Lexikon der Mathematik: Differentialgeometrie
Die Differentialgeometrie ist derjenige Bereich der Mathematik, der sich mit geometrischen Eigenschaften von differenzierbaren Mannigfaltigkeiten befaßt, die mit zusätzlichen geometrischen Objekten, wie z. B. Riemannschen Metriken, Hermite-schen, symplektischen oder komplexen Strukturen versehen sind
Die Differentialgeometrie ist aus der Untersuchung der differentiellen Invarianten von Kurven und Flächen des Euklidischen Raumes entstanden. Kurven und Flächen werden über Parameter-darstellungen durch differenzierbare Funktionen beschrieben, aus deren Ableitungen man die Invarianten gewinnt. Diese lassen sich zum großen Teil anschaulich als Krümmungsgrößen interpretieren.
Die Grundlagen der Flächentheorie wurden von Euler, Lagrange, Meusiner and Monge zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts gelegt.
Eine große Vielfalt interessanter Flächen und Flächenklassen entdeckten und untersuchten bedeutende Geometer des neunzehnten Jahrhunderts. Wir nennen nur die Namen Dupin, Minding, Bonnet, Beltrami, Dini, Bianchi, Bäcklund, Lie, Enneper, Darboux and Schwarz. Zu Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts war die Differentialgeometrie mit ihren vornehmlich lokalen Methoden eines der bestentwickelten Werkzeuge der mathematischen Forschung.
Problemstellungen und Begriffsbildungen der Differentialgeometrie waren vor allem durch Anwendungen in Geodäsie, Technik, Mechanik, Architektur und geometrischer Optik motiviert und zeichneten sich gegenüber anderen mathematischen Disziplinen durch größere geometrische Anschaulichkeit aus.
Die bloße Betrachtung geometrischer Gebilde, die der Anschauung zugänglich sind, erwies sich aus vielen Gründen als unzulänglich. Die Anschauung versagt, wenn man gekrümmte k-dimensionale Flächen im n-dimensionalen Raum untersuchen muß, wie es z. B. die Mechanik erzwingt: Bereits die Lage eines starren Körpers erfordert für ihre Beschreibung 6, die von n Massepunkten sogar 3n Koordinaten. Jeder Zustand des Körpers oder des Punktsystems ist ein Punkt im 6- bzw. 2n-dimensionalen Raum. Zusätzliche Bedingungen, die die Bewegung des Körpers oder der Punkte einschränken, führen auf Gleichungen, denen die Koordinaten genügen müssen. Diese Gleichungen beschreiben Untermannigfaltigkeiten des ℝ6 bzw. ℝ2n.
Das Zulassen beliebiger Dimensionen ist noch nicht ausreichend. Viele mit axiomatischen Methoden oder auf mengentheoretischer Grundlage definierte Räume, deren Betrachtung mathematische Fragestellungen erfordert, sind nicht von vornherein in einen Euklidischen Raum eingebettet. Als Beispiele seien die in der Lobatschewskischen Geometrie betrachtete hyperbolische Ebene und der Raum aller Geraden des ℝ3 genannt, der in der differentiellen Geradengeometrie zur Untersuchung von 2-parametrigen Geradenscharen benötigt wird. (Differentielle Geradengeometrie).
Eine differenzierbare Mannigfaltigkeit ist eine Menge M, die mit lokalen Koordinatensystemen überdeckt ist. Lokale Koordinatensysteme (oder Karten) sind bijektive Abbildungen φ : U → V zwischen Teilmengen U ⊂ M und offenen Mengen V ⊂ ℝn. Die Zahl n ist für alle Karten dieselbe und wird die Dimension von M genannt.
Ist x ∈ U und φ(x) = (x1, …, xn), so heißen die Zahlen x1, …, xn die Koordinaten von x. Sind y1, …, yn die Koordinaten von x in einer anderen Karte, so wird verlangt, daß y1, …, yn differenzier-bare Funktionen von x1, …, xn sind.
Der Begriff der differenzierbaren Mannigfaltigkeit macht es möglich, Strukturen und Begriffe der Differentialgeometrie der Kurven und Flächen auf abstrakteMengenzuverallgemeinern.Besonderswichtig sind die Begriffe der differenzierbaren Abbildung f : N → M zweier Mannigfaltigeiten, des Tangentialvektors und der linearen tangierenden Abbildung f∗. Die Differenzierbarkeit wird über parametrische Darstellungen von f in lokalen Koordinaten definiert. Ein Tangentialvektor t in einem Punkt x ∈ M ist eine Äquivalenzklasse von differenzierbaren Kurven α(t) durch x, die einen Kontakt erster Ordnung haben. Das bedeutet, daß die Elemente α der Äquivalenzklasse 𝔱 differenzierbare Abbildungen eines Intervalls \({\mathscr{I}}\subset {\rm{{\mathbb{R}}}}\) mit \(0\in {\rm{{\mathbb{R}}}}\) und α(0) = x sind, für die die Ableitungen der Kartendarstellungen d(φ(α(t))/dt im Punkt t = 0 denselben Wert annehmen. Schließlich ergibt sich die lineare tangierende Abbildung aus f∗(𝔱) als Äquivalenzklasse von ∘α im Punkt f(x).
Zwar ist es möglich, jede differenzierbare Mannigfaltigkeit in einen Euklidischen Raum einzubetten, wie H. Whitney bewiesen hat, jedoch wäre es für viele in der Differentialgeometrie benötigte Opera-tionen eine sehr starke Einschränkung, wenn man nur k-dimensionale Mannigfaltigkeiten zuließe, die in irgendeinen hochdimensionalen Raum ℝn eingebettet sind.
Die revolutionierende Entdeckung von C. F. Gauß, daß das Produkt der beiden Hauptkrümmungen einer Fläche nur von der inneren Geometrie der Fläche abhängt (theorema egregium) war bahnbereitend zur expliziten Formulierung des Begriffs der Riemannschen Mannigfaltigkeit durch B. Riemann in seinem Habilitationsvortrag im Jahre 1854.
In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ließ das Interesse an der Flächentheorie nach. In einem berühmten Artikel zeigte Hilbert die Unmöglichkeit einer Einbettung der nichteuklidischen Ebene in den ℝ3 und damit die Aussichtslosigkeit jeder weiteren Suche nach einem euklidischen Modell der nichteuklidischen Geometrie.
Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie leistete einen zusätzlichen Beitrag zum Nachlassen des Interesse an der Flächentheorie.
Auch heute bilden die „unvollständigen“ Flächen der klassische Differentialgeometrie nur einen Gegenpol zu vollständigen Riemannschen Mannigfaltigkeiten und deren globalen Eigenschaften.
Literatur
[1] Bianchi, L.: Vorlesungen über Differentialgeometrie, Dt. Übersetzung von M. Lukat, 2. Aufl.. Teubner-Verlag Leipzig, 1910.
[2] Darboux, G.: Leçons sur la théorie générale des surfaces et les applications géométriques du calcul infinitésimal, 1–4. Gauthier-Villars Paris, 1887–1896.
[3] Gauß, ℂ., F.: Disquisitiones generales circa superficies curvas. Göttingische gelehrte Anzeigen, 1827.
[4] Hilbert, D.; Cohn-Vossen, S.: Anschauliche Geometrie. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg, 1932.
[5] Whitney, H.: Geometric Integration Theory 3. ed. Princeton University Press, 1966.
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