen von G zugeordnet. Dann heißt die Vereinigungsmenge
\begin{eqnarray}{\mathscr{D}}:=\displaystyle \cup {\mathscr{D}}(G),\end{eqnarray}
wobei G alle Koebe-Gebiete durchläuft, eine Dehnungsfamilie. Mit Hilfe solcher Familien kann man jedem Koebe-Gebiet G auf mannigfache Weise sog. Dehnungsfolgen zuordnen. Man setzt G0 ≔ G und wählt \({\kappa }_{0}\in {\mathscr{D}}({G}_{0})\). Dann ist G1 ≔ k0(G0) ein Koebe-Gebiet, und man kann daher ein \({\kappa }_{1}\in {\mathscr{D}}({G}_{1})\) wählen. So fortfahrend erhält man induktiv eine Folge von Koebe-Gebieten Gn und Dehnungen \({\kappa }_{n}\in {\mathscr{D}}({G}_{n})\) mit κn(Gn) = Gn+1 für n ∈ ℕ0. Dann ist die Komposition\begin{eqnarray}{h}_{n}:={k}_{n}\circ {k}_{n-1}\circ \cdots \circ {k}_{0}:G\to {\mathbb{E}}\end{eqnarray}
Jede Dehnungsfolge \({h}_{n}:G\to {\mathbb{E}}\) hat die folgenden Eigenschaften:
\begin{eqnarray}{h}_{n}^{^{\prime} }(0)=\displaystyle \prod _{v=0}^{n}{k}_{v}^{^{\prime} }(0),\end{eqnarray}
\begin{eqnarray}|{h}_{n+1}(z)|\gt |{h}_{n}(z)|\gt \cdots \gt |{h}_{0}(z)|\gt |z|,\quad\quad z\in G\backslash \{0\},\end{eqnarray}
\begin{eqnarray}r({h}_{n}(G))\le r({h}_{n+1}(G)),\quad\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{n\to \infty }r({h}_{n}(G))\le 1,\quad\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{n\to \infty }|{k}_{n}^{^{\prime} }(0)|=1.\end{eqnarray}
Eine Dehnungsfolge \({h}_{n}:G\to {\mathbb{E}}\) heißt Anschmiegungsfolge, falls h′n(0) > 0 für alle n ∈ ℕ0 und \(\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{n\to \infty }r({h}_{n}(G))=1\) gilt. Ziel ist, solche Anschmie-gungsfolgen zu finden, denn es gilt folgender Konvergenzsatz.
- Es sei \({h}_{n}:G\to {\mathbb{E}}\)eine Dehnungsfolge, die in G kompakt gegen eine Funktion h konvergiert. Dann ist \(h:G\to {\mathbb{E}}\)eine Dehnung, und es gilt
\begin{eqnarray}r(h(G))\ge \mathop{\mathrm{lim}}\limits_{n\to \infty }r({h}_{n}(G)).\end{eqnarray}
Eine Möglichkeit zur Konstruktion von Anschmiegungsfolgen sind sog. Koebe-Familien. Dazu sei τ: (0, 1) → ℝ eine stetige Funktion mit τ(x) > 1 für alle x ∈ (0, 1).
Eine Dehnungsfamilie \({\mathscr{K}}\) heißt Koebe-Familie zu τ, falls κ′(0) = τ(r(G)) für alle Dehnungen \(\kappa \in {\mathscr{K}}\). Ist
\begin{eqnarray}{h}_{n}:={k}_{n}\circ {k}_{n-1}\circ \cdots \circ {k}_{0}:G\to {\mathbb{E}},\quad n\in {{\rm{{\mathbb{N}}}}}_{0}\end{eqnarray}
\begin{eqnarray}{k}_{n+1}^{^{\prime} }(0)=\tau (r({h}_{n}(G)))\end{eqnarray}
für n ∈ ℕ0. Das sog. Anschmiegungslemma besagt, daß jede Koebe-Folge eine Anschmiegungsfolge ist.Für den Nachweis der Existenz von Koebe-Familien konstruiert man für jedes Koebe-Gebiet G mit dem oben beschriebenen Quadratwurzel-Verfahren alle Dehnungen \(\kappa :G\to {\mathbb{E}}\) mit κ′(0) > 0, wobei \(c\in {\mathbb{E}}\) so gewählt wird, daß c2 ein dem Nullpunkt nächstgelegener Randpunkt von G ist. Man läßt dann G alle Koebe-Gebiete durchlaufen und bezeichnet die Menge aller so gewonnenen Dehnungen mit \({{\mathscr{K}}}_{2}\). Setzt man für x ∈ (0, 1)
\begin{eqnarray}{\tau }_{2}(x):=\frac{1}{2}\frac{x-{x}^{-1}}{{x}^{1/2}-{x}^{-1/2}}=\frac{1+x}{2\sqrt{x}},\end{eqnarray}
Hauptsatz von Koebe. Zu jedem Koebe-Gebiet G existieren Koebe-Gebiete Gn mit G0 = G und Dehnungen \({\kappa }_{n}:{G}_{n}\to {\mathbb{E}}\)mit κn(Gn) = Gn + 1derart, daß die Folge
\begin{eqnarray}{h}_{n}:={k}_{n}\circ {k}_{n-1}\circ \cdots \circ {k}_{0}:G\to {\mathbb{E}}\end{eqnarray}
in G kompakt gegen eine konforme Abbildung h von G auf \({\mathbb{E}}\)konvergiert. Jede Dehnung κn ist explizit mit dem Quadratwurzel-Verfahren konstruierbar, und es gilt \({\kappa }_{n}\in {{\mathscr{K}}}_{2}\).Ist rn := r(hn(G)) der innere Radius des Gebietes hn(G), so gilt für die Konvergenzgeschwindigkeit
\begin{eqnarray}{r}_{n}\gt 1-\frac{M}{n},\end{eqnarray}
wobei M > 0 eine nur von r(G) abhängige Konstante ist.Neben \({{\mathscr{K}}}_{2}\) gibt es noch weitere Koebe-Familien, nämlich \({{\mathscr{K}}}_{m}\) für m ∈ ℕ, m ≥ 2 und \({{\mathscr{K}}}_{\infty }\). Dazu betrachtet man die Funktionen
\begin{eqnarray}{\tau }_{m}(x):=\frac{1}{m}\frac{x-{1}^{-x}}{{x}^{1/m}-{x}^{-1/m}}\end{eqnarray}
\begin{eqnarray}{\tau }_{\infty }(x):=\frac{x-{x}^{-1}}{2\quad\mathrm{log}x}.\end{eqnarray}
Diese sind stetig auf (0, 1) und bilden (0, 1) in (1, ∞) ab. Ähnlich wie bei \({{\mathscr{K}}}_{2}\) kann man dann mit dem m-te Wurzel-Verfahren und dem Logarithmus-Verfahren Koebe-Familien \({{\mathscr{K}}}_{m}\) und \({{\mathscr{K}}}_{\infty }\) zu τm und τ∞ konstruieren:
m-te Wurzel-Verfahren. Es sei G ein Koebe-Gebiet und \(c\in {\mathbb{E}}\)so gewählt, daß cm ein dem Nullpunkt nächstgelegener Randpunkt von G ist. Weiter sei \(v\in {\mathscr{O}}(G)\)die m-te Wurzel von gcm |G mitv(0) = c, d. h. es gilt vm (z) = gcm (z) für z ∈ G. Schließlich sei \(\vartheta :{\mathbb{E}}\to {\mathbb{E}}\)eine geeignete Drehung von \({\mathbb{E}}\)um 0.
Dann ist
\begin{eqnarray}k:=\vartheta \circ {g}_{c}\circ \upsilon :G\to {\mathbb{E}}\end{eqnarray}
eine zulässige Dehnung von G, und es gilt\begin{eqnarray}{k}^{^{\prime} }(0)={\tau }_{m}(r(G)).\end{eqnarray}
Logarithmus-Verfahren. Es sei G ein Koebe-Gebiet und \(c\in {\mathbb{E}}\)ein dem Nullpunkt nächstgelegener Randpunkt von G. Weiter sei \(iv\in {\mathscr{O}}(G)\)ein Logarithmus von gc|G, d. h. es gilteiv(z) = gc(z) für z ∈ G, und für b = v(0) ∈ ℍ = {z ∈ ℂ : Im z > 0} sei die Abbildung \({q}_{b}:{\rm{{\mathbb{H}}}}\to {\mathbb{E}}\)definiert durch
\begin{eqnarray}{q}_{b}(z):=\frac{z-b}{z-\bar{b}}.\end{eqnarray}
Schließlich sei \(\vartheta :{\mathbb{E}}\to {\mathbb{E}}\)eine geeignete Drehung von \({\mathbb{E}}\)um 0.
Dann ist \(\kappa :=\vartheta \circ {q}_{b}\circ v:G\to {\mathbb{E}}\)eine zulässige Dehnung von G, und es gilt κ′(0) = τ∞(r(G)).
Die Familie \({{\mathscr{K}}}_{\infty }\) kann als Grenzwert der Familien \({{\mathscr{K}}}_{m}\) für m → ∞ aufgefaßt werden. Für x ∈ (0, 1) gilt nämlich \(\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{m\to \infty }{\tau }_{m}(x)={\tau }_{\infty }(x)\).
Der Carathéodory-Koebe-Algorithmus kann wie folgt zu einem Beweis des Riemannschen Abbildungssatzes benutzt werden. Dazu sei G ⊂ ℂ ein einfach zusammenhängendes Gebiet mit G ≠ ℂ und z0 ∈ G. Wählt man a ∈ ℂ \ G, so gibt es ein \(v\in {\mathscr{O}}(G)\) mit v2(z) = z − a für z ∈ G. Die Abbildung v: G → ℂ ist injektiv, und man zeigt leicht, daß eine abgeschlossene Kreisscheibe B mit Mittelpunkt c ∈ ℂ und Radius r > 0 derart existiert, daß v(G) ⊂ ℂ \ B. Die Möbius-Transformation
\begin{eqnarray}T(z):=\frac{r}{2}(\frac{1}{z-c}-\frac{1}{v({z}_{0})-c})\end{eqnarray}
bildet ℂ \B injektiv in \({\mathbb{E}}\) ab. Setzt man g ≔ T ∘ v, so ist g eine konforme Abbildung von G auf das Koebe-Gebiet g(G). Mit Hilfe des Carathéodory-Koebe-Algorithmus erhält man eine konforme Abbildung h von g(G) auf \({\mathbb{E}}\). Wählt man schließlich noch eine geeignete Drehung \(\vartheta :{\mathbb{E}}\to {\mathbb{E}}\) von \({\mathbb{E}}\) um 0, so ist f ≔ ϑ ∘ h ∘ g eine konforme Abbildung von G auf \({\mathbb{E}}\) mit f(z0) = 0 und f′(z0) > 0.Literatur
[1] Remmert, R.: Funktionentheorie 2. Springer-Verlag Berlin, 1991.
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